TORCHWOOD

Ein Spiel um Tod und Leben

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Teil 3 - Narrenmatt

Auf dem Weg zu der Lagerhalle war weder John noch Julie nach Reden zumute. Schweigend gingen sie nebeneinander her, jeder hing seinen Gedanken nach. Plötzlich piepte Johns Armbandgerät. Alarmiert sahen die beiden sich an. John drückte einen Knopf und sagte: "Gray. Was ist?"
"Wo bist du gerade?" fragte dieser. "Im Zentrum, nahe des Zocaló", antwortete John mit gerunzelter Stirn, "wie du ja genau weißt."
"Natürlich", sagte Gray. Julie bekam eine Gänsehaut, sie konnte sein Lächeln bei diesen Worten regelrecht hören. Schaudernd verschränkte sie die Arme vor der Brust. War er in der Nähe, beobachtete er sie möglicherweise? Vorsichtig suchte sie mit ihrer Empathie nach ihm, doch sie spürte nichts. Aber darauf konnte sie nicht vertrauen. Grays Ausstrahlungen waren im "Normalzustand" so schwach, dass sie in dieser Menge von Passanten auf dieser belebten Straße einfach untergehen würden.
Sie legte John die Hand auf den Arm. Als er sie anschaute, sagte sie laut: „Wer ist das, Süßer? Du hast mir versprochen, dass du den ganzen Tag nur mir gehörst! Keine andere Verabredungen, denk dran." Sie sprach  in einem genervt klingenden, quengelnden Tonfall. John guckte einen Moment irritiert, dann wurde ihm klar, dass sie für einen möglichen Zuschauer spielte. Er grinste und meinte dann: „Keine Sorge, mein Zuckerstück, gleich stehe ich dir wieder ganz zur Verfügung."
Da drang Grays Stimme aus dem Gerät: „Daraus wird wohl nichts", sagte er verächtlich. Seine Stimme nahm einen Befehlston an. „Sieh zu, dass du das Flittchen loswirst und komm sofort zu Gate 18!" Er beendete die Verbindung, ohne eine Antwort abzuwarten. John und Julie sahen sich an. Julie zeterte weiter: „Du kannst doch jetzt nicht einfach verschwinden! Wer ist der Kerl überhaupt?!" John legte lächelnd seine Arme um sie und zog sie eng an sich. „Nette Vorstellung", flüsterte er ihr ins Ohr. Laut sagte er: „Ach komm, Schätzchen. Ich bin doch bald wieder da." Sie schob ihn weg und zog einen Schmollmund. „Na gut, aber das kostet dich was." Sie lächelte mit berechnender Miene.
John grinste sie an, umarmte sie wieder und küsste sie intensiv. Dabei murmelte er: „Du folgst mir? Am Gate müssen wir dann einfach sehen, wie es weitergeht. Ach übrigens …", er schob ihr etwas in die Hosentasche. Julie lächelte erfreut. Jetzt verfügte sie wenigstens wieder über ihre Waffe und den Türöffner. Alles andere würde sich ergeben. Ärgerlich zwar, dass ihr Plan so zunichte gemacht worden war, aber das konnte sie nicht davon abhalten, das Ganze jetzt durch zu ziehen.
John riss sie aus ihren Gedanken. Besser gesagt, seine Hände. Die hatten sich auf Wanderschaft begeben. Julie biss ihn leicht in die Lippe. „Hey, bleib’ bei der Sache, ja", flüsterte sie.
John grinste und antwortete ebenso leise: „Bin ich doch." Aber er nahm die Hände weg, trat einen Schritt zurück und warf ihr eine Kusshand zu. „Bis dann, Süße. Ich komme zu dir, sobald ich fertig bin." Dann ging er.
Julie wartete einen Moment, dann folgte sie ihm. Sichtkontakt brauchte sie nicht, sie kannte seine geistige „Signatur" inzwischen gut genug, um dieser folgen zu können. Weil sie immer noch nicht ausschließen konnte, dass Gray sich in der Nähe befand, aktivierte sie ihre Tarnung. Die Personen um sie herum nahmen sie nun nicht mehr bewusst wahr, wichen ihr aber trotzdem aus, während sie die Straße entlangging. Einem aufmerksamen Beobachter wäre vielleicht aufgefallen, dass die Menge sich an einem Punkt teilte wie Wasser vor einem Hindernis. Aber dafür müsste er schon sehr aufmerksam sein.
Bald gelangte sie auf ein Gelände, das verblüffende Ähnlichkeit mit einem Güterbahnhof hatte. Zwischen riesigen, hallenähnlichen Gebäuden wechselten sich schmale Gassen mit breiten Schneisen ab. Sogar etwas, das wie Schienen aussah, gab es hier, allerdings bestand jede Strecke nur aus einem flachen Metallband. Große Lastfahrzeuge bewegten sich langsam darauf entlang.
John verschwand in einem der großen Gebäude. Julie folgte ihm. Hier gab es Deckung genug. Julie gab erleichtert ihre Tarnung auf. Das Einsetzen dieser Fähigkeit zehrte stark an ihren Energiereserven und die würde sie bald genug noch brauchen.

Als Julie das Gebäude betrat, blieb sie erst stehen und sah sich um. Sie stand zwischen riesigen Hochregalen, die sich, soweit sie sehen konnte, erstreckten. Und nach rechts und links ebenso, wie durch die Lücken in den Regalen zu erkennen war. Lautlos schwebten verschiedengestaltige Maschinen zwischen ihnen her, entnahmen dort etwas und legten woanders etwas ab.
Die Regalreihen machten es schwer, sich ungesehen in dem Gebäude zu bewegen. Sie boten nur Deckung zu beiden Seiten, und selbst die wies immer wieder Lücken auf. Jeder, der in einen Gang sah, würde sie entdecken. Möglichkeiten, schnell zu verschwinden, gab es auch so gut wie keine. Und die Tarnfunktion konnte sie nicht einsetzen, das würde ihre Energie zu schnell erschöpfen.
Julie ließ ihre geistigen Fühler ausgreifen. Menschen schienen sich nicht in diesem Gebäude aufzuhalten, nicht einmal in der Umgebung - außer John, dessen Ausstrahlungen klar und deutlich waren. Dann war da plötzlich Gray. Wieder überfiel sein Hass sie unvermittelt. Vorher hatte sie ihn nicht wahrgenommen. Zitternd krümmte sie sich zusammen, tastete mit der linken Hand blind nach etwas, woran sie sich festhalten konnte. Hastig schirmte sie sich ab. Erst danach konnte sie wieder halbwegs klar denken.
Sie richtete sich wieder auf und atmete tief ein. Zu ihrem Glück hatte sie bei ihrem Umhertasten keinen Lärm verursacht, dachte sie erleichtert. Aber hier kam sie nicht weiter. Es musste einen anderen Weg geben, an die beiden Männer heran zu kommen.
Lautlos verließ Julie das Gebäude wieder und suchte sich ihren Weg außen an der Hauswand entlang. In kurzen Abständen senkte sie ihre Abschirmung, um zu prüfen, wo Gray und John sich befanden. Jedes Mal überfiel sie wieder das Zittern und ihr Gehirn stellte fast seine Arbeit ein, aber es musste sein. Doch jedes Mal wurde auch die Wirkung ein wenig schwächer, stellte Julie aufatmend fest.
Als sie ihren genauen Standort festgestellt hatte, suchte sie nach einem Weg in das Gebäude, der sie möglichst schnell in die Nähe der beiden Männer brachte. Bald stieß sie auf eine einfache Tür. Ihr ‚Türöffner’ hatte keine Schwierigkeiten, das Schloss zu öffnen. John und Gray waren weit genug entfernt, sie würden also gar nicht mitbekommen, dass sie geöffnet würde – solange sie keinen Lärm verursachte.
Julie drückte vorsichtig gegen das Türblatt. Die Tür schien nicht oft benutzt zu werden, sie klemmte etwas und quietschte auch ein wenig. Aber nicht so laut, dass John und Gray aufmerksam wurden. Dann aktivierte Julie ihre Tarnung und trat ein, immer ihre Umgebung im Auge behaltend. Die beiden Männer befanden sich in einer Position, die ihnen keinen direkten Blick auf diese Tür erlaubte, aber auch Julie die Sicht versperrte. Sie musste ihre Schilde etwas senken, um eventuelle Reaktionen und auch Positionsänderungen der beiden bemerken zu können. Das gelang ihr inzwischen, ohne dass der Kontakt mit Gray sie komplett außer Gefecht setzte. Es schien, als gewöhne sie sich langsam daran.
Langsam, vorsichtig näherte sie sich dem Standort der Männer. Bald konnte sie sie sehen. Sie hielten sich nahe der Außenwand auf, wo ein Gang und eine Lücke zwischen den Regalen einen kleinen freien Platz bildete. Julie versteckte sich in einem nur teilweise gefüllten Regal, so dass sie ihre Tarnung aufgeben und Gray und John dennoch bequem beobachten konnte.
Gray stand mit dem Rücken zu ihr, John ihm zugewandt, schräg hinter ihm, so dass Julie sie beide sehen konnte. Ideal, so würde Gray sie erst bemerken, wenn es zu spät war.
John schien nervös zu sein, unruhig schweiften seine Blicke immer wieder durch den Raum, als suchten sie nach etwas. Seine Bewegungen wirkten fahrig. Aber sie würde ihm kein Zeichen geben. Er brauchte gar nicht zu wissen, dass sie anwesend war. Wenn nicht absichtlich, was immer noch eine Möglichkeit war, die Julie nicht ausschließen wollte, so konnte seine Reaktion sie doch ungewollt verraten. Sie brauchte seine Hilfe nicht. Das hier würde sie allein durchziehen.
Vorsichtig verließ sie ihr Versteck und aktivierte wieder ihre Tarnung. Trotzdem huschte sie von Deckung zu Deckung. Langsam näherte sie sich Gray, dabei zog sie ihre Waffe.
Dann stand sie direkt hinter ihm, die Waffe auf ihn gerichtet. Doch sie auf einmal konnte sie sich nicht mehr bewegen.
Sie konnte es nicht tun ... er war Jacks Bruder …gab es nicht doch noch eine andere Möglichkeit … nein, dafür war es zu spät … sie musste es tun ... sie tat doch immer, was notwendig war ... und das hier war notwendiger als alles andere ... Aber soviel sie sich auch selbst zuredete, sie war wie gelähmt.
Da drehte Gray sich zu ihr um. Er packte sie an der Kehle und schlug mit der anderen Hand die Waffe fort. "Netter Versuch", sagte er verächtlich lächelnd. "Aber dein kleiner Trick wirkt bei mir nicht." In einer einzigen fließenden Bewegung zog er ein Messer und stieß es ihr mehrmals in die Brust. Julies Blickfeld verengte sich immer mehr, sie sah nur Grays lächelndes Gesicht, bis alles schwarz wurde.

Julie erwachte in völliger Finsternis mit dem Gefühl, lebendig begraben zu sein. Sie konnte kaum atmen. Etwas presste ihre Arme fest an den Körper, auch die Beine konnte sie nicht bewegen. Sie spürte Bewegung, Stimmen waren sehr gedämpft zu hören. Sie versuchte um Hilfe zu rufen, aber sie konnte nicht einmal tief genug einatmen, um zu schreien. Panik überfiel sie, sie bekam keine Luft mehr. Dann verlor sie das Bewusstsein.

Als Julie das nächste Mal erwachte, hatte ihre Lage sich nicht verändert. Doch diesmal war sie darauf vorbereitet und atmete flach, ließ die Panik gar nicht erst aufkommen. Sie war immer noch gefangen, spürte aber keine Bewegung mehr. Nur ihre Finger hatten etwas Bewegungsfreiheit, und damit tastete sie nun die direkte Umgebung ab. Sie fühlte etwas Raues, leicht Nachgiebiges, wie ein Gewebe, recht grob und sehr fest. Zur besseren Konzentration schloss sie die Augen, obwohl sie gar nichts sehen konnte. Langsam tastete sie den Bereich noch einmal ab und versuchte auch die anderen Sinne einzubeziehen. Es roch etwas muffig, schimmelig, alt. Und es fühlte sich tatsächlich nach einem Gewebe an, sie konnte die Fasern unter den streichenden Fingerkuppen spüren. Kein Erdreich, kein Holz oder sonst ein anderes Material.
Julie nahm leise Geräusche wahr. Sie konzentrierte sich darauf, aber sie waren zu schwach, um sie näher bestimmen zu können. Doch mit Hilfe ihrer Empathie erkannte sie Johns Signatur. War Gray auch in der Nähe? Aber ihn konnte sie nicht spüren.
Auf einmal überfielen sie rasende Kopfschmerzen, Lichtblitze zuckten schmerzhaft über ihre Netzhaut. Ein Riss war geöffnet worden!
Wieder wurde alles schwarz.

Und wieder erwachte Julie in der schon bekannten Situation. Die Schmerzen waren verschwunden, registrierte sie erleichtert. Wo befand sie sich nun? Wohin hatte John sie durch den Riss gebracht? Hatte er sie einfach irgendwo liegengelassen? Oder vielleicht vergraben? Panik stieg in ihr auf bei der Vorstellung, doch es gelang ihr, sich zu beherrschen. Sie konzentrierte sich.
Straßenlärm konnte sie identifizieren, schwach, entfernt, aber er war da. Also doch nicht begraben oder verschüttet, dachte sie erleichtert. Eher in etwas eingewickelt.
Sie streckte ihre geistigen Fühler aus. War John noch in der Nähe? Nein, ihn konnte sie nicht spüren, aber sie fing etwas anderes auf.
Jemand war in der Nähe. Würde er sie hören, wenn sie um Hilfe rief? Sie konnte zwar immer noch kaum atmen, aber das würde sie diesmal nicht davon abhalten, es wenigstens zu versuchen. Doch die nächsten menschlichen Wesen waren zu weit weg, als dass sie Hilferufe, noch dazu durch diese Hülle gedämpft, würden hören können.
Moment mal – menschliche Wesen? Julie konzentrierte sich jetzt völlig auf das, was sie mit ihrer Empathie auffing. Tatsächlich, sie spürte ausschließlich menschliche Emotionen! Sie war wieder auf der Erde und zwar - sie prüfte rasch der Verbindung zu Jack - in Cardiff. Und er hatte ebenfalls schon bemerkt, dass sie wieder da war.
Sie musste hier verschwinden und zwar schnell, dachte sie leicht panisch. Jack war der Letzte, den sie jetzt sehen wollte.
Julie fing an, ihr Gewicht von einer Seite auf die andere zu verlagern. Zuerst schaffte sie nur winzige Schaukelbewegungen, die rasch immer weiter wurden. Und tatsächlich rollte sie nach einiger Zeit zu einer Seite und dann - hoppla! - eine Schräge herunter. Dadurch löste sich auch ihre Hülle, so dass sie, unten angekommen, schon fast frei war. Noch etwas benommen befreite sie sich ganz, rappelte sich auf und sah sich um.
Es war Nacht, aber Straßenbeleuchtung in einiger Entfernung spendete diffuses Licht. Sie befand sich auf einem Brachgelände, das offensichtlich als wilde Müllkippe genutzt wurde. In der Nähe erkannte Julie größere Gebäude, hell erleuchtet. Anscheinend ein Industriegebiet, wie es sie in den Außenbezirken von Cardiff überall gab. Sie schaute auf den Boden. Ein leicht hysterisches Kichern entfuhr ihr. Ein Teppich! Sie war in einem Teppich eingewickelt gewesen!
Julie machte sich auf den Weg, zuerst noch etwas unsicher, dann immer schneller laufend. Das Wichtigste war jetzt, ein Telefon zu finden und Jack anzurufen. Irgendwie musste sie ihn dazu bringen, dass er blieb, wo er war. Und dann musste sie sich wieder in Ordnung bringen. Sie fühlte den Dreck und das Blut, die an ihr klebten, auch wenn sie es nicht sehen konnte. Sie brauchte dringend Wasser und neue Kleidung, damit sie wieder respektabel aussah.
Julie untersuchte im Laufen ihre Taschen und stellte erfreut fest, dass ihr kleiner "Türöffner" noch da war. Die Waffe allerdings war fort. Zurückgeblieben im 51. Jahrhundert, auf einem Planeten, von dem sie nicht einmal den Namen kannte.
Es war ein Kinderspiel, sich Zutritt zu einem Bürocontainer ganz in der Nähe zu verschaffen, ohne Alarm auszulösen. Schnell schnappte sie sich das nächste Telefon und rief Jack an.
"Du bist wieder da", sagte er statt einer Begrüßung. Es klang erleichtert, aber auch besorgt. "Ja", antwortete Julie. Stille entstand. Auf einmal wussten sie beide nicht mehr, was sie sagen sollten. Julie überlegte fieberhaft.
Seine drängende Stimme riss sie aus ihren Gedanken. "Julie, wo bist du? Geht es dir gut?" Blöde Frage, dachte sie plötzlich wütend. Er wusste ganz genau, wie sie sich fühlte - leider. Seine nächsten Worte bestätigten das. "Ich komme zu dir."
"Nein!" Sie schrie es fast. Wieder schwiegen beide, erschrocken über ihre heftige Reaktion. Julie fand als erste die Sprache wieder. "Entschuldige, Jack", sagte sie leise, "ich bin gerade erst angekommen. Ich brauche noch ein bisschen Zeit." Sie musste ihn beruhigen, es irgendwie schaffen, dass er sie in Ruhe ließ. Nur für ein paar Stunden. Morgen würde alles schon anders aussehen.
"Ich verspreche dir, dass ich nicht wieder so einfach verschwinden werde. Ich bleibe in Cardiff. Morgen, morgen werde ich kommen. Vertrau mir, bitte, Jack!" Die letzten Worte klangen so flehend, als würde ihr Leben davon abhängen. Wenn er nicht gleich auflegte, würde sie hier und jetzt zusammenbrechen. Und dann würde nichts ihn davon abhalten zu ihr zu kommen. Aber er durfte sie in diesem Zustand nicht sehen. Das würde nur zu Fragen führen, deren Beantwortung sie um jeden Preis vermeiden wollte.
Sie hörte Jack resignierend sagen: "Also gut. Ich werde warten ... bis morgen." Dann beendete er das Gespräch. Sie ließ den Hörer fallen und sank zu Boden. Dort rollte sie sich einfach zusammen und weinte. Über das, was in den letzten Stunden geschehen war. Über ihr Versagen. Über Johns Verrat.
Denn dass John sie letztendlich doch verraten hatte, bezweifelte sie nicht. Wie sonst hätte Gray wissen können, dass sie gerade hinter ihm stand, um ihn zu töten?
Julie hatte keine Ahnung, wie er das gemacht hatte, denn keiner der beiden hätte sie sehen dürfen. Hatte John doch von ihrer Fähigkeit gewusst und Gray gewarnt? Hatte Gray ihre Anwesenheit trotz der Tarnung gespürt? Oder war sie so in ihren Skrupeln gefangen gewesen, dass sie ihre Tarnung vernachlässigt hatte? Doch warum war sie hier und nicht irgendwo gefangen?
Aber das war jetzt auch egal. Die beiden hatten sie klassisch mattgesetzt. Sie hatte zu sehr ihren Gefühlen vertraut, hatte einfach glauben wollen, dass John auf ihrer Seite stand. Ein fataler Irrtum, das war nun klar. Jetzt musste sie sehen, dass sie mit den Folgen fertig wurde.
Als sie sich endlich wieder beruhigt hatte, stand sie langsam auf und fing an, die Schreibtische zu durchsuchen. Die Außenbeleuchtung des Firmengeländes tauchte das Innere des Raumes in diffuses Halbdunkel. Das Licht einzuschalten, wagte sie nicht. In einer Schublade fand sie eine Taschenlampe. Diese schaltete sie ein und ging suchend weiter durch den Container.
Am anderen Ende fand sie den Waschraum. Erleichtert seufzend zog sie das blutbesudelte und durchlöcherte Shirt aus, ließ es auf den Fußboden fallen, drehte den Wasserhahn auf und wusch sich das Blut und den Schmutz ab. Danach hob sie das Oberteil wieder auf und sah es angewidert an. Es war steif von getrocknetem Blut und die Risse zeigten an, wo Grays Messer sie getroffen hatte. Das konnte sie nicht mehr anziehen, damit konnte sie sich nicht auf die Straße wagen, auch nicht - oder gerade nicht - zu dieser Stunde. Sie musste etwas anderes finden.
Julie verließ den Waschraum wieder und durchsuchte im Licht der Taschenlampe die Schränke in dem Container. Und tatsächlich fand sie in einem Spind Arbeitskleidung. Einer der Overalls passte sogar so einigermaßen. Zwar nicht gerade Haute Couture, dachte sie, aber wesentlich besser als die Alternative. Sie trieb sogar noch eine geräumige Plastiktasche auf, in der sie ihre eigene Kleidung verstaute. Die Sachen durften hier nicht zurückbleiben. Um Fingerabdrücke brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, die waren in keinem Computer dieser Welt registriert. Dafür hatte sie schon vor langer Zeit gesorgt. Und sie würde es wieder.
Den Container und das Gelände verließ Julie auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen war. Dann machte sie sich auf in Richtung Zentrum. Bald gelang es ihr, einen Wagen anzuhalten, der sie mitnahm. Ihre Empathie war in solchen Dingen sehr nützlich. Sie erzählte dem Fahrer, was er hören wollte und lächelte dazu. Mehr war nicht notwendig. Julie ließ sich vor der City absetzen. Von dort war es nicht mehr weit bis zu ihrer Wohnung.

Nach einer heißen Dusche sah die Welt schon freundlicher aus. Sauber, in ihrem Bademantel, eine Tasse heißen Kaffees in den Händen, stand sie an dem großen Panoramafenster und beobachtete, wie die Sonne über Cardiff aufging. Bald würde sie Jack wiedersehen.
Sie begann zu zittern, der Kaffee schwappte über und verbrannte ihr die Hände. Reflexartig ließ sie die Tasse los, sie zerbrach auf dem Boden. Julie kümmerte sich nicht darum. Seufzend lehnte sie die Stirn an die Fensterscheibe und presste ihre Hände auf das kühle Glas.
Das würde das Schwerste werden. Jack in die Augen zu sehen und zu lügen - oder zumindest gewisse Dinge zu verschweigen. Denn sie würde ihm bestimmt nicht erzählen, dass sie versucht hatte, seinen Bruder zu töten. Sie konnte ihm ja nicht einmal sagen, dass Gray noch lebte. Jack würde ihr niemals glauben, welche Veränderung sein Bruder durchgemacht hatte; dass er schon lange nicht mehr der fröhliche kleine Junge war, an den er sich erinnerte.
Es war ja nicht so, dass sie noch nie Geheimnisse vor Jack gehabt hätte. Schließlich war sie immer noch ein Wächter. Sie hatte von Anfang an auch ihre eigenen Pläne verfolgt. Doch seit einiger Zeit beschlich sie mehr und mehr das Gefühl, dass die Dinge ihr entglitten. Und das machte ihr Angst. Bald würde sich alles ändern. Dann mussten sie bereit sein.
Jack hatte ja keine Ahnung, wie nahe der Zeitpunkt schon war. Aber sie war sich dessen bewusst, jederzeit. Sie spürte, wie die Zeit unter ihren Fingern zerrann, unaufhaltsam.
Und von nun an würde sie auch noch ständig wegen Gray auf der Hut sein müssen. Der nächste Anschlag kam bestimmt …irgendwann …

***

Als Julie an einer der Workstations im Hub ihre Emails abrief, fiel ihr eine sofort ins Auge. Nicht nur, weil sie rot markiert war und ein Wichtig-Zeichen ständig aufdringlich blinkte. Sondern vor allem, weil dort als Absender „John Hart" angegeben war. Wütend starrte sie auf den Bildschirm. Sie hatte jeden Gedanken an ihn und ihr „kleines Abenteuer", das so gründlich misslungen war, in den vergangenen Wochen erfolgreich verdrängt. Es gab auch so schon genügend Probleme.
Aber natürlich würde sie die Mail öffnen.
Julie schloss die Augen und streckte ihre geistigen Fühler aus. Jack hielt sich in einem anderen Teil der Basis auf, und zu dieser späten Stunde war niemand sonst im Hub. Trotzdem schaltete sie diesen Computer aus und ging in den Küchenbereich, wo Iantos PC stand. Hier sollte sie erst einmal ungestört bleiben, auch wenn Jack die Halle wieder betrat.
Sie öffnete die Email und ein Gesicht erschien auf dem Monitor. Julie sog erschrocken die Luft ein. Es war wirklich John dort auf dem Bildschirm. Wie hatte er es geschafft, diese Nachricht an sämtlichen Firewalls vorbeizuschmuggeln? Die Sicherheitssysteme des Hub waren die besten dieser und wahrscheinlich auch vieler anderer Welten. Wieder stieg Wut in ihr hoch. Wie konnte er es wagen, nach allem, was geschehen war?!
„Hallo, Zuckerschnecke", sagte er. Sein Lächeln misslang kläglich, auch wegen einer halb verheilten Platzwunde, die sich durch seine Unterlippe zog. Forschend musterte Julie sein Gesicht. Ihre Wut kühlte sich deutlich ab.
Der Bildschirm zeigte nur seinen Kopf und einen Teil der Schultern. Und dieser Teil sah ziemlich schlecht aus. Er wirkte noch hagerer als sonst. Ein schon verblassender Bluterguss zog sich über fast die gesamte rechte Gesichtshälfte, eine weitere Platzwunde „verzierte" seine linke Augenbraue. Julie beschlich der Gedanke, dass der Rest von ihm wahrscheinlich nicht viel besser aussah. Offenbar vertraute Gray ihm doch nicht so sehr, wie John geglaubt hatte, dachte sie leicht gehässig. Aber er lebte noch.
„Du bist also wieder zurück, auch wenn dein Erwachen wahrscheinlich nicht besonders angenehm war", fuhr John fort. Ja, er war nicht zimperlich gewesen, dachte Julie sarkastisch. Immerhin war sie noch mindestens einmal gestorben, bevor sie sich befreien konnte.
„Es tut mir leid, Süße, ich konnte nicht mehr für dich tun. Außer dich so schnell wie möglich verschwinden zu lassen, bevor Gray mitbekam, dass du wieder zum Leben erwachst. Deshalb auch der Teppich." Er zuckte seltsam steif mit den Schultern.
Julie wurde nachdenklich. Hatte sie ihn etwa falsch eingeschätzt? Anscheinend hatte er einiges riskiert, um sie in Sicherheit zu bringen. Oder war das wieder eines seiner Spielchen?
„Nach deinem Mordversuch hat er gleich vermutet, dass du von Jack geschickt worden seiest", sagte John gerade. „Ich musste Gray leider beichten, dass ich Jack damals gesagt habe, dass er noch lebt. Er hat dann von mir verlangt, deine Leiche dort abzulegen, wo Jack sie findet. Aber was Besseres konnte mir ja gar nicht passieren. Nur dass ich einen Ort ausgesucht habe, wo Jack dich eben nicht sofort findet. Schließlich soll er ja nichts von unserem kleinen Abenteuer erfahren, nicht wahr?" Er legte den Kopf etwas schräg und hob vielsagend eine Braue – die unverletzte, fiel Julie auf. Unwillkürlich musste sie lächeln. Seinen Sinn für Ironie und seinen Pragmatismus hatte er jedenfalls nicht verloren.
John wurde wieder ernst. „Und es hätte keinen Zweck gehabt, dich hier zu behalten." Julie nickte automatisch. Er hatte ja Recht. Diese Partie war an Gray gegangen. Um überhaupt noch im Spiel zu bleiben, war John gar nichts anderes übrig geblieben, als seine Figuren –seine Dame, dachte sie lächelnd - in Sicherheit zu bringen und neu zu positionieren. So hielt er sich alle Möglichkeiten offen.
John räusperte sich rau und sprach weiter. „Ich habe noch nicht herausfinden können, was er genau plant. Doch es ist bald soweit – jedenfalls aus meiner Sicht. Wann es in deiner Zeit passieren wird, kann ich noch nicht sagen. Aber ich werde einen Weg finden, dich zu warnen." Jetzt versuchte er doch wieder zu lächeln. Es sollte wohl beruhigend wirken.
Er bewegte sich auf einem gefährlich schmalen Grat. Wie lange würde es noch dauern, bis Gray entschied, dass er ihn nicht mehr benötigte? Julie sah ihm an, dass er sich dessen wohl bewusst war. Dafür brauchte sie seine Gefühle nicht zu lesen. Aber was wäre ein Spiel ohne Einsatz? Sie konnte geradezu hören, wie er das dachte.
John war noch nicht fertig. „Halte deine goldenen Augen offen, meine Schöne. Sei wachsam." Dann wurde der Bildschirm dunkel, die Aufzeichnung war zu Ende.
„Das werde ich", flüsterte sie beschwörend, als könne ihre Stimme John erreichen, wo immer er sich auch befand. „Ich werde Jack beschützen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue!"
Julie war so damit beschäftigt, die Tränen zurückzuhalten, dass sie fast hochsprang, als sie die Berührung spürte. Mit klopfendem Herzen fuhr sie herum und stand Jack gegenüber, der sie erschrocken über ihre heftige Reaktion anstarrte. Dann wurde sein Blick besorgt. „Rhu, was ist?" fragte er. Jetzt konnte sie die Tränen doch nicht mehr zurückhalten. Wortlos nahm er sie in die Arme.
Julie überließ sich ganz seiner Umarmung, atmete den Geruch seiner Kleidung und seiner Haut ein. Kurz überprüfte sie seine Emotionen. Sie spürte nur Besorgnis und Liebe. Zum Glück hatte er nichts von der Übertragung mitbekommen. Langsam beruhigte sie sich. Jack küsste sie zärtlich auf die Schläfe. „Sag’ mir, was los ist", flüsterte er.
„Es ist schon wieder vorüber", antwortete sie ohne den Kopf zu heben, „nur eine Erinnerung an einen alten Freund."


"Im Gegensatz zum Schach geht das Leben nach dem Matt weiter." (Isaac Asimov)