TORCHWOOD

Ein Spiel um Tod und Leben

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Teil 1 - Tibetanische Eröffnung

Julie war kalt, so kalt. Ihre Kiefer verkrampften sich in dem Bemühen, die Zähne am Klappern zu hindern. Sie war zwar so gut wie unverwundbar, aber das hieß nicht, dass sie unempfindlich gegen die hier allgegenwärtige Kälte wäre. Eher im Gegenteil, dachte sie ironisch. Sie rückte so nah wie möglich an das kleine Kohlebecken, das aber nicht einmal ausreichte, ihre winzige Zelle zu erwärmen. Auch die mehrere Schichten gefütterter Kleidung halfen nicht mehr, so durchgefroren, wie sie war.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht, zu dieser Zeit das Kloster hoch im Himalaya aufzusuchen? Sie hätte sich ausrechnen können, dass hier in über 3000 m Höhe schon der Winter hereingebrochen war. In Europa herrschte jetzt noch Spätsommer.
Aber das war es ja, sie hatte nicht nachgedacht. In ihrer Verzweiflung hatte sie einfach nur so viele Kilometer wie möglich zwischen sich und den Ort bringen wollen, wo in den letzten Wochen so viel Tod über sie hereingebrochen war. Und sie es nicht hatte verhindern können. Hier im Kloster hatte sie gehofft, die ersehnte Ruhe zu finden.
Sie wusste selbst nicht genau, warum sie es diesmal so schwer nahm. Es war ja nicht so, dass noch niemals Freunde oder Geliebte gestorben waren. Das wäre in über 400 Jahren auch ziemlich ungewöhnlich gewesen. Doch diesmal grübelte Julie immer und immer wieder darüber nach, ob sie es nicht doch hätte verhindern können.
Und dann war da noch die Sache mit Ianto. Die zwei Tage unter Adams Einfluss müsste sie eigentlich aus ihrem Gedächtnis streichen, denn Ianto erinnerte sich ja nicht mehr daran, was geschehen war. Aber schon lange vorher hatte Julie schon gespürt, dass da mehr war als nur jugendliche Schwärmerei. Er war es auch gewesen, der sich, als sie im Koma lag, rund um die Uhr um sie gekümmert hatte. Gwen hatte es ihr später einmal erzählt. Auch dafür liebte sie ihn. Und es war inzwischen weit mehr als Beschützerinstinkt oder mütterliche Gefühle. Sie spürte, dass es langsam etwas Ernstes wurde.
Aber nun zerriss es sie buchstäblich. Sie hatte das Gefühl, Jack verraten zu haben.
Jack war immer die Konstante in ihrem Leben gewesen, ihr Anker. Er richtete sie auf, wenn die Verzweiflung sie überfiel, spendete ihr Kraft. Aber Ianto war wichtig, viel wichtiger als Jack auch nur ahnte. Sie musste ihn einfach an Torchwood binden, er durfte ihnen nicht verloren gehen.
Aber sie und Jack hatten sich doch ein Versprechen gegeben, nicht wahr? Keiner von ihnen wollte etwas mit Ianto anfangen, das war die Vereinbarung. Doch sie hatte diesen Pakt gebrochen. Es hatte sie keine Überwindung gekostet – im Gegenteil.
Süßer, liebster Ianto … am liebsten wollte sie ihn für immer festhalten, ihn im Arm halten, ihn beschützen. Und er war so leicht glücklich zu machen: eine kurze Berührung, eine Umarmung, ein heimlicher Kuss, mehr war nicht nötig. Er wusste, dass ihre Verbindung mit Jack über allem anderen stand, und akzeptierte es. Auf der intellektuellen Ebene. Aber Julie spürte den Schmerz, der sich dahinter verbarg. Dass sie nicht ganz ihm gehörte und es auch nie würde. Und es tat ihr weh. Genauso wie Jacks kleine Eifersuchtsanfälle.
Sie lächelte matt. Offenbar war auch Jack schon zu lange in diesem Zeitalter. Dessen Moralvorstellungen schienen allmählich auf ihn abzufärben. Neid, verletzte Gefühle spielten natürlich auch eine Rolle. Er hatte selbst Interesse an Ianto. Aber was konnte sie dafür, dass sich Ianto für sie entschieden hatte, dachte sie trotzig.
Das war früher auch schon vorgekommen bei ihnen beiden, aber dann hatte sich der andere einfach zurückgezogen, war für einige Zeit aus Cardiff verschwunden. Das war in diesem Fall nicht möglich. Keiner von ihnen konnte Torchwood momentan verlassen.
Wahrscheinlich war Jack noch gar nicht bewusst, wie nahe der Zeitpunkt schon war. Woher auch, er besaß ja nicht ihre Vorausschau. Aber er spürte trotzdem, dass die Schlinge sich zuzog. Und sie verkomplizierte die Situation noch durch ihre Handlungen, deren Sinn er nicht erkennen konnte. Sie konnte Jack auch nicht einfach erklären, warum sie das alles tat. Es würde den Erfolg ihrer Versuche, die Zeitlinie zu verändern, noch unsicherer machen. Auch das war nichts Neues. Sie hatte Jack noch nie alles erzählt, hatte immer ihre kleinen – und auch größeren – Geheimnisse gehabt. Sie war schließlich immer noch ein Wächter. Aber es machte ihr zu schaffen, wesentlich mehr als jemals zuvor.
Hing das mit den anderen Veränderungen zusammen, die sie spürte? Sie hatte seit einiger Zeit das Gefühl, ihre Fähigkeiten würden schwächer, als ob die Kraft aus ihr hinaus flösse, Tag für Tag ein bisschen mehr. Das schien sich allmählich auch auf ihre psychische Verfassung auszuwirken. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr viel Zeit zu haben. Wieso, konnte sie nicht erklären. Schließlich war sie unsterblich, was sollte schon passieren? Aber das Gefühl blieb, bohrte sich in ihren Kopf, war immer da.
Die Sorge machte sie ruhelos. Und so wanderte sie tagelang, nächtelang durch die riesigen Hallen, in denen immer einige Mönche in ihren gelben und roten Kutten saßen und buddhistische Verse rezitierten. Allmählich gewöhnten sie sich daran, dass Julie wie ein Gespenst auftauchte und verschwand. Einige der ganz alten Mönche kannten sie noch von ihrem letzten Aufenthalt. Das war vor über fünfzig Jahren gewesen. Damals waren die Männer noch sehr jung, manche noch Kinder gewesen. Auf sie musste Julie tatsächlich wie ein Geist wirken, hatte sie sich doch nicht verändert. Aber sie ließen es sich nicht anmerken, genauso wenig wie der Abt. Auch er war damals noch jung gewesen, ein einfacher Mönch. Doch er hatte sie bei ihrer jetzigen Ankunft nur freundlich begrüßt und keine Fragen gestellt. Er wusste genau, warum sie hier war.
Aber es war so kalt! Wie sollte sie zur Ruhe kommen, wie ihren Geist befreien, wenn ihr vor lauter Zittern der ganze Körper schmerzte? Also begann sie, die Umgebung zu erforschen. Sie erledigte kleine Aufträge für das Kloster oder die Leute im Dorf. Manchmal durchstreifte sie einfach nur die tief verschneiten Berge. "Vielleicht treffe ich ja mal auf den Yeti", dachte sie amüsiert. Bei dem Herumgestapfe im Schnee wurde ihr wenigstens warm. Sie fühlte sich wie die ersten Bergsteiger, die den Everest bezwungen hatten.
Lange konnte sie ihre Unruhe damit jedoch nicht stillen. Sie spielte immer häufiger mit dem Gedanken, nach Cardiff zurückzukehren. Doch noch schreckte sie davor zurück. Jack wusste ja, wo sie sich aufhielt. Sie hatte ihn von Lhasa aus angerufen, bevor sie sich auf den Weg zum Kloster machte und ihn so - zumindest etwas - beruhigen können. Aber jedes Mal, wenn sie dem Band folgte, spürte sie seine Sorge um sie. Und gerade das hielt sie davon ab, das Kloster zu verlassen.

Als Julie erwachte, war ihre Zelle noch dunkel. Durch das winzige Fenster hoch oben in der Wand erkannte sie das erste Grau des anbrechenden Tages. Was hatte sie geweckt? Woher kam dieses beunruhigende Gefühl? Langsam atmete sie ein und aus, horchte in sich hinein. Da war es wieder! Es fühlte sich an wie ... wie ... Rissaktivität?! Hier?! Sie richtete sich ruckartig auf. Das konnte nicht sein. Hier gab es keine Schwachstelle in der Grenze zwischen Zeit und Raum, das hätte sie schon längst gespürt.
Sie schälte sich aus den Decken und stand auf. Ihre Kleidung hatte sie ja sowieso schon an. Hastig durchschlug sie die Eisschicht auf der Wasserschüssel, die sich seit gestern abend gebildet hatte, und spritzte sich das eiskalte Wasser ins Gesicht. Das musste reichen. Dann machte sie sich auf den Weg zu dem Ort, wo sie die Rissaktivität gespürt hatte.
Bald spürte sie, dass der Riss sich wieder schloss. Den Rest der Strecke rannte sie so schnell sie konnte. Völlig erschöpft erreichte sie den Punkt, doch sie sah nur noch den Widerschein des schon geschlossenen Risses. Keuchend ließ sie sich einfach in den Schnee fallen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Als sie nach einer Weile den Kopf hob, sah sie die Spuren, die von der Stelle, an der sich der Riss befunden hatte, wegführten. Langsam stand sie auf und ging näher heran. Sie stammten von zwei normal wirkenden Schuhen. "Zumindest ist also das, was durch den Riss gelangte, zweibeinig und teilweise humanoid - wenn ihm menschliche Schuhe passen", dachte Julie. Beunruhigender schien ihr, dass sich hier überhaupt ein Riss geöffnet hatte. Sie spürte jetzt, nachdem er sich wieder geschlossen hatte, nichts mehr. Nicht das Geringste. Hier gab es kein Rift. Jedenfalls keines natürlichen Ursprungs ...
Sie schloss die Augen, schob die beunruhigenden Gedanken zur Seite und ließ ihre geistigen Fühler ausgreifen in die Richtung, in die die Spuren führten. Sie musste weit ausholen, aber dann spürte sie eine Präsenz, fast an der Grenze ihrer Wahrnehmung.
Das, was sie spürte, war menschlich - und männlich. Die Ausstrahlungen Außerirdischer waren anders, eben fremdartig. Sie lächelte über sich selbst. Die Gefühle der Menschen waren ihr so vertraut geworden, dass sie die von Aliens ganz automatisch als fremd bezeichnete. Sie war wirklich schon zu lange auf der Erde.
Julie machte sich an die Verfolgung. Was ihr nicht schwer fiel, die Spuren waren deutlich genug. Und sie kam auch noch schneller voran, weil sie in die schon vorhandenen Fußstapfen treten konnte. Der Andere hatte es offenbar nicht eilig, die Spuren deuteten auf normales Gehen hin. So holte sie langsam, aber sicher auf.
Allerdings fragte sie sich allmählich, wohin der Fremde eigentlich wollte. Die Spur führte immer weiter in die Bergwildnis, immer weiter weg von allen menschlichen Ansiedlungen.
Plötzlich hörte sie ein Grummeln, das sich schnell zu einem ohrenbetäubenden Donnern steigerte. Ein kalter Schauer kroch ihr über den Rücken, sie kannte dieses Geräusch - eine Lawine hatte sich gelöst. Und der Lärm kam genau aus der Richtung, in die die Spuren führten.
Julie streckte wieder ihre Fühler aus, versuchte, den Fremden zu fassen. Seine Empfindungen erreichten sie mit voller Wucht, so nah war sie inzwischen. Panik, Todesangst überfiel sie - der Fremde war in der Lawine, wurde von ihr fortgerissen. Wahrscheinlich hatte er sie auch noch selbst ausgelöst, dachte sie, als sie losrannte. Weiter unten legte sich langsam das letzte Schneegestöber über einem Wall aus Eis und fest gepresstem Schnee. Ein Felsgrat hatte die Lawine zum Stehen gebracht.
Sie hatte die ganze Zeit den Kontakt mit dem Anderen gehalten. Er lebte noch, aber sein Bewusstsein wurde schon schwächer. Der Fremde hatte noch Glück gehabt, dass er nicht in der vordersten Zone der Lawine gelandet war. Dort hätte ihn die Wucht der Schneemassen mit tödlicher Sicherheit gegen die Felsen geschmettert, und es wäre nicht mehr viel zum Retten übrig gewesen.
So aber konnte Julie seine Position bestimmen. An der Stelle, wo die Gefühle am stärksten zu spüren waren, begann sie mit bloßen Händen zu graben. Sie musste sich beeilen, die Signale wurden immer schwächer. Der Fremde war inzwischen dem Tode nahe. Mit weit ausholenden Bewegungen schaufelte Julie den Schnee aus dem immer tiefer werdenden gegrabenen Loch und schleuderte ihn zur Seite. Die Kälte spürte sie nicht in ihrer Angst zu spät zu kommen. Auch nicht, dass ihre Finger immer steifer wurden.
Endlich sah sie etwas Buntes in dem Loch. Sie mobilisierte noch einmal ihre Kräfte und grub weiter. Schnell hatte sie einen leuchtend roten Anorak freigelegt, die Kapuze war eng um den Kopf gezogen.
Hastig stieg sie in die Grube, fasste den Fremden unter den Achseln und zog. In seiner Bewusstlosigkeit stöhnte er, offenbar hatte er Schmerzen. Doch im Moment konnte sie sich damit nicht befassen. Eine andere Möglichkeit, ihn aus der Lawine zu befreien, gab es nicht, nicht mit ihren halb erfrorenen Händen. Erleichtert registrierte sie, dass sich seine Beine leicht aus dem gepressten Schnee lösten. Trotzdem zog sie langsam und vorsichtig, aus Angst, dem Anderen noch mehr Schmerzen zuzufügen.
Nach ein paar Minuten hatte sie den Mann auf die Oberfläche des Schneefeldes gezogen. Sie legte ihn hin und ließ sich dann neben ihn fallen, keuchend vor Anstrengung. Mühsam sog sie die Luft ein, die vor Kälte in ihren Lungen brannte. Lange konnte sie sich nicht ausruhen. Sie mussten so schnell wie möglich hier weg, waren noch nicht in Sicherheit, aber erst einmal mussten sich ihre Hände wieder regenerieren.
In den paar Minuten schaute sie sich den Fremden genauer an. Viel war nicht zu erkennen, er trug eine komplette Wintermontur mit gefüttertem Anorak, gefütterter Hose und Schneestiefeln. Aber er schien recht schlank unter all der Kleidung zu sein und nicht viel größer als Julie selbst. Ihr fiel seine Kleidung auf – der Anorak in diesem leuchtenden Rot und die schwarze Hose. Dazu die hohen schwarzen Stiefel und rote Handschuhe in fast dem gleichen Farbton wie die Jacke. Und alles sah teuer aus, es war das beste und modernste, was der Markt zu bieten hatte. Alles in allem war der Mann perfekt ausgerüstet, aber offenbar ohne jede Bergerfahrung.
Von seinem Gesicht war nicht viel zu erkennen, die Kapuze ließ nur die geschlossenen Augen und die Nase frei. Julie löste die Schnur und zog die Kapuze weiter auf. Sein Gesicht wirkte recht hager, mit hohlen Wangen. Julie musterte es eindringlich. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass ihr dieses Gesicht bekannt sein müsste, irgendwie. Doch sie kam einfach nicht darauf, woher.
Sie riss sich gewaltsam aus ihren Grübeleien. Der Mann war immer noch bewusstlos und auch verletzt, aber sie mussten so schnell wie möglich zurück ins Kloster. Sie würden langsamer vorankommen als sie allein und der Tag war kurz hier oben. Eine Nacht ungeschützt im Freien würde er nicht überleben und auch ihr würde ihre außergewöhnliche Regenerationsfähigkeit nicht viel nützen, wenn sie steif gefroren wäre.
Vorsichtig tastete sie den Brustkorb des Fremden ab. Als sie zur rechten Schulter kam, stöhnte er unruhig, erwachte aber nicht. Ihre Hände wanderten die Arme und Beine entlang, aber er zeigte keine weitere Reaktion. Nur eine Verletzung im Schulterbereich? Der Mann hatte unverschämtes Glück gehabt. Das ließ sich schnell beheben.
Julie beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn. Sie spürte, wie diese spezielle Energie von ihr in den Fremden strömte, wie sie durch seinen Körper floss und die Schäden behob. Es war das Schlüsselbein, das gebrochen war. In kürzester Zeit heilte es zusammen. Die absterbenden Zellen wurden regeneriert. Julie spürte, wie der Mann allmählich aus der Bewusstlosigkeit auftauchte. Sie beendete den Kuss.
Als sie sich wieder aufrichtete, blickte sie in zwei graublaue Augen. Der Mann war aus der Ohnmacht erwacht und sah sie lächelnd an. Blitzartig wusste Julie, wen sie da vor sich hatte.
Wie hätte sie auch diese Augen vergessen können. Diese Augen, die denen von Jack so ähnlich waren. Nicht dem Jack von heute, sondern dem Jack, wie er gewesen war, als sie sich kennen lernten. Die gleiche Unbekümmertheit, die gleiche Mutwilligkeit, das gleiche Strahlen.
Nur zusätzlich mit einer gehörigen Portion Skrupellosigkeit und einem Schuss Wahnsinn. Und im Hintergrund lauerte der Tod.
Julie lächelte zurück. „Hallo, John", sagte sie.

***

Johns Lächeln wurde noch breiter.
„Hallo, Schönheit. Wie ich mit freue, in diese goldenen Augen zu schauen", antwortete er. „Ich bin im Himmel."
Julie lachte laut auf. Immer noch die gleichen dummen Sprüche, das hatte sich auch nicht geändert. Aber seine Freude war echt. Sie stand auf, beugte sich etwas nach vorn und hielt ihm die Hand hin. „Soweit ist es noch nicht, Captain John Hart", sagte sie ironisch. „Ich glaube auch nicht, dass du es lange im Himmel aushalten würdest - bzw. er dich!"
Als er ihre Hand ergriff, zog sie ihn mit einem Ruck hoch. Durch die Kraft, die dahinter steckte, stolperte er noch etwas weiter. Julie hatte den Eindruck, er verstärke das Stolpern absichtlich, so dass er ihr fast in die Arme fiel. Triumphierend lächelnd umarmte er sie und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen, bevor sie ihn wegschieben konnte.
John zog ein übertrieben enttäuschtes Gesicht. „Nein, ich bin wirklich überglücklich, dich zu sehen. Diese Lawine hatte ich nicht eingeplant." Seine Miene wurde ernst. „Ich muss mich wohl bei dir bedanken, dass du mir das Leben gerettet hast."
Auch diesmal meinte er wirklich, was er sagte, das konnte sie spüren. Aber Julie erkannte auch, dass er etwas vor ihr verbarg. Auch das hatte sich nicht verändert. Doch sie würde das Spiel erst einmal mitspielen.
Sie nickte lächelnd. „Was hattest du denn geplant", fragte sie.
John zuckte mit den Schultern. „Ich wollte zu diesem Kloster, aber die Programmierung war wohl etwas ungenau …." Er sah sie entschuldigend an.
Julie schüttelte den Kopf. „Wie habt ihr bei der Time Agency eigentlich jemals etwas zustande gebracht, wenn diese Vortex-Manipulatoren so ungenau sind?"
John öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber sie war jetzt so richtig in Fahrt. Mit einer knappen Handbewegung hinderte sie ihn daran, sie zu unterbrechen.
„Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Du bist kilometerweit am Ziel vorbeigeschossen. Und dann läufst du auch noch in die falsche Richtung. So hättest du das Kloster nie gefunden. In dieser Richtung wärst du nur immer weiter in die Berge gelaufen und spätestens heute Nacht erfroren, trotz deiner teuren Trekkingausrüstung. Nicht mal ein Überlebenspack oder ein Zelt hast du dabei. Hast du denn keinen Kompass oder was man sonst im 51. Jahrhundert benutzt?"
John zog den Kopf ein und hob abwehrend die Hände „Ich sollte doch direkt im Kloster landen", meinte er kleinlaut und sah sie schräg von unten an. „Wozu sich also mit so etwas belasten?" Er versucht vorsichtig ein kleines Lächeln, um sie milde zustimmen. Dann richtete er sich wieder auf und sah er sie an, als werde ihm gerade etwas anderes klar. „Wie hast du mich überhaupt gefunden?" Forschend ruhte sein Blick auf ihr.
„Ich kann es spüren, wenn sich ein Riss öffnet, schon vergessen", fragte Julie sarkastisch. „Also habe ich mich sofort aufgemacht um nachzusehen. Der Riss hatte sich schon geschlossen, aber ich bin dann einfach deinen Spuren gefolgt. Sie waren ja nicht zu übersehen!"
John zuckte mit den Schultern und breitete die Arme aus, er lachte schon wieder. „Dann war es doch gut, dass ich so sorglos war. Sonst hättest du mich ja nicht gefunden!"
Julie warf verächtlich schnaubend die Hände in die Luft. Dieser Kerl verdrehte einem doch die Worte im Mund! Sie deutete eine Bewegung an, als wolle sie ihn schlagen. Zufrieden lächelnd nahm sie zur Kenntnis, dass er sich reflexartig wegduckte. Dann drehte sie sich um, hob ihre Handschuhe auf und zog sie an. Über die Schulter schaute sie zurück zu John Hart. „Hast du alles? Deine Schießeisen, dein Katana, sonstige Waffen? Dann sollten wir uns auf den Weg machen, es wird bald dunkel. Und ich möchte das Kloster möglichst noch vorher erreichen!"
Bei ihren letzten Worten ging sie einfach los. Mit Genugtuung registrierte sie, dass John leicht erschrak und hastig prüfte, ob wirklich noch alles an seinem Platz war. Dann lief er ihr eilig hinterher, bis er sie eingeholt hatte.
Sie schlug ein ziemlich flottes Tempo an, das John, der noch versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, bald dazu brachte, den Mund zu halten. So schafften sie es tatsächlich, bei Einbruch der Dämmerung das Kloster zu erreichen.
Vor dem Eingangstor blieb Julie .stehen Sie sah John eindringlich an. " Noch ein paar gute Ratschläge - auch wenn ich irgendwie daran zweifle, dass du sie beachten wirst: Dies ist ein Kloster. Die Mönche praktizieren das Prinzip der Gewaltlosigkeit. Also sieh zu, dass du deine Waffen nicht zu offensichtlich zeigst! Du wirst sie sowieso spätestens im inneren Bereich ablegen müssen, also freunde dich mit diesem Gedanken schon mal an. Niemand wird sie dir mit Gewalt abnehmen, aber solltest du nicht auf sie verzichten wollen, wirst du das Kloster morgen wieder verlassen müssen!"
John wich ihrem Blick nicht aus und verzichtete auch auf eine seiner üblichen flapsigen Bemerkungen, die Julie schon befürchtet hatte. Er schien zu wissen, dass es ihr Ernst war, todernst. Sie würde ihn eigenhändig aus dem Kloster werfen, wenn er sich nicht an dessen Regeln hielte, das schwor sie sich in Gedanken. Aber es musste ihrem Gesicht anzusehen sein, denn John hob in einer beschwichtigenden Geste die Hände. "Keine Sorge, ich werde nichts tun, was uns in Schwierigkeiten bringt", versicherte er. Julie sah ihn zweifelnd an und sondierte kurz seine Gefühle. Aber er meinte, was er sagte. Doch dass John so schnell nachgab, machte sie erst recht misstrauisch.
Doch zu ihrem Erstaunen war John ab diesem Zeitpunkt überaus umgänglich, fast handzahm. Julie stellte ihn dem Abt als "Freund" vor, "der sich Sorgen um sie gemacht" habe und deshalb nach ihr sehen wolle. Der Abt begrüßte ihn mit der gleichen Freundlichkeit wie jeden Gast. Und John war freundlich, zuvorkommend, ja charmant. Bald hatte er den Abt mit seinem Geplauder um den Finger gewickelt. Julie war sprachlos, aber sie ließ ihn gewähren, lächelte an den richtigen Stellen und nickte ab und zu, krampfhaft darum bemüht, nicht einzuschlafen. Die Anstrengungen der letzten Stunden forderten ihren Tribut.
Der Abt hatte ihre Müdigkeit bemerkt und beendete die Audienz bald. Seine Waffen legte John ohne jede Diskussion ab, dann begleitete ein Mönch sie zu den Zellen und wies John die direkt neben Julies zu. Julie war so müde, dass sie sich an der Wand abstützen musste, um nicht einfach umzukippen. John schaute sie noch einmal an. "Gute Nacht", sagte er lächelnd. Julie war nicht einmal in der Lage, noch etwas zu erwidern. Sie drehte sich um und schlurfte mit halb geschlossenen Augen in ihre Zelle. Ihr Kopf hatte die dünne Matraze noch nicht richtig berührt, da schlief sie schon.

***

Sie schreckte hoch, als sie zwei Arme spürte, die sie umfingen. Ohne hinzusehen holte sie zu einem Hieb aus. Eine bekannte Stimme ließ sie innehalten. Verblüfft schaute sie über ihre Schulter und sah genau in Johns aufgerissene Augen. „Hey, hey, hey, immer ruhig!" Im trüben Licht des kleinen Öllämpchens war nicht viel zu erkennen, aber ihre heftige Reaktion hatte ihn anscheinend doch kalt erwischt. Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Ich friere erbärmlich und habe nur etwas Wärme gesucht. Und da habe ich gedacht …"
Julie sah ihn misstrauisch an. Er legte mit bittendem Blick die Hände zusammen. „Keine Hintergedanken?" fragte sie gedehnt. John setzte einen Hundeblick auf, der selbst Diamanten zum Schmelzen hätte bringen können, wenn es nicht so verdammt kalt gewesen wäre. „Keine Hintergedanken", versicherte er treuherzig. Julie musste unwillkürlich lächeln. Er sah sie an und setzte wieder dieses schiefe Grinsen auf. „Bei dieser Kälte regt sich selbst bei mir nichts mehr", meinte er trocken. Julie brach in Gelächter aus, es ging einfach nicht anders.
Als sie sich wieder beruhigt hatte, sah John sie auffordernd an. Er streckte ihr seine Hand entgegen. "Also, Frieden? Für diese Nacht?" Julie schaut ihn an, aber er wich ihrem Blick nicht aus und hielt auch die Hand weiter ausgestreckt. Schließlich lächelte sie und schlug ein. John seufzte erleichtert und legte sich wieder hin. Auffordernd hob er einen Arm und sah Julie an.
Die gab sich einen Ruck und legte sich ebenfalls hin, den Rücken John zugekehrt. Der rückte an sie heran und legte ihr den Arm über die Brust. Julie zog die Decke über sie beide und schloss die Augen. Sie lauschte auf Johns Atem und sondierte vorsichtig seine Ausstrahlungen. Überrascht bemerkte sie, dass er schon schlief.
Fast hätte sie geseufzt, als sie sich mit dem Rücken noch dichter an John schmiegte. Wie hatte sie diese Nähe vermisst. Auch wenn es ein halb verrückter, sexbesessener Time Agent war, der sie ohne mit der Wimper zu zucken töten würde, wenn es zu seinem Vorteil wäre - sie genoss es. Natürlich zöge sie es vor, jetzt in Jacks oder Iantos Armen zu liegen. Oder von beiden ....
Bilder zogen hinter ihren geschlossenen Augen vorbei, Geräusche, Gerüche. Tränen quollen ihr unter den Lidern hervor, krampfhaft versuchte sie, das Schluchzen zu unterdrücken. John sollte nicht aufwachen. Aber ihr Körper wurde trotzdem geschüttelt davon. John murmelte etwas, bewegte sich unruhig und fuhr mit den Lippen über ihren Nacken.
Erschrocken hielt Julie den Atem an. Doch er erwachte nicht. Heftig stieß sie die Luft aus. Sie lauschte auf Johns leisen, regelmäßigen Atem, der über ihren Nacken strich. Allmählich gelang es ihr, ruhig und tief zu atmen, die Muskeln zu lockern. Und dann schlief sie tatsächlich ein.

***

Julie erwachte, weil sich John hinter ihr sehr unruhig bewegte. Es wurde schon hell draußen. Sie drehte sich zu ihm um. Er war nicht aufgewacht. Im Gegenteil, offenbar kämpfte er im Schlaf gegen seine ganz persönlichen Dämonen.
Julie fasste ihn an der Schulter, um ihn aufzuwecken. Mit dem Ergebnis, dass sie sich beinahe einen Schlag eingefangen hätte. Sie konnte sich gerade noch rückwärts in Sicherheit bringen. Da saßen sie nun beide und starrten sich mit aufgerissenen Augen an. Julie fing sich als Erste.
„Das hat man nun davon, dich aus deinen Alpträumen retten zu wollen!" beschwerte sie sich lauthals.
John grinste sie an, es sah noch ein bisschen nach Zähnefletschen aus. „Dann sind wir ja quitt", meinte er. Julie lachte.
Sie stand auf. „Frühstück?" fragte sie. John nickte und erhob sich ebenfalls. Gemeinsam gingen sie in den Saal, in dem schon eine große Anzahl Mönche saß und ihr Frühstücksmahl zu sich nahm. John schüttelte sich, als er sah, was ihnen da vorgesetzt wurde: Gesalzener Buttertee und in Wasser gekochte Grütze. In einer ruhigen Ecke, etwas abgesondert von den Mönchen, setzten sie sich mit ihren Schüsseln und begannen zu essen.
Julie musste sich schon wieder das Lachen verkneifen, denn John würgte das Ganze mit einer Leidensmiene herunter, die einfach göttlich war. Vor allem, weil er bestimmt schon Schlimmeres gegessen hatte. Er spielte schon wieder den Clown.
Sie beschloss, dass es jetzt an der Zeit war, die Tändeleien zu beenden. „So, und jetzt erzähl’ mir mal, warum du wirklich hier bist. Bestimmt nicht, weil du Sehnsucht nach mir hattest."
John setzte die Schüssel mit dem Buttertee, aus der er gerade trank, langsam ab und sah sie an. "Ja", sagte er nur.
Julie runzelte die Stirn. Wollte er Zeit schinden? Sie wurde nicht schlau aus seinen Gefühlen, zu wild wirbelten die Empfindungen durcheinander. "Ja - und?" fragte sie unwirsch. "Lass' dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!"
John schwieg einen Moment. Er wurde ganz ruhig, der Strudel der Emotionen erstarrte. Seine Augen, die Julie immer noch fixierten, verwandelten sich in blaues Eis. Er hatte eine Entscheidung getroffen.
"Ich habe den Auftrag, dich zu töten."

***

Julie war nicht wirklich überrascht. Dass er etwas im Schilde führte, wusste sie ja, seit er hier erschienen war. Sie musterte ihn nachdenklich, während sie seine Gefühle analysierte. Er meinte es todernst. Doch warum erzählte er es ihr dann? Sie ging tiefer, unter die Oberfläche der bewussten Gedanken.
Emotionen sind selten rein, sondern fast immer eine Mischung, ein wildes Wirbeln. Sie formen Muster, die mehr verraten als die reinen Gefühle – wenn man sie zu lesen versteht.
Das war es, was Jack oft scherzhaft als Gedankenlesen bezeichnete. Denn Julies Interpretationen waren meistens sehr genau.
Julie spürte Widerwillen, Angst und Verzweiflung, aber auch Hoffnung. John wollte diesen Auftrag nicht ausführen, jemand zwang ihn dazu. In Bezug auf diesen Jemand fand Julie eine seltsame Kombination: Vorherrschend war nicht etwa Hass, sondern Mitleid, Verantwortung, Schuld. John hasste das, was dieser von ihm verlangte, nicht die Person selbst. Und doch hatte er Angst, Angst um sein Leben. Gleichzeitig suchte er verzweifelt nach einem Ausweg.
In all diesem Chaos tauchte noch ein anderes Muster auf, das Julie schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war. Es war damals jedes Mal erschienen, wenn John mit Jack sprach, ihn ansah oder auch nur an ihn dachte. Und es war auch jetzt sehr intensiv. Das alles hatte offensichtlich mehr als nur ein wenig mit Jack zu tun.
Die ganze Analyse hatte nur Sekundenbruchteile gedauert. Julie wollte nun unbedingt wissen, wie das alles zusammenhing. Und sie würde damit beginnen, dass sie John mal ein bisschen aus dem Konzept brachte.
Sie legte den Kopf schräg und lächelte John an. "Und das sagst du mir, nachdem wir eine Nacht zusammen verbracht haben?" Dabei zog sie einen Schmollmund und klimperte mit den Wimpern. Was dazu führte, dass seine Eismaske augenblicklich zerbrach.
John öffnete den Mund, aber er brachte kein Wort hervor. Er starrte sie nur an. Julie lachte. Oh ja, er war nicht der einzige, der dieses Spiel spielen konnte.
Jetzt zog John ein Gesicht, als wolle er gleich in Tränen ausbrechen. Dass Julie ihn offensichtlich nicht ernst nahm, rüttelte ernsthaft an seinem Selbstbild. Aber gleichzeitig spürte sie seltsamerweise, dass er erleichtert war über ihre Reaktion.
Moment mal - Julie wurde schlagartig wieder ernst. Zur Ausbildung eines Time-Agents gehörte auch der Schutz gegen geistige Sondagen. Aber sie hatte seine Gefühle die ganze Zeit lesen können. Er setzte die Schilde absichtlich nicht ein.
Am liebsten hätte sie sich vor die Stirn geschlagen. In ihrer Begeisterung über die Abwechslung, die Johns Erscheinen mit sich brachte, hatte sie tatsächlich vergessen, dass er ganz bestimmt nicht unvorbereitet hier aufgetaucht war. Wie konnte sie nur so unvorsichtig sein? Und wie weit gingen seine Kenntnisse?
Julie sah ihn forschend an. John erwiderte den Blick mit unbewegtem Gesicht, er hatte bemerkt, dass ihre Stimmung schon wieder umgeschlagen war.
„Was weißt du sonst noch?" fragte sie. John probierte ein Lächeln, ließ es aber sofort wieder, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. Dass er genau wusste, worüber sie sprach, bestärkte ihren Verdacht noch.
„Na ja", sagte er langsam, „wie du dir denken kannst, habe ich ein wenig recherchiert, bevor ich hierher gekommen bin." Julie nickte. John fuhr fort: „Dabei habe ich herausgefunden, dass du wesentlich langlebiger bist als normale Menschen. Und dass du auch Verletzungen überlebst, die eigentlich tödlich sein müssten."
Julie wurde abwechselnd heiß und kalt. Das war wesentlich schlimmer, als sie erwartet hatte. Wie lange beobachtete er sie schon? Und wieso hatte sie nichts davon bemerkt? Wortlos starrte sie John an. Dieser fasste es als Aufforderung auf weiter zu reden. "Da ich nun weiß, dass ich dich nicht töten kann, stecke ich ziemlich in der Klemme."
Er zuckte mit einem schiefen Grinsen die Schultern. Das sollte wohl ausdrücken, dass er sich nicht viel darum scherte, aber Julie spürte die Angst dahinter. Sie sah John weiterhin wortlos an. Nach einem Moment wandte er verlegen den Blick ab.
"Warum benutzt du nicht einfach deinen Vortex-Manipulator und verschwindest? Was hat er gegen dich in der Hand?" John schaute sie wieder an.
„Ich war zu vertrauensselig." Julies Gesicht musste ihre Skepsis wohl deutlich gezeigt haben, denn John setzte wieder dieses schiefe Grinsen auf. „Er hat mir einen Sender verpasst, der ihm jederzeit meine Position übermittelt, durch Raum und Zeit." Er fasste sich kurz an die rechte Seite in Höhe der Taille. „Ich kann keinen Schritt machen, ohne dass er weiß, wo ich bin. Und gleichzeitig ist es eine nette kleine Bombe. Stark genug, um mich in Stücke zu reißen. Er braucht nur ein Signal zu senden und - BOOM!" John unterstrich seine Worte durch eine ausholende, sehr bildliche Geste. „Das Ding ist auf meine DNS programmiert, so dass ich es nicht einmal entfernen kann."
„Das scheint dir ja ziemlich oft zu passieren", meinte Julie ironisch. John sah sie verständnislos an, deshalb schickte sie noch eine Erklärung hinterher: „Na, die Sache mit den angeblichen Streubomben in Cardiff, wo dir die Dame noch aus dem Jenseits solch einen netten Gruß geschickt hatte. Was hat dir denn diesmal den Verstand so vernebelt, Sex oder einfach nur Gier?" John sah sie beleidigt an, antwortete aber nicht.
Er fühlte sich tatsächlich missverstanden. Etwas anderes hatte ihn diesmal angetrieben, auch wenn er es wahrscheinlich nicht einmal selbst hätte definieren können. In seinem Kopf wirbelte alles wild durcheinander. Julie fiel es schwer, in dem ganzen Chaos einen Sinn zu erkennen. Zu ihrem Erstaunen meinte sie Fürsorge, Verantwortung, sogar Zuneigung zu lesen. Darüber lag das Muster des Unbekannten - und immer wieder erschien Jacks Muster. Aber sie konnte die Gefühle den Personen nicht zuordnen, zu stark war alles miteinander vermischt.
„Dann töte ihn", sagte sie. „Warum hast du das nicht schon längst getan?" John sah sie wortlos an. Jetzt lag all das, was sie bisher nur gespürt hatte, in seinem Blick: Schuldgefühl, Fürsorge, Schmerz, Liebe, Angst – und Hoffnung. Zum ersten Mal hatte Julie den Eindruck, dass ihr der Mensch John Hart gegenüber saß, nicht die Figur, die er immer spielte.
Sie griff nach seiner rechten Hand, die auf dem Tisch lag. John senkte den Blick auf die aufeinander liegenden Hände, als sei er erstaunt über ihre Geste. Dann sah er wieder Julie an. "Können wir woanders hingehen? Wo wir ungestört sind?" Demonstrativ sah er über seine Schulter und wies mit einer Kopfbewegung auf ein paar Mönche, die in ihrer Nähe saßen.
Julie zögerte. Plötzlich war das Misstrauen wieder da. Warum wollte er mit ihr allein sein? Niemand würde sie hier belauschen. Keiner der einfachen Mönche sprach Englisch oder verstand es auch nur.
Aber was sollte schon passieren? Schließlich war sie unsterblich. Natürlich gab es Schlimmeres, als immer wieder zu sterben. Aber John konnte ihr ja nicht wirklich etwas anhaben. Was es auch wäre, sie würde es überstehen und irgendwann die Möglichkeit zur Flucht finden. Julie nahm an, dass er das auch wusste – und, dass sie ihm das nicht verzeihen würde.
Und sie wollte ja herausbekommen, worum es hier überhaupt ging. Er spielte ihr nicht nur etwas vor, sondern es schien, als brauche er sie – wofür auch immer. Also musste sie ihm wohl bis zu einem gewissen Grad nachgeben.
John hatte sie aufmerksam beobachtet, während sie ihren Gedanken nachhing. Julie schaute ihn prüfend an. Er lächelte. Es sollte sie wohl von seiner Harmlosigkeit überzeugen. Natürlich führte er etwas im Schilde. Julie fühlte es deutlich, er hätte genauso gut ein Plakat vor sich hertragen können. Sie hätte beinahe laut gelacht, konnte sich gerade noch zurückhalten.
Was war nur mit ihr los? So ein Verhalten passte eher zu Jack. War sie wirklich schon so gelangweilt von der Ruhe hier oben, dass sie sich mit Begeisterung auf ein Spiel auf Leben und Tod einließ – auch wenn es höchstens für John tödlich enden konnte?
Sie beantwortete sich ihre Frage auch gleich selbst: Ja! Jede Ablenkung war ihr recht, auch wenn Langeweile nicht der wahre Grund dafür war.
Sie stand so abrupt auf, dass John zusammenzuckte. Jetzt lachte sie wirklich. Seine übliche, an Arroganz grenzende Selbstsicherheit war ja schon seit gestern verschwunden. Aber irgendetwas ließ ihn sich im Moment ziemlich verunsichert fühlen. Und es schien mit ihr zusammen zu hängen. Mit einer Geste forderte sie ihn auf, ihr zu folgen, dann ging sie durch den Saal in Richtung Ausgang.

***

Julie führte John durch die dämmrigen Gänge des Klosters. Zuerst begegneten ihnen noch vereinzelt Mönche, aber bald gelangten sie in einen Teil, der schon lange verlassen war. Das Kloster war seit Jahrzehnten zu groß für die schrumpfende Zahl an Mönchen. Ganze Flügel hatte man dem Verfall preisgegeben. Hier würde sie niemand stören.
In einem kleinen Innenhof blieb Julie stehen und drehte sich zu John um. Sie sah noch, wie er einen Knopf an seinem Vortex-Manipulator drückte, dann durchzuckte Schmerz wie ein Messerstich ihren Schädel. Stöhnend schloss sie die Augen und fasste sich an die Schläfe. Blitze tanzten hinter ihren Augenlidern.
Julie musste auch nicht hinsehen, um zu wissen, was geschehen war. John hatte einen Riss geöffnet. Sie spürte ihn ganz deutlich, hinter sich.
Blinzelnd versuchte sie zu erkennen, wo sich John befand. Verdammt, seit Owen damals den Rissmanipulator aktiviert hatte, wurden die Schmerzen bei künstlich geöffneten Rissen jedes Mal stärker. Bei den „natürlichen" Rissen in Cardiff hatte sie nie solche Probleme.
Wie hatte er sie nur so hinters Licht führen können? Sie wusste doch, dass John nicht zu trauen war. Er hatte es tatsächlich geschafft, seine wahren Absichten vor ihr zu verbergen. Sie hätte sich nicht so vollständig darauf verlassen dürfen, dass ihre Empathie sie schon warnen würde. Denn auch jetzt spürte sie bei John keinen Hass, keine Aggression. Nur Verzweiflung und - Hoffnung?
Sie versuchte zu sprechen. "Was ...", mehr bekam sie nicht heraus. John packte sie, drehte sie herum und stieß sie vor sich her. Julie konnte immer noch fast nichts sehen und stolperte hilflos. John verhinderte einen Sturz, indem er seine Arme um sie schlang. Julie versuchte, ihn abzuschütteln und rief um Hilfe, aber er fasste nur noch fester zu, drückte ihre Arme gegen den Körper, so dass sie sich kaum noch bewegen konnte.
John zischte ihr zu: "Gib dir keine Mühe, hier hört dich niemand." Als ob sie das nicht selber wüsste. John schob sie auf den Riss zu und trat mit ihr zusammen hinein.
Dann wurde alles schwarz.

(Teil 2 - Rochade mit zwei Unbekannten)