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Weggefährten
Station 5 - 200.000 a.d.
Er erwachte mit einem so
tiefen Atemzug, als habe er eine Ewigkeit die Luft angehalten. Es
klang wie ein Schrei. Einige Momente war er noch wie benebelt,
alles drehte sich vor seinen Augen. Als die Welt aufgehört hatte
Karussell zu fahren, sah er sich staunend um. Er war allein und es
war still - totenstill. Moment mal, da war doch etwas gewesen?
Er sah an sich herab, seine Hände tasteten über seine Brust. Die
Erinnerung kam zurück, an die Daleks; seine Versuche, sie
aufzuhalten, um Rose und dem Doctor noch etwas Zeit zu
verschaffen; wie der Dalek auf ihn geschossen hatte. Aber da
war kein Blut, keine Wunde. Verwirrt tastete er über seine Brust.
Er konnte doch die verbrannte Stelle sehen, wo seine Kleidung
durch die Dalekwaffe in ihre Atome aufgelöst worden war. Und
noch etwas war anders. Er hielt inne und lauschte. Aber nicht auf
Geräusche, es war etwas in ihm selbst. Wie sollte er es
beschreiben? Wie ein ganz leises, sehr hohes Geräusch, kurz vor
der Hörgrenze? Wie eine straff gespannte Gitarrenseite, die
ständig in seinem Kopf vibrierte? Oder doch mehr wie
Zahnschmerzen - oder eher wie eine Ahnung davon? Er konnte es
nicht einordnen, er wusste nur, es war lästig und
unangenehm. Jack schüttelte den Kopf, als könne er das Gefühl
so loswerden. Was natürlich nicht funktionierte. Also beschloss
er, es einfach zu ignorieren. Entschlossen stemmte er sich
hoch, einen Moment schwankte er noch, aber dann stand er wieder
fest auf den Beinen.
Cardiff - 2.
Hälfte 19. Jh. a.d.
Sie hatte sich eingerichtet
in diesem Leben. Im Gaukler- und Zirkusmilieu fühlte sie sich
sicher, hier fiel sie nicht auf. Im Gegenteil - ihr exotisches
Aussehen und ihre Fähigkeiten waren hier sogar sehr nützlich.
Sie sicherten ihr ein gutes Einkommen, und dass sie meistens
früher als alle anderen spürte, dass der Arm des Gesetzes es mal
wieder auf die Schausteller abgesehen hatte, bescherte ihr Respekt
in dieser abgeschlossenen Gesellschaft. So wurden ihre Eigenarten
und seltsamen Angewohnheiten toleriert oder einfach hingenommen.
Sie war zufrieden, soweit sie das sein konnte. Denn immer noch
fühlte sie sich, als würde ihr ein Teil ihres Körpers fehlen.
Das Band war immer da, sie konnte spüren, wohin es führte, aber
das andere Ende blieb unerreichbar. Doch eines Tages wurde
alles anders. Julie erwachte und hatte das Gefühl, sie könne
plötzlich wieder klar sehen, nach einer Ewigkeit wie durch einen
Schleier. Sie fühlte sich auch wacher, stärker, als habe man ein
schweres Gewicht von ihren Körper entfernt. Erstaunt horchte sie
in sich hinein. Das Band hatte sich verändert, nun war da ein
Ziel, hier in Cardiff! Wie von einem Magneten angezogen machte
sich Julie auf den Weg, das so lange fehlende Ende zu finden. Ihn
zu finden war nicht schwer, das Band führte sie direkt zu ihm.
Als sie ihn sah, lächelte sie in ihrem Versteck. Es hätte
schlimmer kommen können, wesentlich schlimmer. Denn was sie sah,
gefiel ihr ausnehmend gut: der Mann war groß und gutaussehend -
breite Schultern, schmale Hüften, lange Beine, muskulös, mit
dunklen Haaren und grauen Augen. Und er strahlte eine jugendliche
Unbekümmertheit aus, die sie erstaunte. Denn sie schätzte ihn
auf mindestens Mitte 30. Allerdings schien er, wie sie, nicht
in diese Zeit zu gehören. Er verhielt sich manchmal sehr
ungewöhnlich für diese Epoche. Außerdem war das Band bis vor
kurzem sehr stark gedehnt gewesen, was auf eine große Entfernung
hindeutete - räumlich oder zeitlich. Und während ihrer
Beobachtungen kam sie zu der Überzeugung, dass er wohl zeitlich
sehr weit entfernt gewesen war. Julie folgte ihm unauffällig,
wann immer sie die Zeit dazu fand. In ihrer Aufmachung mit der
Schiebermütze, unter der sie ihre langen Haare versteckte, und
den abgetragenen Männerkleidern war sie so gut wie unsichtbar.
Und wenn nicht, konnte sie immer noch auf ihre Fähigkeit
zurückgreifen, den Menschen zu suggerieren, sie sei eigentlich
gar nicht da. Es wunderte sie bei ihrer Observierung schon,
dass er anscheinend nicht auf ihre Gegenwart reagierte. Sie hatte
angenommen, dass er - genau wie sie - sich immer bewusst war, wo
der andere sich gerade befand. Sie konnte jedenfalls immer spüren,
in welcher Richtung und in welcher Entfernung er sich aufhielt. So
war es leicht für sie, ihn zu finden. Doch er ließ nicht
erkennen, dass er sie ebenso wahrnahm.
Am zweiten Tag erfuhr sie
schon seinen Namen, Jack Harkness. Es war bei einer der
Prügeleien, in die er offenbar ständig geriet, wie sie im Laufe
ihrer Beobachtungen feststellen musste. Er schlug sich mit
kleinen Gaunereien und seinem Charme durchs Leben, aber seine
Großmäuligkeit brachte ihn oft in Schwierigkeiten. Was ihn aber
überhaupt nicht zu kümmern schien. Mit Erstaunen beobachtete
Julie, dass Verletzungen, egal wie schwer sie auch waren, in
Windeseile heilten ohne Spuren zu hinterlassen. Sogar einen Schuss
mitten ins Herz überstand er schadlos, wie Julie feststellte. Ihr
blieb fast das Herz stehen, als sie es zum ersten Mal beobachtete.
Entsetzt dachte sie, das war's jetzt wohl. Jack ging zu Boden und
blieb reglos liegen. Überrascht musste Julie feststellen, dass
die Verbindung zwischen ihnen aber immer noch bestand. Einige
Augenblicke lag Jack so da, dann erwachte er ruckartig wieder zum
Leben. Julie atmete auf. In den nächsten Wochen wurde er noch
mehrmals erstochen, erschlagen und erschossen. Aber er änderte
sein Verhalten nicht ein bisschen. Stattdessen erwähnte er
ständig einen Doktor, den er suche. Anscheinend ein verflossener
Liebhaber, so wie er über ihn sprach. Julie war hin- und
hergerissen. Sollte sie Kontakt mit ihm aufnehmen? Oder doch
lieber nicht? Seine Lebensweise schreckte sie ab. Immer hatte sie
sich bemüht, bloß nicht aufzufallen. Er tat genau das Gegenteil.
Aber sie konnte nicht leugnen, dass er selbst sie faszinierte.
Schließlich kam sie zu einer
Entscheidung. Bei seinem nächsten "Erwachen" wartete
sie neben ihm.
***
Als er auf der Erde ankam,
bemerkte er gleich, dass er nicht in der Zeit gelandet war, die er
programmiert hatte. Die Menschen trugen altertümliche Kleidung
und redeten auch anders. Und die Luft war so schlecht, dass er
fast keine Luft bekam. Direkt nach der Ankunft bekam er einen
Hustenanfall, der gar nicht wieder aufhören wollte. Dann hatte
die erstaunliche Regenerationsfähigkeit, über die sein Körper
nun verfügte, seine Lunge auch daran angepasst. Sich an den
Dreck und den damit verbundenen Gestank zu gewöhnen, dauerte
länger. Das Fehlen einer Kanalisation und die Folgen der
Industrialisierung ergaben eine Brechreiz erregende Mischung. Die
ganze Stadt stank einfach erbärmlich, nach Fäkalien, Abgasen und
Krankheit. Sofort machte er sich daran, heraus zu finden, wo
und vor allem wann er sich befand. In dieser Epoche der irdischen
Geschichte war er noch nie gewesen, aber die Time-Agency hatte ihn
auch auf so etwas vorbereitet. Also stahl er sich passende
Kleidung und informierte sich schnell über die wichtigsten
aktuellen und vergangenen Ereignisse. Seinen Akzent und die andere
Ausdrucksweise erklärte er damit, dass er Amerikaner war. Alles
andere war einfach. Schließlich hatte er darin mehr als genug
Erfahrung. Und noch etwas war anders: Dieses Gefühl, dass er
seit seiner "Auferstehung" auf Station 5 nicht loswurde,
hatte sich mit seiner Ankunft verändert. Und wieder konnte er es
nicht beschreiben. Am nächsten kam noch der Vergleich mit einem
straff gespannten Gummi, das, nun losgelassen, in eine Art
Ruhezustand zurückkehrte. Wie schon vorher verdrängte er es
erfolgreich in den hintersten Winkel seines Bewusstseins und
kümmerte sich nicht weiter darum. Aber nach einiger Zeit
konnte er es nicht mehr ignorieren, es ließ sich nicht mehr
verdrängen. Es wand sich wie etwas Lebendiges, wurde stärker und
schwächer in unregelmäßigen Abständen. Jack war beunruhigt und
irritiert, was allmählich hinderlich bei seiner Arbeit wurde. Er
war nicht mehr so konzentriert wie er es hätte sein müssen, um
bei seinen kleinen Betrügereien und krummen Geschäften nicht
aufzufallen. Jack steckte mehr Prügel ein als für ihn normal
war. Schließlich wurde er sogar erschossen. Gottseidank waren die
Ganoven schon fort, als er wieder zu sich kam. Aber das Gefühl
war nun besonders stark geworden. Es war, als stehe jemand neben
ihm, den er nicht sehen konnte. Verdammt, so konnte er nicht
arbeiten, dachte Jack verärgert. Aber wieder gelang es ihm, wenn
auch mit einiger Mühe, es ganz in den hintersten Winkel seines
Bewusstseins zu schieben. Doch es war immer da. Allmählich
wurde er ungeduldig. Den Doctor konnte er nicht finden, niemand
wusste hier anscheinend etwas über ihn. Und das Geld wurde knapp.
Nur mit Mühe konnte er noch das Zimmerchen bezahlen, dass er
gemietet hatte. Und dass er sich ständig neue Kleidung besorgen
musste, weil sie durch die häufigen "Zwischenfälle"
blutbesudelt oder zerrissen wurde, strapazierte sein Budget
zusätzlich. Er würde sich bald etwas anderes einfallen lassen
müssen. Dann wurde ihm diese Entscheidung auf eine sehr
erstaunliche Weise abgenommen.
Als er nach einem seiner Tode
erwachte, war das Gefühl wieder sehr stark. Der Ausgangspunkt
musste ganz in der Nähe liegen. Dann bemerkte er einen jungen
Burschen in ärmlicher Kleidung, auf dem Kopf eine Schiebermütze,
der betont lässig an der Hauswand ihm gegenüber lehnte. Das
Gefühl "zeigte" genau auf ihn. Der Junge war recht
groß, dabei auffallend feingliedrig, fast mädchenhaft, das
Gesicht mit den hohen Wangenknochen und spitzem Kinn wirkte
unbestimmt asiatisch. Als Jack ihn genauer betrachtete, fielen ihm
die Augen auf. Mandelförmige Augen von einer Farbe, die er noch
nie gesehen hatte. Wie Bernstein, dachte er fasziniert. Als der
Bursche seinen Blick bemerkte, lächelte er und tippte mit den
Fingern an seine Mütze. Schlagartig wurde Jack klar, dass er da
keineswegs einen halbwüchsigen Jungen vor sich hatte, sondern
eine junge Frau. Jack rappelte sich stöhnend auf und schaute
an sich herunter. Wieder ein Hemd unbrauchbar. Es hatte einen
großen Blutfleck unterhalb der Rippen, wo ihn das Messer
getroffen hatte. Das Messer, dachte er alarmiert. Es hätte noch
in seinem Leib stecken müssen! Suchend sah er sich um, dann
bemerkte er ein Blitzen von Metall. Die Frau drehte ein Messer in
der Hand - das Messer, das eigentlich in seinem Bauch stecken
sollte. Sie lächelte ihn an. "Ich hab' mal den Piekser
rausgezogen", sagte sie in breitem Gassenjargon. "Muss
doch wehtun, sowas." Jack sah sie nachdenklich an. "Was
meinst du damit", fragte er misstrauisch. Die Frau stieß
sich von der Wand ab und kam näher. "Na, so oft abzukratzen
und dann wieder aufzuwachen", entgegnete sie und grinste ihn
an. Jack schwieg verblüfft. Gedanken jagten ihm durch den
Kopf. Hatte sie ihn verfolgt? Was wollte sie von ihm? Dann fielen
die einzelnen Teile des Puzzles an ihren Platz. "Du folgst
mir seit einiger Zeit, nicht wahr? Und du warst das auch, die ich
gespürt habe, als die beiden Ganoven mich erschossen?! Die ich
seit einiger Zeit spüre, wo ich auch bin?" Sie nickte.
"Richtig. Und ich spüre dich auch die ganze Zeit." Der
Slang war verschwunden, sie sprach zwar noch mit Akzent, aber
sonst normales Englisch. Doch das war es nicht, was Jack stutzen
ließ. "Das gleiche Gefühl? Aber wieso?" fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Ich weiß
nur, dass ich in dem einen Moment noch zuhause war - dann wachte
ich hier auf. Seither spüre ich dieses Band. Bisher führte es
nirgendwo hin, aber seit du hier angekommen bist, zeigt es direkt
auf dich." Sie sah ihn direkt an und hielt seinen Blick fest.
Er konnte sich kaum losreißen, so intensiv war ihr Blick. Als
wenn sie in seine Seele blicken wolle, dachte Jack. Er blinzelte
und unterbrach so die Verbindung. "Du behauptest also, es
bestehe ein - wie nennst du es - ein Band zwischen uns?"
fragte er misstrauisch. "Genau", antwortete sie.
"Irgendetwas muss damals passiert sein, dass uns beide
betraf, uns verbunden hat." Jetzt war überhaupt kein Akzent
mehr zu hören, sie sprach nun lupenreines Englisch, bemerkte Jack
irritiert. Aber er war immer noch nicht überzeugt. Zu fantastisch
klang das alles.
***
Sie spürte ganz deutlich,
dass sie ihn immer noch nicht überzeugt hatte. Ziemlich ratlos
erwog sie die verschiedenen Alternativen. Womit konnte sie ihn
überzeugen? Mit Reden kam sie hier nicht weiter, das war ihr
klar. Dann schaute sie nach unten. Sie hielt noch immer das Messer
in der Hand. Julie holte tief Luft und versuchte, ihren jagenden
Herzschlag zu beruhigen. Dann hob sie das Messer und schnitt sich
die Kehle durch.
***
Als er zögerte, hob sie auf
einmal das Messer. Er sprang auf sie zu, aber sie hatte es sich
schon über den Hals gezogen. Jack fing sie auf, als sie umkippte.
"Oh, nein, nein, nein!" Zuerst flüsterte er, doch jedes
Nein sagte er lauter. Er sank auf die Knie, mit der Frau in den
Armen, und versuchte verzweifelt, die Blutung zu stillen. Eine
klaffende Wunde zog sich durch ihre Kehle, blutiger Schaum quoll
daraus hervor. Sie röchelte noch kurz, dann wurde sie ihr Körper
schlaff. Er riss sich einen Fetzen aus seinem Hemd - das war
ja sowieso hinüber, dachte er zusammenhanglos - und drückte ihn
auf ihren Hals. Sie atmete nicht mehr. Panik stieg in ihm hoch.
Das fehlte ihm noch. Jetzt brachten sich die Frauen schon
seinetwegen um! Planlos wischte er mit dem Tuch über die Wunde.
Da bemerkte er, dass gar kein Blut mehr floss. Irritiert starrte
er auf ihre Kehle, wo eigentlich die Wunde sein sollte. Aber das
war nichts, nur etwas Blut, das er noch nicht weggewischt hatte.
Sein Denken machte einfach Pause, er schaute nur abwechselnd
auf ihren Hals und das blutige Tuch, das er in der Hand hielt.
Erst langsam drangen Worte in sein Bewusstsein. Er drehte
verständnislos den Kopf und sah in zwei bernsteinfarbene
Katzenaugen. "Jack, alles in Ordnung, du kannst mich jetzt
loslassen", sagte sie lächelnd. Das Tuch fiel ihm aus der
Hand, er sprang auf und machte einen Satz zurück. Sie schlug hart
auf den Boden, was ihr einen Schmerzenslaut entlockte. Mühsam
rappelte sie sich auf und rieb sich stöhnend den Hinterkopf. Sie
sah ihn vorwurfsvoll an. "Das hat wehgetan!" meinte
sie wehleidig. Dann lächelte sie schon wieder. "Tut mir
leid, wenn ich dich erschreckt habe. Ich erwache eben nicht so
melodramatisch wieder zum Leben wie du." Jack stand immer
noch da und starrte sie mit offenem Mund an. Also hatte der der
Vorfall auf Station 5 noch jemanden verändert. Und das nicht auf
der Station, sondern rund 200.000 Jahre früher in der
Vergangenheit. Wie war das möglich? Was war da passiert? „Wir
sollten reden", brachte er schließlich heraus. „Aber nicht
hier." Sie nickte. „Ja. Und du solltest dich auch
umkleiden." Vielsagend blickte sie auf sein zerfetztes und
blutbesudeltes Hemd. Jack schaute an sich herunter, das hatte er
ganz vergessen. Er zog den Mantel über dem Hemd zusammen und
schloss ihn. „Gut. Ich habe ein Zimmer in der Nähe. Gehen wir
dorthin, da sind wir ungestört." Sie nickte wieder, dann
streckte sie ihm die Hand hin. "Nenn' mich Julie, Julie
Conroy." Er schaute auf die Hand, die sie ihm hinstreckte
und nahm sie. Förmlich schüttelten sie sich die Hände. Sie
verbeugte sich etwas. "Sehr erfreut, Captain Jack
Harkness", sagte sie. "Es würde mich übrigens sehr
interessieren zu erfahren, woher der Rang stammt." Auf einmal
klang sie wie eine Dame aus der Upperclass, etwas näselnd - und
ganz bestimmt so herablassend. Jack musste lachen. Zu groß war
die Diskrepanz zwischen der ärmlichen Kleidung und dem Tonfall.
Sie lächelte als Erwiderung ebenfalls. Dann sagte er: „Also
los." Sie gingen, Jack voraus.
***
Sie folgte ihm in das Haus
und dann bis ganz nach oben unter das Dach, wo er ein Zimmer
gemietet hatte. Klein und billig, vermutete sie. Und so war es
auch. Ein schmales Bett, ein kleiner Tisch mit einem wackligen
Stuhl davor, das war die ganze Einrichtung. Licht fiel durch eine
kleine Dachluke. Das ganze Zimmer machte den Eindruck, als habe
Jack nicht vor, lange zu bleiben. Gut so, dachte Julie. Wusste er
etwa, wie er wieder in seine Zeit gelangen konnte? Sie hoffte es
jedenfalls. Und sie hoffte, dass sie ihn dazu bringen konnte, sie
mitzunehmen. Jack bot ihr den Stuhl an, er selbst setzte sich
auf das Bett ihr gegenüber. Das Zimmer war so klein, dass ihre
Knie sich fast berührten. Julie setzte sich und nahm mit einem
Seufzer die Mütze ab. Darunter kamen lange schwarze Haare zum
Vorschein, zu einem Zopf geflochten, den sie sich um den Kopf
gelegt hatte, damit er unter der Mütze nicht zu sehen war. Sie
registrierte, dass Jack alles genau beobachtete. „Keine
Angst, ich habe keine Läuse", sagte sie ironisch. Jack
schaute sie verblüfft an, ging aber nicht darauf ein. Stattdessen
meinte er: „Du bist also auch nicht von hier, vermute ich mal.
Was weißt du denn über diesen ‚Unfall’, der anscheinend uns
beiden zugestoßen ist?" Julie kamen auf einmal ihr doch
Zweifel, wie weit sie diesem Mann trauen konnte. Seine
Ausstrahlung zeigte zwar keine Hinweise auf Verschlagenheit, aber
es war zu spüren, dass er nicht vollkommen offen ihr gegenüber
war. Wieso sollte er auch? Sie kannten sich ja eigentlich erst
seit etwa einer Stunde. Vielleicht sollte sie etwas vorsichtiger
sein. Aber dann zuckte sie mit den Schultern. Was nutzte ihr alle
Vorsicht, sie musste sein Vertrauen gewinnen. Sie brauchte seine
Hilfe, wenn sie nicht bis in alle Ewigkeit hier festsitzen wollte.
Also fing sie an zu erzählen. Wie sie in Anfang des 17. Jh.s
in einem Wald nahe Cardiff aufgewacht war, ohne Erinnerung. Wie
sie von Dörflern aufgegriffen wurde, als sie durch die Gegend
irrte. Wie der Priester des Dorfes sie aufgenommen hatte und ihr
Lesen und Schreiben beibrachte. Wie immer mehr Fragmente ihrer
Erinnerungen in ihrem Geist erschienen. Wie sie bald bemerkte,
dass sie bei den Dörflern immer eine Fremde bleiben würde und
sich schließlich dem fahrenden Volk anschloss. "Ich muss
eine Art Wissenschaftlerin gewesen sein. Alles andere sind nur
sehr verschwommene Eindrücke und Bruchstücke. Auch mein Wissen
deutet darauf hin. Es tauchen immer wieder Kenntnisse in meinem
Kopf auf, die nicht aus dieser Epoche stammen können." Dass
sie damals nur aus Energie bestanden hatte, außerhalb von Raum
und Zeit, erzählte sie Jack lieber nicht. Vielleicht später
einmal. Oder vielleicht besser niemals … Menschen reagierten bei
so etwas meist sehr irrational, wie sie schon schmerzhaft hatte
feststellen müssen. Sie blickte Jack an und prüfte
gleichzeitig unauffällig seine Empfindungen. Auch so eine
Fähigkeit, die sie anscheinend aus ihrer früheren Existenz
herübergerettet hatte. Sie konnte die Gefühle der Menschen
lesen, so gut, dass es fast als Gedankenlesen durchging.
Jedenfalls wiesen seine Emotionen darauf hin, dass er zwar
immer noch Zweifel hatte, aber ihren Bericht auch nicht als die
Hirngespinste einer Irren abtat. Julie riss sich aus ihren
Gedanken, zuckte mit den Schultern und erzählte weiter. Wie
sie allmählich entdeckte, dass sie über einige ungewöhnliche
Fähigkeiten verfügte, durch die sie immer wieder in
Schwierigkeiten geriet, bis sie gelernt hatte, sie zu
kontrollieren und zu verbergen. Dass zu ihren Fähigkeiten auch
die gehörte, das Rift und seine Aktivitäten zu spüren. Wie sie
durch ihre Nachforschungen und Beobachtungen zu der Überzeugung
kam, dass das Rift etwas mit der ganzen Sache zu tun habe. Von
ihrer Theorie, dass es zwar nicht die Ursache für das alles war,
aber dafür verantwortlich, dass sie hier und in welcher Zeit sie
gelandet war. Und dass sie in der Nähe blieb und wartete, denn
das Rift würde irgendwann die Antwort auf all diese Fragen geben.
***
Als die Frau – er sollte
wohl allmählich anfangen, sie Julie zu nennen – erzählte,
traute er seinen Ohren nicht. Über 250 Jahre wollte sie schon auf
der Erde sein, unsterblich genau wie er. Natürlich, die kleine
„Demonstration" mit der durchschnittenen Kehle bewies, dass
sie kein gewöhnlicher Mensch war. Einen Taschenspielertrick
konnte er ausschließen, die klaffende Wunde war zu tief gewesen,
um vorgetäuscht zu sein. Und ihre Schilderungen der vergangenen
Jahrhunderte klangen glaubwürdig. Aber wie konnte das sein? Für
ihn waren gerade einmal ein paar Monate seit dem „Vorfall"
vergangen. Sollte das Ereignis sie etwa in der Zeit
zurückgeschleudert haben? Und warum waren gerade sie beide
dadurch verbunden worden? Dann sprach sie von Cardiff, seiner
besonderen Lage und dem Rift. Ihre Beschreibungen der auch ihm
bekannten Phänomene und Auswirkungen des Rifts zeugten mit jedem
Wort von Kenntnissen, die weit über dieses Jahrhundert
hinausreichten. Sie benutzte Begriffe, die in dieser Epoche so
nicht existierten, weil die Phänomene noch gar nicht bekannt
waren. Sie schien also tatsächlich aus einer anderen Zeit zu
stammen. Apropos ihre Sprache: Es war kurios, ihr zuzuhören.
Sie sprach zwar überwiegend Englisch, aber immer wieder mischten
sich Begriffe oder sogar ganze Sätze darunter, die er nicht
verstand. Walisisch, vermutete er. Ab und zu fiel sie auch in
diesen Gossenslang, und sogar eine Art Latein meinte Jack zu
erkennen. Ein paar Mal musste er sie unterbrechen, damit sie es
auf Englisch noch einmal wiederholte. Sie schaute ihn dann ganz
verdutzt an, ihr war das offensichtlich gar nicht bewusst. Während
sie erzählte, beobachtete er sie. Sie berichtete ruhig, aber
manchmal verklang ihre Stimme einfach. Ihr Blick schweifte ab,
ging für Momente ins Leere, als sei sie plötzlich ganz woanders.
Dann sie fing sich wieder und erzählte weiter. Schließlich
beendete sie ihren Bericht und sah ihn auffordernd an. Er zögerte.
Natürlich wartete sie jetzt darauf, dass er seine Geschichte
erzählte. Noch einmal kamen ihm Zweifel. Konnte er ihr wirklich
trauen? Aber was sollte sie mit diesem Wissen anfangen? Und in
ihren Augen sah er Hoffnung darauf, dass er das Rätsel aufklären
könne. Er wusste jetzt schon, dass er sie enttäuschen musste. Er
wusste ja genau so wenig wie Julie, was mit ihnen geschehen war.
Aber er konnte ihr Hoffnung auf etwas anderes geben – dass der
Doctor ihnen helfen würde. Er begann zu erzählen. Wie er in
der Raumstation aufwachte nach dem Kampf gegen die Daleks, als er
eigentlich tot sein sollte. Wie er feststellte, dass nicht nur er
wieder auferstanden war, sondern alle auf der Station, die getötet
worden waren. Wie er erkannte, dass nur er unsterblich geworden
war. Wie er es schaffte, auf die Erde – die Erde des 2.
Jahrhunderttausends – zu gelangen. Jack sah sie an.
Nachdenklich erwiderte sie seinen Blick. Seiner Erzählung der
Ereignisse auf Station 5 hatte sie völlig ruhig zugehört. Als ob
Raumstationen und Zeitsprünge nichts Besonderes für sie
seien. Jack lächelte, als er weiter sprach. Darüber, wie er
vom Jahr 200.000 mit Hilfe seines Vortexmanipulators hierher ins
19. Jh. gelangte, wenn auch nicht ganz freiwillig. „Ich
wollte eigentlich ins 20. oder 21. Jh.", sagte er, „aber
erstens funktioniert das Gerät anscheinend nicht mehr so genau,
wie es sollte, und zweitens vermute ich, dass auch bei mir das
Rift dazwischengefunkt hat." Doch mit ihrer Reaktion, als
er den Vortexmanipulator erwähnte, hatte er nicht gerechnet. Ihr
Gesicht zeigte einen Ausdruck völliger Verblüffung. „Die
Time-Agency", rief sie aus, „Du bist ein Zeitagent?"
Das verschlug ihm nun die Sprache. Seine Gedanken rasten.
Woher kannte sie die Time-Agency, die doch immer so stolz darauf
gewesen war, dass niemand Außenstehender von ihrer Existenz
wusste? Es sei denn, sie gehörte selbst dazu – oder hatte mit
ihr zu tun gehabt. Julie sah ihn scharf an, sie wartete
offensichtlich auf eine Antwort. Und ihr Gesichtsausdruck sagte,
dass sie von der Agency nicht besonders viel hielt. Also war es
wahrscheinlich, dass sie schon mit ihr zu tun gehabt hatte. Und
die Agency bzw. ihre Leute hatten offensichtlich keinen positiven
Eindruck hinterlassen. Endlich fand er die Sprache wieder.
„Nein", sagte er gedehnt, um sich noch etwas mehr Zeit zu
verschaffen. „Ich habe früher für sie gearbeitet. Danach habe
ich mich selbstständig gemacht – sozusagen …" „Und
den Manipulator haben sie dir großzügigerweise überlassen?!"
meinte sie sarkastisch. Jetzt war Jack wieder auf gewohntem
Terrain. Grinsend meinte er: „Natürlich nicht. Ich habe ihn
sozusagen als Anerkennung geleisteter Dienste einbehalten."
Daraufhin musste Julie lachen. Auch Jack musste grinsen, so
ansteckend war dieses Lachen. Doch sie hörte gar nicht mehr auf.
Langsam wurde ihm etwas unbehaglich.
***
Sie konnte gar nicht mehr
aufhören zu lachen. Dieser letzte Satz war so typisch für den
Mann, der ihr da gegenübersaß, wie sie ja aus eigener
Beobachtung wusste. Immer, wenn sie sich halbwegs beruhigt hatte,
musste sie wieder an diesen einen Satz denken und an Jacks
Gesichtsausdruck dabei. Und dann fing sie erneut an zu lachen. Er
schaute schon ganz beunruhigt, weil sie einfach nicht aufhörte.
Schließlich schaffte sie es doch noch, sich wieder in den Griff
zu bekommen. Sie holte erst einmal tief Atem, dann erklärte
sie ihm, was sie so erheitert hatte. „Du warst also bei der
Time-Agency. Und als dir klar wurde, dass du wesentlich mehr
verdienen konntest, wenn du auf eigene Rechnung arbeitest, hast du
dich abgesetzt. Ohne auch nur ‚Auf Wiedersehen’ zu sagen. Und
den so nützlichen Zeitmanipulator hast du natürlich vergessen
zurückzugeben." Sie grinste ihn an, er grinste spitzbübisch
zurück. Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, sonst wäre
sie schon wieder in Lachen ausgebrochen. Sie bedeckte Ihr Gesicht
mit den Händen und holte ein paar Mal tief Luft. Als sie die
Hände wieder sinken ließ, bemerkte sie Jacks forschenden Blick.
„Woher kennst du denn die Time-Agency?" fragte er.
Julie antwortete nicht sofort. Dann sagte sie: „Ich hatte
schon mit ihr zu tun." Ihr entging nicht, dass Jack genau
wusste, dass sie auswich. „In deinem ‚früheren Leben’?"
hakte er nach. Sie nickte, dann wechselte sie schnell das
Thema. „Irgendetwas ist also zwischen deinem Tod und deiner
Auferstehung geschehen. Weißt du vielleicht, was?" Jack
schüttelte den Kopf. „Nein, keine Ahnung. Deshalb bin ich ja
hierher gekommen, um Antworten zu finden." Sie sah ihn
hoffnungsvoll an. "Und was ist mit deinem Vortexmanipulator?
Kann er uns wenigstens in eine Zeit bringen, wo wir bessere
Chancen haben, Antworten zu finden?" Wieder schüttelte er
den Kopf. "Meinst du, ich hätte es nicht versucht? Das Gerät
ist bei meinem Sprung hierher ausgebrannt." Julie war
zutiefst enttäuscht. Sie hatte sich so viel von dieser Begegnung
erhofft. Tränen stiegen ihr in die Augen. Um das zu verbergen,
senkte sie den Kopf. Seine Gefühle verrieten, dass er die
Wahrheit sagte. Sie saßen hier fest für wer weiß wie viele
Jahre, wenn nicht sogar für immer.
***
Ihre Enttäuschung über
seine Antwort war fast körperlich zu spüren. Julie ließ den
Kopf hängen, sie sackte förmlich in sich zusammen. Aber Jack
hatte noch gesehen, dass es in ihren Augen verdächtig glänzte.
Das hatte er doch gerade vermeiden wollen. Er hatte es noch nie
mit ansehen können, wenn Frauen weinten, dachte er. Jack legte
seine Hand auf ihre, die sie wie stützend auf ihren Oberschenkel
gelegt hatte, genau wie die andere. Sie zog sie nicht weg, sondern
drehte ihre so, dass sie seine fassen konnte. Sie blickte ihn an.
Die Tränen waren verschwunden, aber er sah tiefe Verzweiflung in
ihren Augen. "So viele Jahre. Und ich hoffe immer noch,
wieder nach Hause zu gelangen", sagte sie leise. Es klang,
als rede sie eigentlich nur mit sich selbst. Jack öffnete den
Mund, um ihr vom Doctor zu erzählen, da entzog sie ihm ihre Hand
und stand auf einmal auf. "Ich muss jetzt gehen", sagte
sie und wandte sich zur Tür. Er stand ebenfalls auf und hielt
sie am Arm fest. "Hey, hey", sagte er. "Wo
willst du denn auf einmal hin?" Sie drehte sich zu ihm um.
Sie senkte den Kopf. "Ich bin müde", sagte sie. "Ich
muss mich ausruhen." Sie entzog ihm ihren Arm, setzte ihre
Mütze wieder auf und ging. Jack ließ sie gehen. Er wollte
erst über das nachdenken, was sie ihm erzählt hatte.
Am nächsten Morgen hatte er
eine Entscheidung getroffen. Also machte er sich auf die Suche
nach ihr. Es war nicht so einfach, sie zu finden, wie er gedacht
hatte. Er konnte zwar eine grobe Richtung spüren, aber sie
bewegte sich ebenfalls. Und da er diese Fähigkeit zum ersten Mal
nutzte, irrte er mehr durch Cardiff, als dass er ihrer Spur
konsequent folgte. Nach etlichen Stunden, es war schon Mittag,
führte ihn seine Expedition auf ein freies Gelände am Rande von
Cardiff. Hier lebten Zigeuner und fahrendes Volk, die ihn
misstrauisch beobachteten, als er durch das Lager ging. Er sah nur
Zelte, elende Bretterhütten und bunt bemalte Wagen, in denen
ganze Familien lebten. Die Kinder liefen ihm bald hinterher. Hier
war er der Fremde, der auffiel. Dann fand er Julie. Erst
erkannte er sie nicht, denn sie sprach mit einem der anderen
Schausteller und drehte ihm den Rücken zu. Außerdem trug sie nun
einen äußerst farbenfrohen Mantel, unter dem ein langer Rock
hervorschaute, und um den Kopf gewickelt ein buntes Tuch, wie
einen Turban. Aber darunter baumelte der schwarze Zopf, den sie
gestern um den Kopf gewunden hatte. Daran hätte er sie auch
erkannt, wenn das Gefühl ihn nicht direkt zu ihr geführt hätte.
Als er näher kam, sagte sie, ohne sich umzudrehen: "Hallo
Jack!" Ihr Gesprächspartner sah ihn misstrauisch an. Doch
auf ein Zeichen von Julie ging er davon. Sie drehte sich nun zu
Jack um und sah ihn an.
***
Sie war nicht überrascht,
als er am nächsten Tag vor ihr stand. Warum auch? Sie war zwar
gestern zutiefst enttäuscht fort gegangen, aber nach etwas Ruhe
zum Überlegen hatte alles schon ganz anders ausgesehen. Julie
hatte noch in der Nacht die Zeitlinien überprüft. Auch so eine
Fähigkeit, die sich aus ihrem vorigen Leben erhalten hatte. Nur
war es für sie nun anstrengend und kompliziert geworden, so eine
Überprüfung durchzuführen. Zu stark verzweigten sich die Linien
schon nach kurzer Zeit mit jeder Entscheidung, die zu treffen war.
Es blieb nur, aus einer fast unendlichen Anzahl von Möglichkeiten
die wahrscheinlichste Ereigniskette heraus zu filtern. Ohne
verlässliche Kenntnisse über die Person, deren Zeitlinie sie
folgte, wäre so eine Überprüfung zwecklos gewesen. Sie
verfluchte wieder einmal diesen menschlichen Körper, dieses Hirn
mit seinem linearen Zeitempfinden, das sie so einschränkte. Aber
sie wollte ja nur wissen, wie wahrscheinlich es war, dass Jack
diese Zeit bald verlassen würde. Und ob sich ihre Wege hier
trennten. Dazu musste sie nur ihre eigene Linie für die nächste
Zukunft prüfen. Erleichtert stellte sie fest, dass Jack nicht
einfach so verschwinden würde. Sie würde ihn – wahrscheinlich
schon am nächsten Tag – wieder treffen. Also ging sie ihren
üblichen Beschäftigungen nach. Aber sie war sich jederzeit
bewusst, wo Jack sich aufhielt. Deshalb ging sie schon zeitig zum
Lager der Gaukler. Sollte er ruhig glauben, dass sie im
Schaustellerlager lebte.
Als er dort ankam, war sie
gerade in eine Diskussion mit Charles, dem Leiter der Truppe,
verwickelt. Er wollte sie unbedingt überreden, mit ihnen auf die
nächste Reise zu gehen. Charles hatte große Pläne. Er wollte
bis nach London mit seiner Truppe, mindestens drei Monate würden
sie unterwegs sein. Aber Julie wollte Cardiff nicht verlassen,
nicht jetzt. Doch Charles ließ nicht locker. So war sie ganz
froh, dass Jacks Eintreffen das Gespräch erst einmal
beendete. Jack wartete, bis Charles außer Hörweite war, dann
sagte er: „Ich möchte dir ein Angebot machen." Julie
lächelte ihm zu. „Lass’ uns in mein Zelt gehen, da sind wir
ungestört", sagte sie. Also gingen sie schweigend
nebeneinander durch das Lager bis zu einem buntbemalten Zelt. Die
Bilder darauf warben für eine „Madame Zara, Wahrsagerin und
Handleserin". Jack sah sie fragend an, sie lächelte
verschmitzt. „Ja, das bin ich", sagte sie nickend.
„Irgendwie muss ich ja mein Geld verdienen." Sie lachte
über seinen verblüfften Gesichtsausdruck. „Nun sei nicht so
überrascht – immer noch besser als deine Art, sich den
Lebensunterhalt zu sichern - vor allem nicht so gefährlich."
Jack verzog das Gesicht, die Bemerkung passte ihm wohl
nicht. Julie schob den Vorhang zur Seite, der den Eingang
verdeckte, und sie betraten das Zelt. Die Möblierung bestand aus
einem Tisch mitten in dem kleinen Raum, mit zwei Stühlen davor
und einem dahinter. Natürlich war auch eine Kristallkugel
vorhanden. Sie zündete eine Petroleumlampe auf dem Tisch an.
Julie setzte sich auf den einzelnen Stuhl, Jack auf einen der
anderen. Es dauerte etwas, bis Jack anfing zu sprechen. Julie
schwieg, ließ ihm Zeit. Dann sagte er: „Ich habe nachgedacht.
Wir sitzen beide fürs Erste hier fest. Also, warum tun wir uns
nicht zusammen?" Er sah sie an. Julie lächelte und nickte.
***
Also schlossen sie eine
Allianz. Und Jack erzählte ihr von seinem Plan, auf den Doctor zu
warten, er wisse ganz sicher eine Lösung für ihr Problem. Julie
fragte daraufhin verständnislos, was denn ein Doktor für sie tun
können, schließlich seien sie ja nicht krank. Jack lachte
laut los. Sie sah ihn erst erstaunt an, dann lächelte sie auf
einmal, stützte das Kinn in ihre Hände und wartete, bis er
aufhörte zu lachen. Ihr Gesichtsausdruck ließ ihn schnell wieder
ruhig werden. In dem Schein der Lampe sah sie aus wie eine Katze,
die gerade heimlich von der Sahne genascht hatte, schoss es Jack
durch den Kopf. Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen grinsend
an. „So, so, der Doctor also", sagte sie gedehnt und
lächelte. „Sind wir jetzt bei der Wahrsagenummer?"
fragte er ironisch. Sie lachte und ging auf sein Spiel ein. Ihre
Augen blitzten. "Soll ich ihnen aus der Hand lesen, Sir?
Ich kann Ihnen Ihre Zukunft verraten." Ohne seine Antwort
abzuwarten, griff sie nach seiner Hand, zog sie zu sich, drehte
die Handfläche nach oben und beugte sich darüber. Sie fuhr mit
einem Finger die Linien darin nach. „Mal sehen, mit was für
Leuten Sie sich herumtreiben, Sir. Mhhmm, erst die Agency, dann
noch ein Timelord. Nicht gerade die beste Gesellschaft für einen
feinen Herrn." Plötzlich war Jack gar nicht mehr nach
Spaßen zumute, ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er
versuchte, Julie seine Hand zu entziehen, aber sie hielt sie fest.
Sie sah ihn schräg von unten mit einem feinen Lächeln an. Dann
ließ sie seine Hand los. Jack sah sie stirnrunzelnd an. „Was
hast du gesagt? Timelord? Woher kennst du diesen Begriff?"
fragte er alarmiert. Sie lächelte noch immer. „Als du
gelacht hast, ist mir mein Fehler aufgefallen. Kein Arzt, kein
Doktor– DER Doctor. Und es gibt nur ein Wesen, das sich so
nennt. Jetzt wird mir auch einiges andere klar. Er hat etwas mit
dem Unfall zu tun, das ist gewiss. Das Herz der TARDIS besitzt
eine direkte Verbindung zum Time Vortex, es bezieht daraus seine
Energie. Und eine Entladung des Time Vortex wäre in der Lage, so
etwas, wie es uns zugestoßen ist, zu bewirken!" Jack war
sprachlos, er starrte Julie mit offenem Mund an. Das erste, was er
herausbrachte, als er sich wieder gefangen hatte, war: „Woher
weißt du das alles?" Sie zuckte mit den Schultern. „Keine
Ahnung. Diese Sachen sind einfach irgendwann da. Manchmal reicht
ein bestimmtes Wort und alles erscheint in meinem Kopf. Ich
vermute, das sind auch Überreste aus meinem ‚früheren
Leben’." Jack sah sie zweifelnd an. Sie lächelte schief
und hob entschuldigend die Hände. „Zumindest haben wir einen
Anhaltspunkt. Du hoffst also, der Doctor wird irgendwann hier
erscheinen?" Jack nickte. „Er ist schon einmal hier
gewesen, um die TARDIS aufzutanken – am Rift. Da habe ich ihn
getroffen. Er müsste also wieder hier auftauchen, dessen bin ich
mir sicher. Allerdings war das im 20. Jh., genauer im 2.
Weltkrieg. Und ich habe keine Ahnung, ob bzw. wann er vorher schon
mal hier war." Er blickte zu Julie, als erwarte er von
ihr eine Antwort. Doch sie schien völlig weggetreten. Ihre Augen
waren glasig, ihr leerer Gesichtsausdruck ließ ihn schaudern.
Ihre Lippen bewegten sich, aber er hörte nichts. Jack beugte sich
zu ihr herüber und schüttelte sie leicht an der Schulter. Ihr
Kopf pendelte hin und her, sie reagierte nicht. Aber er meinte
etwas von dem zu verstehen, das sie flüsterte: „viel ...
hundert … Torchwood …." Beunruhigt stand er auf und
trat neben Julie. Er packte sie mit beiden Händen bei den
Schultern und schüttelte sie energischer als vorher. Sie hob den
Kopf und schaute ihn an. Er konnte sehen, wie das Bewusstsein in
ihre Augen zurückkehrte. Erleichtert richtete er sich auf. Sie
strich sich mit der Hand über ihr Gesicht. Jack sah sie
stirnrunzelnd an. „Was war das denn?" fragte er
ironisch, um seinen Schrecken zu überspielen. „Gehörte das mit
zur Show?" Julie schaute noch etwas verwirrt, dann
schüttelte sie den Kopf. „Nein, Jack. Sieh’ mal, nicht alles
beruht darauf, den Leuten einfach etwas zu erzählen. Ich kann
tatsächlich so etwas wie die Zukunft sehen – natürlich nicht,
indem ich aus der Hand lese." Jack schaute sie ungläubig
an. „Du willst mir allen Ernstes erzählen, dass du wahrsagen
kannst?" Er schüttelte den Kopf. „Das kannst du den Leuten
hier vielleicht weismachen." Julie zuckte gleichgültig
mit den Schultern. „Glaub’s oder glaub’s nicht." Als
sie aufstand, schwankte sie ein wenig. Jack hielt sie fest.
„Langsam, langsam", sagte er. Sie lachte schon wieder,
hakte sich bei ihm ein und meinte: „Komm, lass’ uns etwas
essen. Ich habe einen Bärenhunger!" Jack lachte ebenfalls
erleichtert, und ließ sich aus dem Zelt ziehen.
***
Die Macht, mit der sie die
Vision überfiel, hatte sie erschreckt. Noch nie war es so
plötzlich über sie gekommen wie dieses Mal. Sie hatte einfach
keine "Visionen", sie war ja keine Hellseherin. Wenn sie
die Zeitlinien verfolgte, waren die Erkenntnisse rein
wissenschaftlich und nicht so verschwommen und bruchstückhaft wie
jetzt. Julie konnte sich nur mit Mühe Einzelheiten ins
Gedächtnis rufen. Sie hatte nie versucht, so weit in die Zukunft
zu schauen. Das war viel zu anstrengend und das Ergebnis viel zu
zweifelhaft. Und die Vision hatte sie weit voraus geschickt –
bis zur Ankunft des Doctors würde noch über ein Jahrhundert
vergehen, das hatte sie erkannt. Irgendwie hatte sie das
Gefühl, diese Vision sei kein Ergebnis ihrer eigenen Fähigkeit
gewesen, sondern von jemand anderem geschickt worden. Julie fielen
zwar ein paar Wesen ein, die auf dieser Welt dazu in der Lage
waren, sich aber äußerst selten zu solch einer Aktion hinreißen
ließen. Sie waren normalerweise sehr zurückhaltend in dieser
Hinsicht. Also, welchem Zweck sollte das dienen, fragte sie
sich ratlos. War sie überhaupt das Ziel oder jemand anderer? Sie
schaute den Mann an ihrer Seite kurz aus den Augenwinkeln an.
Sollte eines dieser Wesen ein Interesse daran haben, Jack zu
warnen? Aber aus welchem Grund? Denn sie hatte noch etwas
anderes gesehen: Bis zur Ankunft des Doctors kamen turbulente, ja
gefährliche Zeiten auf sie zu. Immer wieder war ein Name in all
den Jahrzehnten aufgetaucht: Torchwood. Julie konnte nichts damit
anfangen, sie kannte das Wort nur als Bezeichnung für einen
tropischen Baum. Sie schob die grüblerischen Gedanken
entschlossen zur Seite. Im Moment konnte sie sowieso nichts
machen. Und ihr Magen knurrte so laut, dass sie an nichts anderes
mehr denken konnte als sich so schnell wie möglich etwas zu essen
zu beschaffen. Dass Jack ihr nicht glaubte, konnte sie ihm nach
dieser „Vorstellung" nicht mal übel nehmen. Fast hätte
sie gelacht, als sie sich an sein Mienenspiel erinnerte, nachdem
sie wieder zu sich gekommen war. Ein leises Kichern konnte sie
auch nicht unterdrücken. Sie bemerkte Jacks Seitenblick. „Ach
nichts", sagte sie lächelnd. Sie führte Jack zu einer
Feuerstelle im Lager. Dort waren Tische und Bänke aufgestellt und
ein großer Kessel hing über dem Feuer, aus dem es verführerisch
duftete. Viele der Schausteller hatten sich hier versammelt, um
gemeinsam zu essen.
***
Julie wurde von den an der
Feuerstelle versammelten Leuten freundlich begrüßt, er
allerdings mit misstrauischen Blicken bedacht. Er fühlte sich
hier ziemlich unbehaglich, was er wie immer zu überspielen
suchte, indem er in die Offensive ging. Er verzog das Gesicht zu
einem breiten Lächeln und sagte laut: „Hallo alle zusammen,
mein Name ist Jack Harkness. Erfreut Sie kennen zu lernen."
Er löste sich von Julie und ging mit ausgestreckter Hand auf den
Mann zu, den er als Anführer ausgemacht hatte. Es war der Mann,
mit dem Julie gesprochen hatte, als er angekommen war. Jack
bemerkte nicht, dass Julie hinter ihm lächelnd, aber mit leicht
verzweifeltem Gesichtsausdruck den Kopf schüttelte. Etliche Leute
sahen sie irritiert an, aber sie gab ihnen mit Gesten zu
verstehen, nichts zu tun. Der Mann, den er für den Anführer
hielt, schüttelte ihm also die Hand und stellte sich ebenfalls
vor: „Charles McArthur, seien Sie gegrüßt." Er neigte
leicht den Kopf. Jack nickte ebenfalls und sagte: „Ich nehme an,
Sie sind der Chef dieser Truppe?" Ein Grinsen stahl sich in
McArthurs Gesicht, dann konnte er sich nicht mehr halten und
lachte laut. Auch die anderen Schausteller brachen in Gelächter
aus. Jack blickte verdutzt von einem zum anderen. Julie kam nun
heran und stellte sich neben Jack. Sie hielt schon eine Schüssel
mit Essen in der Hand. Auch sie lachte. „Ich will euch ja nicht
unterbrechen", sagte sie fröhlich, „aber ich muss da wohl
einiges aufklären." Sie nickte McArthur zu. „Charles mag
zwar so aussehen …" McArthur grinste schon wieder, „aber
er hat hier nicht das Sagen." Er zuckte mit einem
entschuldigenden Gesichtsausdruck die Schultern, dann lachte er
wieder. Auch einige der anderen Schausteller grinsten. Julie
drehte Jack etwas herum und zeigte auf die Frau, die an der
Feuerstelle das Essen austeilte. „Suzannah ist hier die Chefin."
Die Frau hob den Kopf, als sie ihren Namen hörte und nickte ihnen
lächelnd zu. Jetzt lachten die anderen ganz unverhohlen über
ihn. Also ging Jack wieder in die Offensive. Er ging zu der
Frau und verbeugte sich vor ihr. „Entschuldigen Sie meinen
Fehler, Madam. Ich hätte es sofort sehen müssen, bei Ihrer
Schönheit und Würde." Suzannah sah ihn an und lachte, aber
man konnte erkennen, dass sie geschmeichelt war. Jack lächelte
zufrieden. Situation gerettet. Bis er Julies Ellenbogen in der
Seite fühlte. Er warf ihr einen Blick zu. „Entschuldige,
Suzannah, er ist neu hier …", sagte sie ironisch zu der
Frau. Dann blickte sie ihn an: „Nun komm schon, Jack",
sagte sie zu ihm und wedelte mit dem Löffel, „du hast dich für
heute genug zum Narren gemacht. Außerdem will ich endlich essen,
mein Essen wird schon kalt." Sie schaute ihn schelmisch an,
ging zu einem der Tische und setzte sich. Jack wollte ihr folgen,
aber Suzannah drückte ihn erst noch eine Schüssel mit Eintopf
und einen Zinnlöffel in die Hand. „Lass’ es dir schmecken",
sagte sie lächelnd. Jack setzte sich gegenüber von Julie an den
Tisch und begann zu essen. Der Eintopf war köstlich, es war
sogar Fleisch darin. „Frag’ lieber nicht, woher das Fleisch
stammt", hörte er Julie sagen. Verblüfft schaute er sie an.
Sie grinste. „Daran hast du doch gerade gedacht, gib’ es zu."
Jack wurde flau, er schob die Schüssel von sich. Julie
lachte. „Nein, du kannst ruhig weiter essen. Es ist Kaninchen
– ist uns zugelaufen." Jack lachte, als ihm aufging, was
sie damit sagen wollte, und aß beruhigt weiter.
So führte Julie ihn in die
Welt der Schausteller ein. Durch ihre Fürsprache wurde Jack bald
akzeptiert und fand sogar Gefallen an diesem Leben. Es hatte
seinen eigenen Reiz und war in mancher Hinsicht leichter und
unkomplizierter als das in der "normalen" Cardiffer
Gesellschaft. Julie genoss bei den Schaustellern ein hohes
Ansehen, wie Jack allmählich erfuhr. Sie hielt sich zwar im
Hintergrund, aber ihr Wort hatte Gewicht und viele suchten ihren
Rat. Langsam dämmerte es Jack, dass sie nicht durch Zufall
als Wahrsagerin arbeitete. Ihre Voraussagen trafen häufiger ein,
als es hätte sein dürfen, wenn sie nur raten würde. Und sie
hatte eine Art sechsten Sinn in Bezug auf Gefahren. Waren mal
wieder die „Hüter des Gesetzes" im Anmarsch, warnte Julie
das ganze Lager schon, bevor die Polizisten es erreichten, so dass
diese nichts Verdächtiges fanden. Dann kam Jack wieder das
Erlebnis in ihrem Zelt in den Sinn, dass er so überzeugt als Show
abgetan hatte. Sollte sie tatsächlich in die Zukunft sehen
können? Aber nein, das konnte nicht sein, sagte er sich. Er
erklärte es sich mit ihrer Empathie. Julie half ihm auch, sich
in dieser Epoche besser zurechtzufinden. Sie meinte, er führe
sich manchmal auf wie ein Elefant im Porzellanladen, weil er die
Gepflogenheiten dieser Zeit doch nicht so gut kannte, wie er
geglaubt hatte. Spöttisch zog sie ihn damit auf, dass seine
Kenntnisse wohl für eine Stippvisite der Time-Agency reichten,
aber eben nicht, wenn er längere Zeit hier verbringen müsse. Aber
er wollte auf seine "Unternehmungen" nicht verzichten,
er musste ja schließlich von irgendwas leben. Dabei wurde Julie
ihm bald eine große Hilfe. Er merkte schnell, dass manches
leichter lief, wenn eine hübsche Frau anwesend war. Und sie half
ihm oft, grobe Schnitzer zu vermeiden. Außerdem "verdienten"
sie so wesentlich mehr. Allerdings lehnte es Julie kategorisch
ab, einen Anteil davon anzunehmen. Sie behauptete, sie sei auf das
Geld nicht angewiesen, er brauche es dringender. Aber über die
Geschenke, die er anfing ihr stattdessen zu machen, freute sie
sich. Jack entwickelte einen Ehrgeiz darin, besondere Objekte
für sie aufzuspüren. Zu seinem Erstaunen konnte er ihr mit
Schmuck keine Freude machen. Aber er bemerkte bald, dass sie eine
Schwäche für Kuriositäten aus fernen Ländern hatte. So etwas
zu finden stellte für ihn in der Hafenstadt Cardiff keine große
Schwierigkeit dar. Doch manchmal war Julie einfach
verschwunden, teilweise sogar für Tage. Jack wusste durch das
Band, dass sie sich nicht weit entfernte. Als er sie darauf
ansprach, sah sie ihn ganz erstaunt an. Es war ihr gar nicht in
den Sinn gekommen, dass er sich Sorgen machen könnte. Danach nahm
sie ihn einmal mit zu den Orten, die sie dann aufsuchte. Es waren
die Stellen, an denen sich Risse bildeten, ausgehend von dem Rift
unter Cardiff. Bald begleitet Jack sie häufiger auf diesen
Exkursionen. Julie gab die Hoffnung nicht auf, dass etwas, das
durch einen der Risse gelangte, ihnen helfen könne. Sie wollte
nicht einfach nur auf den Doctor warten. Ab und zu nahm sie eines
der Artefakte mit, die sie dort fand. Sie schien mit
schlafwandlerischer Sicherheit zu erkennen, welche das Aufsammeln
lohnten. Aber die meisten waren schon zerstört oder beschädigt.
Eben Abfall, wie ihn das Rift zuhauf hier ablud. Wenn Lebewesen
durch die Risse gelangten, zog Julie sich zurück. Viele
überlebten die ersten Minuten auf der Erde schon nicht, andere
starben in den nächsten Stunden. Nur wenige kamen mit den
Umweltbedingungen zurecht, und noch weniger konnten sich so
anpassen oder verbergen, dass sie längere Zeit überlebten. Mit
keinem dieser Wesen nahm sie Kontakt auf, obwohl Jack ihr das
immer wieder vorschlug.
Es bestand von Anfang an eine
Sympathie zwischen ihnen, die Jack nicht nur auf die ihn immer
noch etwas unheimliche Verbindung schieben konnte. Jack hätte
auch nichts dagegen gehabt, wenn daraus mehr geworden wäre.
Meistens war der Umgang mit ihr kameradschaftlich, sie arbeiteten
zusammen. Aber dann war da etwas, das Julie sagte, oder wie sie
ihn anblickte. Sie hatte, anders als in dieser Epoche üblich,
keine Scheu vor Kontakt, berührte ihn so oft, küsste ihn -
manchmal hatte er den Eindruck, sie flirte mit ihm. Aber dieser
Augenblick verging, und dann war er sich nicht mal mehr sicher, ob
es tatsächlich so gewesen war oder er sich das nur einbildete.
Wenn er auf ihre Küsse anders als freundschaftlich reagierte,
entzog sie sich ihm. Nicht abwehrend oder ängstlich, eher
bedauernd, wie es Jack schien. Aber er traute sich, ganz gegen
seine sonstige Natur, nicht, weiter zu gehen. Er war sich nicht
sicher, wie tief sie den Moralvorstellungen dieser Epoche
verhaftet war, und wollte ihre Partnerschaft nicht aufs Spiel
setzen. Es kam ihm fast wie ein Spiel vor – oder wie ein
Tanz. Manchmal machte es ihn fast rasend, aber er konnte seine
sexuellen Spannungen auch anderswo abreagieren. Gelegenheiten fand
er in Cardiff genug. So kreisten sie umeinander wie zwei
Planeten mit unterschiedlichen Umlaufbahnen, die aber durch die
Anziehungskraft aneinander gebunden waren. So beschrieb Jack es.
Julie lachte, als er es ihr erzählte. Ihr gefiel der Gedanke
anscheinend.
***
Sie hatte das Gefühl, zum
ersten Mal seit über 250 Jahren wieder vollständig zu sein –
beinahe jedenfalls. Es war nicht genau das, was sie immer noch so
schmerzlich vermisste, kam ihn aber schon recht nahe. Sie war
nicht mehr allein. Jack brachte sie zum Lachen, bei ihm musste
sie sich nicht verstellen. Zum ersten Mal machte es ihr nichts
mehr aus, hier auf der Erde festzusitzen. Ja, allmählich begann
es ihr sogar Spaß zu machen. Allerdings gab es einige
„Startschwierigkeiten". Julie war es nicht gewohnt, mit
jemandem zusammen zu arbeiten. Zu lange hatte sie sich nur auf
sich selbst verlassen können und sich auch nur um sich selbst
kümmern müssen. So kam es ihr gar nicht in den Sinn, dass er sie
suchen könnte, wenn sie mal wieder zu einem ihrer Streifzüge
aufbrach und niemand wusste, wo sie war. Als er sie darauf
ansprach, bekam sie auch prompt ein schlechtes Gewissen. Zum
Ausgleich nahm sie ihn beim nächsten Mal mit. Jack war
erstaunt, als er erfuhr, wohin ihre „Ausflüge" sie
führten. Er war noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass
das Rift ihnen irgendwie nützlich sein könnte. Aber dann war
auch er sehr daran interessiert. Vor allem, als ihm klar wurde,
dass sie einige der Geräte, die sie manchmal mitnahm, gut
gebrauchen konnten. Julie trug immer ein bis zwei mit sich herum,
die klein genug waren. Jack bezeichnete sie als
„Alien-Spielzeuge", merkte aber schnell, dass sie oft
nützlich waren – als Waffen oder Werkzeuge. Sie freute sich
jedes Mal, wenn er sie auf ihren Streifzügen begleitete, obwohl
es dabei auch Meinungsverschiedenheiten gab. Jack konnte nicht
verstehen, warum sie mit den Lebewesen, die manchmal durch die
Risse gelangten, nie Kontakt aufnahm. Sie sah nur die Gefahr, die
von diesen Wesen ausging. Er versprach sich davon Informationen,
die ihnen vielleicht helfen könnten. Aber auf ihre Frage, wie sie
sich denn mit ihnen verständigen sollten, wusste er auch keine
Antwort. Und er hatte Mitleid. Jack wollte die Gestrandeten
durch die Risse wieder zurückschicken. Etwas, dass ihr nie in den
Sinn gekommen war. Julie wusste, dass das nicht möglich war.
Niemand konnte sagen, wohin die Risse von der Erde aus führten –
an welchen Ort und in welche Zeit. Aber Jack gab sich damit nicht
zufrieden, so wie er immer unzufrieden war, wenn er nichts tun
konnte. Julie lächelte. Sie hatte schon lange den Verdacht,
dass Jack es einfach nicht ertragen konnte, nichts zu tun. Er
konnte einfach nicht abwarten. Das war ein Grund dafür, dass er
dauernd in Schwierigkeiten geriet. Deshalb hatte sie ja auch damit
begonnen, ihn bei seinen „Verabredungen" zu begleiten.
Hatte sie vorher immer ängstlich darauf geachtet, bloß nicht
aufzufallen, wurde sie jetzt mutiger. Sie ergänzten sich ideal:
Etwas von Jacks Unbekümmertheit färbte auf Julie ab, und sie
bremste ihn, wenn er mal wieder zu forsch vorpreschen wollte oder
seine große Klappe mit ihm durchging. Lange konnte sie ihm
sowieso nicht böse sein. Dazu genoss sie seine Gesellschaft viel
zu sehr. Längst war es keine bloße Zweckgemeinschaft mehr,
nicht für sie und nicht für Jack. Sie spürte den Reiz, den Jack
auf sie ausübte. Dass Jack ebenso empfand, bekam sie ja direkt
mit. Oft flirtete sie auch mit ihm oder gab ihm spontan einen
Kuss. Sie konnte sozusagen ihre Hände nicht von ihm lassen. Aber
sobald sie spürte, dass er darauf reagierte, zog ihr Verstand die
Notbremse. Niemals wieder würde sie jemandem die Chance bieten,
sie als sein Eigentum zu betrachten. In Bezug auf Jack fiel ihr
das allerdings immer schwerer. Und sie machte sich Sorgen. Er
gab seine kleinen "Unternehmungen" nicht auf, obwohl sie
ihn immer wieder darum bat. Denn sie konnte das Gefühl der Gefahr
aus ihrer Vision nicht aus ihrem Kopf verbannen. Doch er hörte
nicht auf ihre Warnungen.
***
Die Gaukler waren
verschwunden! Damit hatte er nicht gerechnet. Das Lager war
verlassen, nur die Feuerstellen und die hellen Flecke, wo Zelte
gestanden hatten, waren noch zu erkennen. Jack blieb fast das Herz
stehen. Hatte Julie Cardiff jetzt endgültig verlassen, einfach
so? Er wollte sich nach einer durchzechten Nacht mit ihr treffen,
ein bisschen angeben und mit ihr seinen neuesten Gewinn feiern.
Also war er wie gewohnt zu dem Schaustellerlager gegangen. Und
dann das! Er horchte in sich hinein, suchte nach dem Band. Er
hatte diesmal darauf verzichtet, ihm zu Julie zu folgen, wie er es
meistens machte, sondern war einfach davon ausgegangen, dass sie
zu dieser frühen Stunde hier sein musste. Die Verbindung zeigte
ihm an, dass sie Cardiff nicht verlassen hatte. Jack atmete auf.
Aber gleichzeitig fragte er sich, wo sie untergekommen war, jetzt,
wo das Lager fort war. Also folgte er dem Band. Sein „Kompass"
führte ihn in eine Gegend, in der er noch nie gewesen war, knapp
außerhalb der Stadtgrenze von Cardiff, schon inmitten von Feldern
und Gärten. Vor einem Haus aus rotem Ziegel blieb er stehen. Das
Gefühl sagte ihm, dass Julie sich darin befand, aber er verstand
es nicht. Dieser zweistöckige Bau sah aus wie der Sitz eines
vermögenden Bürgers. Wohnte hier vielleicht ihr Liebhaber?
schoss es Jack durch den Kopf. Lagen sie womöglich noch zusammen
im Bett? Er stellte fest, dass der Gedanke ihm einen Stich
versetzte. Und gleichzeitig ärgerte er sich über sich selbst. Du
bist doch wohl nicht eifersüchtig? fragte er sich selbst. Oder
war er wütend, weil sie es vor ihm geheim gehalten hatte? Jack
schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war er noch leicht benebelt
von den Unmengen Schwarzgebranntem, den er in der letzten Nacht in
sich hineingeschüttet hatte, redete er sich ein. Das war bei
manchen seiner „Geschäfte" einfach unumgänglich. Alkohol
machte ihm eigentlich nichts aus, seit er unsterblich geworden
war. Und dass er beinahe nüchtern blieb, während alle anderen
immer betrunkener wurden, war ein unschätzbarer Vorteil. Aber die
Leber brauchte einfach ihre Zeit, um die enorme Menge Alkohol zu
verarbeiten. Jack suchte sich ein trockenes Plätzchen, von
dem aus er den Hauseingang bequem im Auge behalten konnte, und
richtete sich auf eine längere Wartezeit ein. Bis die Bewohner
des Hauses erwachten, würde er auch wieder vollkommen nüchtern
sein. Aber so lange, wie er gedacht hatte, dauerte es gar
nicht. Es war gerade hell geworden, da trat Julie aus der Tür und
kam schnurstracks auf ihn zu. "Hallo, Jack", sagte
sie und lächelte. Sie stand in eine Decke gewickelt vor ihm,
darunter lugten eine dünne Hose und Pantoffeln hervor. Jack stand
auf. "Störe ich dich bei irgendetwas?" fragte er
provozierend. Aber sie reagierte nicht so wie er angenommen hatte.
ihr Lächeln wurde eher noch breiter. "Komm' doch herein",
sagte sie und machte eine Geste auf das Haus hin. Dann drehte sie
sich einfach um und ging darauf zu. Jack kam sich etwas blöd vor.
Wenn das das Haus ihres Liebhabers war, würde sie ihn dann so
einfach hereinbitten? Natürlich nicht. Er gab sich einen Ruck und
folgte ihr. Julie wartete an der Tür auf ihn. Als er zu ihr
aufschloss, stieß sie die Tür auf. "Willkommen in meinem
Heim", sagte sie theatralisch und grinste ihn an. Jack sah
sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie gab ihm einen kleinen
Stoß. "Los, rein mit dir!" Sie führte ihn durch das
Haus. Jack folgte ihr schweigend, doch sein Erstaunen wurde immer
größer. Ein altes Ehepaar kümmerte sich darum. Es bewohnte
die untere Etage, Julie die Zimmer im Obergeschoss, wie sie Jack
erklärte. Den alten Leuten hatte sie weisgemacht, dass sie
Händlerin sei und Antiquitäten und Exotica kaufte und verkaufte.
Das reichte ihnen auch als Begründung, warum Julie manchmal für
längere Zeit nicht auftauchte. Außerdem wohnte das Ehepaar dort
mietfrei und sie zahlte ihnen sogar eine Art Gehalt –
ungewöhnlich für diese Epoche. Deshalb stellten sie auch keine
Fragen. Und direkte Nachbarn gab es nicht. Einer der Räume war
vollgestopft mit Bücher und Unterlagen über alle möglichen
wissenschaftlichen Themen, von Astronomie bis Zoologie. Staunend
betrachtete Jack Karten und Bücher, die teilweise schon
Jahrhunderte alt waren. Dazwischen standen und lagen Fossilien,
Mineralien, aber auch Elfenbeinstatuetten aus Indien, wertvolles
Porzellan, sogar mittelalterliche Heiligenfiguren und manches
andere. Geschmeichelt entdeckte Jack auch die Objekte, die er ihr
geschenkt hatte. Ein anderer Raum diente als Salon, der dritte
war das Schlafzimmer. Dort trennte sich Julie auch endlich von
ihrer Decke und zog sich eine wattierte Jacke über ihren seidenen
Anzug. Dann ging die Führung weiter. Das vierte und größte
Zimmer war wie eine Mischung zwischen Labor und Werkstatt
eingerichtet. Jack identifizierte einige Gegenstände als
Messgeräte und andere Laborutensilien. Hier hatte sie auch die
Artefakte untergebracht, die sie auf ihren Streifzügen zu den
Rissen aufsammelte. Sie untersuchte sie, um hinter ihre Funktion
zu kommen. Jetzt schwieg Jack, weil es ihm die Sprache
verschlagen hatte. Schließlich kamen sie wieder in den Salon.
Dort stand nun ein Tablett mit einer Kanne Tee und zwei Tassen,
dazu Kuchen und Bisquits, sogar ein Schälchen mit süßem Rahm.
Jack spürte auf einmal wieder, dass er seit gestern Mittag nichts
mehr gegessen hatte. Sein Magen fing prompt laut an zu
knurren. Julie lächelte. "Iss' erst einmal etwas",
sagte sie und setzte sich. Auch Jack setzte sich hin. Sie goss Tee
ein und schob ihm den Teller mit dem Gebäck hin. Jack griff zu,
bestrich eines der Bisquits mit dem Rahm und biss mit Genuss
hinein. Fast hätte er gestöhnt. Das Gebäck war noch warm und
der Rahm köstlich süß. Julie lachte laut über seinen
verzückten Gesichtsausdruck. Immer noch lächelnd fragte sie:
"Und, welche Frage soll ich dir zuerst beantworten?"
Jack schluckte den Bissen hinunter, dann meinte er
vorwurfsvoll: "Wieso? Weil du mir die ganze Zeit weisgemacht
hast, du wärest eine von den Schaustellern? Heimatlos, arm wie
eine Kirchenmaus?" Julie besaß wenigstens den Anstand,
ein bisschen schuldbewusst auszusehen, dachte Jack ironisch.
Insgeheim war er ärgerlich auf sich selbst, weil sie es geschafft
hatte, ihn so an der Nase herumzuführen. Obwohl, das Essen war
einfach himmlisch ... "Die Bisquits und den Kuchen hat
Mrs. Elliot gebacken", riss ihn Julie aus seinen
Gedanken. Sie erklärte ihm, in den ganzen Jahren habe sie es
zu einem kleinen Vermögen gebracht - wie, sagte sie nicht. Und
Jack fragte auch nicht danach. Julie erzählte, dass sie das Haus
schon über hundert Jahre besäße. Offiziell hatte sie es von
ihrer Mutter geerbt und diese wiederum von ihrer Mutter. So war es
ihr möglich, das Haus zu halten, ohne Verdacht zu erregen.
Sie trafen sich nun oft in
Julies Haus. Jack wusste, dort wurde er immer fürstlich bewirtet
und fand auch Unterschlupf, wenn er mal wieder kurzzeitig
verschwinden musste. Außerdem war es hier wesentlich bequemer als
in seiner kleinen Kammer in Cardiff. Und die alte Mrs. Elliot
hatte anscheinend einen Narren an ihm gefressen, sie wuselte immer
wie eine Glucke um ihn herum, wenn er da war. Genauso wie um
Julie, die sie dann manchmal schon genervt wegschickte. Mrs.
Elliot guckte zwar meistens etwas befremdet, wenn sie sah, wie
Julie und er miteinander umgingen. Gleichzeitig versuchte sie aber
immer wieder, ihn mit Julie zu verkuppeln. Offenbar war sie der
festen Überzeugung, sie beide würden das ideale Paar abgeben,
dachte Jack lächelnd. Oft saßen sie mit Büchern in der
Bibliothek oder werkelten an einem neuen Artefakt, das Julie bei
ihren Streifzügen gefunden hatte. Jack war verblüfft, als ihm
klar wurde, dass sie fast jedes Gerät wieder instand setzen
konnte. Er bildete sich ja ein, ein gewisses Talent für Technik
zu besitzen. Bei Julie lief es anders ab. Oft lösten die
Gegenstände wieder einen Erinnerungsschub aus und sie wusste auf
einmal, um was es sich handelte und wie man sie benutzte. Jack
konnte darüber nur staunend den Kopf schütteln. Sie
brauchten beide wesentlich weniger Schlaf als normale Menschen –
auch eine Folge ihrer Unsterblichkeit, vermutete Julie. Sie
schliefen, wenn sie müde waren. Jack musste lächeln. Bei Julie
hieß das, dass sie manchmal einfach mitten in einer Tätigkeit
oder im Gespräch einschlief. Jack merkte es oft erst, wenn sie
nicht auf eine Frage antwortete. Blickte er dann zu ihr, saß sie
schlafend im Sessel oder den Kopf auf die auf dem Tisch liegenden
Arme gelegt. Manchmal erwachte sie, wenn er sie ansprach, manchmal
schlief sie aber auch so fest, dass er sie ins Bett brachte, wo
sie einfach weiterschlief. Er selbst schlief oft auf der Liege
im Salon, weil er sich nicht die Mühe machte, zu seinem Zimmer in
der Stadt zu gehen. Außerdem wurde er dann von Julie mit einem
Kuss geweckt und es gab ein fürstliches Frühstück von Mrs.
Elliot. Es war ein angenehmes Leben, er könnte sich fast daran
gewöhnen, dachte Jack. Allerdings viel zu langweilig für seinen
Geschmack - aber dafür hatte er ja seine Unternehmungen in
Cardiff.
Doch nach einiger Zeit wurde
er unruhig. Er fand keinerlei Hinweise auf den Doctor und die Zeit
verstrich. Er wurde immer ungeduldiger und waghalsiger, war bald
ständig in Schlägereien in den übelsten Vierteln Cardiffs
verwickelt, als könne er so einen Fortschritt, einen Hinweis,
einfach irgendetwas erzwingen. Julie Warnungen, ihre Bedenken,
dass er sie so in Gefahr brachte, schlug er in den Wind.
Schließlich waren sie unsterblich, was konnte schon passieren.
Ihre Einwände, dass er damit unerwünschte Aufmerksamkeit auf
sich zog und dass es Schlimmeres gab, als immer wieder zu sterben,
wischte er als Hirngespinste zur Seite. Allmählich hörte sie
auf, ihn zu begleiten. Und er ließ sich immer seltener bei ihr
sehen. Er trank nun oft unmäßig, als wolle er den Rausch mit
aller Macht erzwingen, den er doch nie erreichen konnte. Nie mehr.
Manchmal, wenn er wieder einmal erwachte, erkannte er, wie
unvernünftig er sich verhielt. Dann wurde ihm klar, dass er aus
reiner Verzweiflung handelte. Es war unerträglich für ihn,
einfach zu warten, hier festzusitzen, ohne zu wissen, wie lange
noch. Manchmal suchte er dann Julies Nähe, aber er spürte ganz
deutlich, dass sie nun Abstand von ihm hielt. Das und sein
schlechtes Gewissen machten ihn gereizt und aggressiv. Sie
versuchte noch ein paar Mal, mit ihm zu reden, ihn zur Einsicht zu
bringen. Aber das wollte er nicht hören. Dann stritten sie sich.
Also blieb er irgendwann ganz fern.
***
Als Jack herausfand, dass sie
gar nicht bei den Schaustellern lebte, sondern im Gegenteil ein
Haus und sogar Vermögen besaß, fürchtete Julie zuerst, er würde
ihr übel nehmen, dass sie das vor ihm verheimlicht hatte. Sie
hatte nach einigen durchwachten Nächten tief und fest geschlafen,
sonst hätte sie wie üblich bemerkt, dass Jack auf dem Weg zu ihr
war. Aber so konnte er sie hier überraschen. Doch er verlor
zu ihrem Erstaunen nach der ersten Verärgerung kein Wort mehr
darüber. Sie war verblüfft, das passte so gar nicht zu ihren
Erfahrungen mit anderen Menschen. Mehrmals überprüfte sie seine
Emotionen, aber er hegte tatsächlich keinen Groll deswegen. Sie
war froh darüber, aber sie grübelte auch, warum er sich in
dieser Hinsicht so von anderen Menschen unterschied. Natürlich
war er ein kleiner Gauner und Hasardeur. Anscheinend erwartete er
einfach, dass auch andere ihre kleinen Geheimnisse hatten, weil er
ebenfalls nie mit offenen Karten spielte. Julie musste lächeln.
Auch in einer anderen Sache reagierte er anders als sie erwartet
hatte. Jack betrachtete sie nicht als sein Eigentum, nur weil sie
Sex miteinander hatten. Das war es nämlich, was sie befürchtet
hatte. Doch seine Haltung ihr gegenüber veränderte sich
nicht. Als es dazu kam, dass sie miteinander schliefen, geschah
es eher zufällig. Sie war mal wieder völlig übermüdet vom
Schlaf überrascht worden. Jack brachte sie wie so oft ins Bett
und diesmal hielt sie ihn einfach fest und zog ihn zu sich. Er hat
sich auch nicht gerade gewehrt, dachte Julie ironisch. Sie
könnte sich damit herausreden, dass ihr Verstand ausnahmsweise
durch die Müdigkeit lahmgelegt gewesen wäre, aber das wäre nur
eine billige Entschuldigung gewesen. Vielmehr war sie wohl der
Grenzen, die sie sich selbst gesetzt hatte, überdrüssig
geworden. Für höchstens eine Nacht, nie in ihrem Haus, keine
Namen, keine Verpflichtungen - so hatte sie es bisher
gehalten. Vielleicht spielte auch die Beunruhigung, die sie
wegen ihrer Vision immer noch empfand, eine Rolle. Sie hatte das
Gefühl, ihn beschützen zu müssen, weil sie der festen
Überzeugung war, er sei in Gefahr. Sie beide seien in Gefahr. Und
dass der Begriff ‚Torchwood’ etwas damit zu tun hatte, von dem
sie immer noch versuchte herauszubekommen, was dahinter
steckte. Sie hatte zwar noch ein paar Mal versucht, ihn vom
Wahrheitsgehalt ihrer Vision zu überzeugen, aber er hörte gar
nicht zu. Er schien immer noch zu glauben, das wäre einer ihrer
Taschenspielertricks, die sie bei ihren Vorstellungen mit den
Gauklern benutzte, und sie wolle ihn damit nur auf den Arm
nehmen. Zu Julies Besorgnis trug auch bei, dass Jack sich nach
einiger Zeit zu verändern begann. Sie spürte, dass er sich
allmählich langweilte, es passierte für seinen Geschmack zu
wenig. Er riskierte immer mehr bei seiner Suche nach dem Doctor,
betrank sich, wurde streitsüchtig. Ihre Warnungen, dass er sich
und wahrscheinlich sie beide so unnötig in Gefahr brachte,
wischte er einfach beiseite. Schließlich seien sie unsterblich,
was könne schon passieren, war seine Standardentgegnung. Julies
Schaudern bemerkte er nicht. Erinnerungen an Flammen, Schreie und
unendliche Schmerzen schossen ihr durch den Kopf. Sie wusste, was
geschehen konnte. Es gab schlimmere Dinge als zu sterben. Die
Erinnerung daran schnürte ihr die Kehle zu, sie bekam keine Luft
mehr. All das bekam Jack nicht mit. Er entfernte sich immer
weiter von ihr. Natürlich spürte sie, dass er verzweifelt war.
Das Warten auf seinen Doctor dauerte ihm schon viel zu lange.
Julie wagte es nicht, ihm zu sagen, dass er noch wesentlich länger
auf ihn warten müsse. Wenn er sich nach wenigen Monaten schon so
aufführte, was würde erst geschehen, wenn er wüsste, dass es
noch über ein Jahrhundert dauern würde? Also zog sie sich
zurück, wie sie es immer getan hatte. Sie ging ihm irgendwann
regelrecht aus dem Weg, so schwer ihr das auch fiel. Über das
Band blieben sie ja verbunden. Julie konnte inzwischen nicht nur
spüren, wo er sich aufhielt, sondern auch, in welcher Verfassung
er war. Aber sie konnte sich davon nicht ablenken lassen. Also
schirmte sie sich ab. Das hatte sie in den zweieinhalb
Jahrhunderten gelernt. Sonst wären jederzeit die Emotionen der
Menschen auf sie eingeprasselt. Und das konnte niemand aushalten
ohne verrückt zu werden. Als Charles mit seiner Truppe von der
Tournee zurückkam, war sie regelrecht erleichtert über die
Ablenkung. Sie verbrachte wieder viel Zeit bei den Schaustellern,
ließ sich die Ereignisse in allen Einzelheiten erzählen. Charles
war nicht bis London gekommen, sie hatten nicht einmal Wales
verlassen. Aber er sprach immer noch mit leuchtenden Augen davon.
Bei nächsten Mal würden sie bis London ziehen, ganz bestimmt!
Manchmal gelang es ihr dabei sogar, für kurze Zeit ihre Sorgen zu
vergessen. Ein paar Mal ertappte sie sich bei dem Wunsch, doch mit
ihnen gegangen zu sein. Oder bald wieder einmal bei solch einer
Tour mitmachen zu können. Beinahe sehnsüchtig dachte sie an
vergangene Reisen zurück. Dann lachte sie sich selbst wieder
aus, weil sie diese Erlebnisse nun so verklärte. Das Leben bei
den Gauklern war noch nie ein Zuckerschlecken gewesen. Und so sehr
sie es sich wünschte, sie konnte Cardiff – und Jack –jetzt
nicht verlassen. Sie musste wachsam für sie beide sein. Aber
es war wie verhext. Sie fand nirgendwo eine Spur. Niemand in
Cardiff schien jemals etwas von diesem Torchwood gehört zu haben.
Doch etwas anderes begann sie zu beunruhigen.
Als sie mal wieder an einem
Ort ankam, wo sie Riftaktivität gespürt hatte, war ihr schon
jemand zuvor gekommen. Zwei Frauen standen neben einem Alien, das
am Boden lag. Julie ging hastig in Deckung. Von dort beobachtete
sie, wie eine der Frauen das Wesen mit der Schuhspitze anstieß.
Es bewegte sich nicht, nur der Kopf rollte haltlos zur Seite.
Offenbar war es tot. Das Wesen war humanoid, jedenfalls hatte es
zwei Arme und Beine. Sein Gesicht glich allerdings eher einer
verzerrten Kreuzung zwischen Bulldogge und Mensch. Es hatte eine
kurze, gedrungene Schnauze, in der ein gefährlich wirkendes
Gebiss zu sehen war, mit vier langen Reißzähnen, die wie die
Hauer eines Ebers vorstanden. Eine der Frauen sagte etwas zu
der anderen. Julie war zu weit entfernt, um zu es zu verstehen, so
sehr sie sich auch anstrengte. Dann drehten sich die Frauen um und
gingen davon, direkt auf sie zu. Julie machte sich unsichtbar.
Die größere und jüngere war dunkelhaarig und trug ein
Kostüm aus dunklem schwerem Stoff, strapazierfähig, aber edel.
Sie wirkte mit ihrem hochgesteckten Haar und dem kecken Hütchen
darauf wie eine Lady. Die andere war etwas kleiner, mit feinem
blondem Haar, das genauso aufwendig hochgesteckt war. Sie trug ein
ebenfalls teuer aussehendes Tweedkostüm, aber mit einer
Knickerbockerhose und kniehohen Stiefeln. Sie sah so aus, als
wolle sie gleich losreiten - fehlte nur noch die Gerte, dachte
Julie. Aber was machten diese beiden feinen Damen hier? Als sie
beide an ihrem Versteck vorbeigingen, konnte sie etwas von ihrer
Unterhaltung aufschnappen. "Guter Schuss", meinte die
Blonde anerkennend. "Danke", antwortete die Brünette.
"Es wird aber auch immer schlimmer mit diesem Ungeziefer."
Ihre Stimme war voller Verachtung. Julie bekam eine Gänsehaut.
Nachdem die beiden Frauen gegangen waren, näherte sich Julie
vorsichtig dem Wesen. Es war tatsächlich tot, das Einschussloch
in seiner Stirn war eindeutig. Julie beeilte sich, den beiden
Frauen zu folgen. Sie hatten es offenbar nicht eilig, sondern
schlenderten gelassen dahin. Aber dann stiegen sie in eine
Kutsche, die auf sie gewartet hatte. Julie konnte der Kutsche
nicht lange folgen und verlor sie aus den Augen. Sie begegnete
den beiden Frauen nicht noch einmal. Aber die Spuren, die sie
fand, deuteten darauf hin, dass sie oft vor ihr an neuen Rissen
waren. Manchmal stieß Julie nun auf erschossene Aliens, wenn sie
den Ort eines Risses erreichte, auf absichtlich zerstörte Geräte
oder sogar nur auf Anzeichen, dass etwas durch den Riss gekommen
war, aber nicht mehr vorhanden. Julie hatte auch kein Verlangen
danach, den Frauen zu begegnen. Sie hatte ihre Gefühle überprüft
bei ihrer Begegnung. Und was sie gespürt hatte, ließ ihr jetzt
noch erschauern. Da war nur kalte Verachtung und Misstrauen gegen
alles gewesen, was sich von „normalen" Menschen
unterschied. Also ging Julie ihnen aus dem Weg. Sie suchte auch
immer seltener die Rissstellen auf, blieb lieber in ihrem Labor
oder auf dem Jahrmarkt.
***
Eigentlich war es ja jedes
Mal so als würde er über Glasscherben gezogen, wenn er wieder
zum Leben erwachte, dachte Jack. Aber diesmal steckte die
abgebrochene Flasche, der er seinen letzten Tod zu verdanken
hatte, tatsächlich noch in seinem Bauch. Er holte tief Luft,
um sich gegen die Schmerzen zu wappnen, zog die Flasche aus der
Wunde und warf sie zur Seite. Verdammt, schon wieder ein Hemd
ruiniert, dachte er, als er den riesigen Blutfleck sah. Die Wunde
war sehr tief. Und es tat höllisch weh, obwohl die Heilung rasend
schnell voranschritt. Als er aufblickte, bemerkte er zwei
Frauen - die eine blond, die andere brünett, beide in feiner
Kleidung, die so gar nicht in dieses verrufene Viertel passte -,
die in einiger Entfernung standen und ihn mit unbewegten
Gesichtern beobachteten. Die Blonde trug sogar Hosen. Hosen? In
dieser Epoche? Plötzlich fingen sämtliche Alarmglocken in seinem
Kopf an zu schrillen. Erschrocken fragte er sich, wie lange die
beiden schon wohl da standen. Hatten sie vielleicht gesehen, wie
er gestorben war? Sein Erwachen hatten sie auf jeden Fall
miterlebt. Seine Angst überspielte er mit grobem, regelrecht
ordinärem Gehabe. „Körper aus Stahl, berührt ihn ruhig mal",
röhrte er. „Jemand interessiert?" Den Gossenslang hatte er
mittlerweile fast perfekt drauf. Die beiden Frauen reagierten
nicht. Jack stemmte sich stöhnend hoch, er hatte immer noch
Schmerzen. Das Schweigen machte ihn nervös, also redete er
einfach weiter, was ihm gerade durch den Kopf ging. Er fand, er
müsse eine Erklärung anbieten, die Frauen
ablenken. „Wirtshausschlägerei, ist ein bisschen außer
Kontrolle geraten." Er deutete mit einer lässigen
Handbewegung auf sein zerrissenes, blutiges Hemd. „Nur eine
Fleischwunde." Dann legte er den Arm über die Wunde und
beugte sich stöhnend vor. „Ich kann mich einfach nicht ... an
diesen Kater gewöhnen." Er blickte vorsichtig zu den beiden
Frauen, ob sie ihm seine Geschichte abkauften. Die beiden kamen
langsam und immer noch schweigend auf ihn zu. Die brünette mit
aufreizendem Hüftschwung, die Hände in die Hüften gestützt,
mit einem spöttischen Lächeln, die blonde zeigte keine Regung.
Jack wurde es heiß vor Angst. Die beiden wirkten erschreckend
bedrohlich, obwohl - oder gerade weil - sie noch kein Wort gesagt
hatten. Also plapperte er weiter, nur um die Stille zu
durchbrechen. „Captain Jack Harkness. Wie lange haben Sie da
schon gestanden? Sie sind wohl eher die schweigsamen Typen. Das
ist in Ordnung. Ich hatte mal ein Rendezvous mit einem Kerl ohne
Mund. Er war überraschend kreativ." Jack grinste breit. Er
merkte selbst, wie gekünstelt das Ganze rüberkam, aber er konnte
gar nicht anders als seine Rolle als Prolet weiterzuspielen. Nun
standen die beiden Frauen direkt vor ihm. Noch immer schweigend
schlug die Brünette Jack in den Bauch, genau auf die gerade
verheilte Wunde. Jack schlug reflexartig die Arme um den Leib und
knickte vor Schmerzen zusammen. In diesem Moment hieb sie ihm das
Knie brutal ins Gesicht. Sie traf Jack genau auf die Nase, ihm
wurde schwarz vor Augen und er kippte nach hinten. Kaum lag er am
Boden, sprang die blonde Frau auf ihn und setzte sich auf seine
Brust. Beide Knie befanden sich rechts und links neben seinem
Kopf. So und mit ihrem Gewicht nagelte sie ihn am Boden fest. Jack
schaute genau in ihren Schritt. "Also, Sie hätten bloß
fragen müssen. Sollen wir uns ein Zimmer nehmen?" Er grinste
anzüglich. Innerlich fragte er sich allerdings, welcher Teufel
ihn gerade ritt. Aber er konnte nicht aufhören damit. Und
wieder reagierte keine der Frauen, außer dass die Brünette
triumphierend lächelte. Dafür zog die Blonde ein Tuch heraus und
stopfte es ihm in den Mund. Jack versuchte noch, sich zu wehren,
aber mit der Frau auf seiner Brust hatte er keine Chance. Als sie
auch noch seine Nase bedeckte, bekam er keine Luft mehr, und alles
wurde schwarz.
Jack erwachte, als ihm ein
Schwall eiskalten Wassers ins Gesicht klatschte. Nach Luft
schnappend schüttelte er den Kopf wie ein nasser Hund. Das Wasser
rann ihm aus den Haaren über das Gesicht und den Hals hinunter in
das Hemd. Er wollte eine Hand heben, um sich das Wasser aus dem
Gesicht zu wischen, aber das gelang ihm nicht. Seine Hände waren
an den Stuhl gefesselt, auf dem er saß. Die beiden Frauen
standen vor ihm, die brünette hielt noch den Eimer in der Hand,
aus dem sie ihn mit Wasser begossen hatte. Die blonde stand an
einem Tisch, auf dem sich einige Geräte und Papiere befanden.
Beide beobachteten ihn aufmerksam, als sei er ein
Versuchsobjekt. Jack schaute sich um. Sie befanden sich in
einer Art Korridor, die unverputzten Ziegelwände an beiden Seiten
wurden in regelmäßigen Abständen von Gittertüren unterbrochen.
Es sah aus wie ein Gefängnistrakt. Er bemerkte, dass sein Mantel
verschwunden war, aber den Rest seiner Kleidung hatte er
wenigstens noch an. Dann wandte er sich wieder den beiden
Frauen zu. Er grinste, als er sich auf seine Rolle besann. „Als
ich davon gesprochen habe, sich ein Zimmer zu nehmen, dachte ich
eigentlich an eines mit einem Bett", sagte er ironisch. Als
Antwort traf ihn ein zweiter Schwall Wasser ins Gesicht. Jack
prustete und schüttelte sich, dass die Tropfen zu allen Seiten
flogen. Die blonde Frau kam auf ihn zu, sie hielt etwas in der
Hand, von dem Kabel zu einem der Geräte auf dem Tisch führten.
Vor ihm blieb sie stehen und riss mit einer Bewegung sein Hemd
auf. Dann legte sie zwei Metallscheiben auf seine Brust. An diesen
waren die Kabel befestigt, die Jack bemerkt hatte. Ihm dämmerte,
was nun kommen würde. Trotzdem konnte er den Mund nicht
halten. „Es gab eine Zeit, da bedeuteten Elektroden an den
Brustwarzen den Beginn einer tollen Nacht", sagte er
anzüglich. Die Frau sah ihn nur an, drehte sich um und ging
wieder zurück zu dem Tisch. Sie griff zu dem Gerät, an dem die
Kabel hingen. An der anderen Seite konnte Jack eine Kurbel
erkennen wie an einem Grammophon. Er spannte die Muskeln an, er
wusste, was gleich geschehen würde. Die Frau begann, die Kurbel
langsam zu drehen. Elektrizität schoss durch Jacks Körper,
weiß glühender Schmerz. Seine Muskeln verkrampften sich, sein
ganzer Körper zuckte unkontrolliert. Er schrie gellend, dann
verkrampften sich auch seine Kiefermuskeln. Jack spürte, wie er
sich die Zunge durchbiss. Blut schoss ihm in den Rachen und seine
Lungen, als er krampfhaft versuchte zu atmen. Dann wurde er
bewusstlos. Die Frau schaltete die Maschine aus. Ihr Gesicht
zeigte eine unzufriedene Miene. „Das war die volle Leistung
und er atmet immer noch." Jack kam wieder zu Bewusstsein.
Etwas Blut rann ihm noch aus den Mundwinkeln, aber seine Zunge
konnte er schon wieder gebrauchen. Als er die enttäuschten und
ratlosen Gesichter der Frauen sah, lachte er spöttisch. „Ein
interessantes Maschinchen haben Sie da. Ihr Ladies seid wohl eurer
Zeit voraus." Er schaute sich noch einmal demonstrativ um.
„Also, wo zur Hölle bin ich hier?" Wieder keine
Antwort. Redeten die beiden eigentlich nur miteinander, oder was
war hier los? dachte er frustriert. Die brünette Frau drehte sich
um. Als sie sich wieder Jack zuwandte, hielt sie einen
langläufigen Revolver in der rechten Hand. Sie richtete die Waffe
auf ihn. Erschrocken sagte er: „Legen Sie das weg, bevor
noch jemand ..." Ihr Schuss traf ihn mitten in die Brust und
wieder wurde alles schwarz. Nach ein paar Sekunden erwachte er
schon wieder, wie üblich mit dem tiefen Atemzug, der sich fast
wie ein Schrei anhörte. Die Brünette verdrehte genervt die
Augen. „Warum bist du immer noch nicht tot?" fragte sie
ihn. Meine Güte, sie spricht mit mir, dachte Jack sarkastisch.
Das war ja mal ein Fortschritt. Aber laut sagte er: „Das
versuche ich ja selbst herauszufinden." Wieder keine
Antwort, nur Blicke. Das wird allmählich zur Gewohnheit, dachte
Jack. Dann sagte die blonde Frau - sie schien hier der Chef zu
sein: "Wir haben dich beobachtet. Du wurdest in den letzten
sechs Monaten vierzehn Mal umgebracht." "Oh, es
fühlte sich an, als seien es mehr gewesen", antwortete Jack
bissig. Ihre nächsten Worte versetzten ihn in Panik. "Wer
ist der Doctor?" fragte sie unvermittelt. Fieberhaft
versuchte Jack seine Gedanken zu ordnen, die ihm planlos durch den
Kopf rasten. Er musste erst einmal Zeit zu gewinnen. "Keine
Ahnung", sagte er betont ahnungslos. Woher wussten sie vom
Doctor? Aber diese Frage wurde schnell beantwortet. Die
brünette Frau nahm einige Papiere von dem Tisch und las mit
abfälligem Tonfall daraus vor. "Der Doctor kann mich
heilen." "Wenn der Doctor auftaucht, wird er alles
wieder ins Reine bringen." „Warte bis ich den Doctor
treffe. Zuerst werde ich ihn küssen und dann bringe ich ihn um."
Das sind alles Zitate aus deinen Unterhaltungen mit Fremden, in
verschiedenen Kneipen, niedergeschrieben, seit wir auf dich
aufmerksam geworden sind." Jack wurde heiß und kalt.
Wieso war er nur so unvorsichtig gewesen? Sie beobachtet ihn schon
seit sechs Monaten! Was hatten sie noch gesehen? Wussten sie von
Julie, hatten sie sie auch observiert? War sie vielleicht schon in
einer dieser Zellen? Kurz überprüfte er das Band. Julie war eine
halbe Stadt entfernt, registrierte er aufatmend. Sie hatte sich
geraume Zeit nicht mehr gesehen. Hoffentlich kam sie nicht gerade
jetzt auf die Idee, ihn zu suchen. Um sich nichts anmerken zu
lassen, suchte er wieder Zuflucht bei seinen flapsigen Sprüchen.
"Wissen Sie, niemand mag Klugscheißer." Ein
vernichtender Blick der Blonden traf ihn, dann sagte die andere
Frau: "Sag’ uns, wer er ist, und wir lassen dich
gehen." Jack entspannte sich ein bisschen. Offenbar waren
sie nur an dem Doctor interessiert. "Warum wollen Sie das
wissen?" fragte er. Die blonde richtete sich auf und sagte
mit unverkennbarem Stolz in der Stimme: "Wir sind Torchwood
Cardiff." Jacks Augen weiteten sich erstaunt. Irgendwo in
seinem Kopf klingelte etwas. Wieso kam ihm der Begriff vertraut
vor? Er meinte, dieses Wort schon mal gehört zu haben. Und er
hatte das unbestimmte Gefühl von Gefahr. Aber er konnte den
Gedanken nicht festhalten. Die Frau sprach weiter: "Das
Torchwood-Institut ist gegründet worden, um solche Bedrohungen
wie den Doctor und andere Phantasmagorien zu bekämpfen." Jack
konnte nicht anders, er musste lachen. "Der Doctor ist doch
keine Bedrohung! Er ist derjenige, der euch vor diesen
Phantasmadingsbums beschützen wird." Er lachte wieder. Die
Blicke der beiden Frauen verfinsterten sich. Jack verging das
Lachen, als die Blonde ihre Hand demonstrativ auf die Kurbel des
kleinen Generators legte. Er musste schlucken. Ihre Stimme
klang drohend: "Sage uns einfach, wo er sich aufhält." Das
klang gar nicht gut, dachte Jack. Seine Muskeln verkrampften sich
schon allein bei der Drohung in ihrer so beiläufigen Geste. Da
war ihm Erschießen doch lieber als diese Stromstöße. Das
Sterben dauerte dabei einfach zu lange. Ein kurzer sauberer Schuss
war wesentlich weniger schmerzhaft. Hastig rief er: "Das
weiß ich nicht!" Er zerrte an den Fesseln an seinen
Handgelenken. Aber da war nichts zu machen, sie lockerten sich
nicht ein bisschen. "Er hat mich im Stich gelassen. Ich kam
hierher um ihn zu finden. Er tankt auf an dem Rift, das ihr hier
habt. Ich hoffte, wenn ich lange genug hierbliebe, würden wir uns
finden." Er spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. Auf den
Doctor, der an allem Schuld war. Auf seine eigene Hilflosigkeit.
"Also, kann ich jetzt gehen?!" Er bemerkte, dass das
ziemlich angrifflustig klang. Die brünette antwortete im
gleichen Tonfall: „Nein!" Das fachte die Wut in ihm
weiter an. Was sollte das Ganze? War das für die beiden nur ein
Spiel? „Ihr könnt mich nicht hier festhalten!"
protestierte er. Die beiden sahen ihn verächtlich an. Die
blonde meinte trocken: „Oh doch, das können wir. Es sei denn …"
und die brünette wie ein Echo: „Ja. Es sei denn …" Sie
lächelte sogar dabei. Dieses Lächeln erstickte die Wut
wirkungsvoller als jedes Wort. Es war kein freundliches Lächeln,
sondern wie das eines Kindes, mit dem es eine gefangene Fliege
betrachtete, bevor es ihr die Flügel ausriss. Jacks Mund wurde
plötzlich ganz trocken. Nur mühsam brachte er die Frage heraus,
auf die die beiden Frauen augenscheinlich warteten: „Es sei denn
was?" Die blonde machte ein Gesicht wie eine Lehrerin, die
einen besonders begriffsstutzigen Schüler vor sich hatte. „Es
gibt andere Möglichkeiten. Mit dem Institut", sagte sie. „Du
könntest für uns arbeiten." Jack traute seinen Ohren
nicht. Er mochte es gar nicht, so erpresst zu werden. Und worin
sollte diese Arbeit wohl bestehen? Foltern und erschießen? dachte
er sarkastisch. Andererseits – stimmte er zu, böte ihm das die
Chance, hier erst einmal raus zu kommen. Dann konnte er sich ja
immer noch überlegen, ob er sich an so einen einseitigen Vertrag
gebunden fühlte. Aber er stimmte nicht sofort zu, um seinen Plan
nicht dadurch zu gefährden, dass die beiden Frauen misstrauisch
wurden. Also schüttelte er den Kopf. „Warum sollte ich für
Torchwood arbeiten? Ihr habt mich gefoltert, erschossen…" „Ach,
komm’ schon", sagte die Brünette verständnislos, „du
kannst ja nicht sterben, also, was macht es schon?" Jack
wollte ihr schon eine passende Antwort geben, aber die Blonde kam
ihm zuvor. „Wir werden dich bezahlen." Jack traute
seinen Ohren nicht. Das war nun doch eine unerwartete Entwicklung.
"Was, keine Drohungen mehr, keine Stromstöße?" fragte
er ironisch. Sie nickte knapp, die Hände vor der Brust
verschränkt. "Du brauchst Geld, wir bezahlen gut.
Also?" Jack fand, jetzt sei der Zeitpunkt gekommen,
einzulenken. Er schaute noch kurz zu Boden, als müsse er über
das Angebot nachdenken. Dann sah er die beiden Frauen an. "Was
soll ich tun?" fragte er. Die brünette lächelte
siegessicher. "Es geht um eine vermisste Person", sagte
sie. Die blonde erklärte ihm dann, dass er ein Alien
aufspüren sollte. Sie nannten es Blowfish. Es war zwar humanoid,
aber mit einem Kopf, der wie ein exotischer Fisch aussah. Ein
notorischer Unruhestifter und Halunke. Es versteckte sich nicht,
sondern bewegte sich provozierend offen in der Cardiffer
Gesellschaft. Moment mal, schoss es Jack durch den Kopf, die
Beschreibung passte auch ganz gut auf ihn selbst. Während die
Blonde ihm seinen Auftrag erläuterte, entfernte die Brünette
seine Fesseln. Sie reichte ihm ein Handtuch und seinen Mantel. Als
er sich wieder einigermaßen zurechtgemacht hatte, führten die
beiden ihn hinaus. Zu seinem Erstaunen musste Jack
feststellen, dass der Komplex sich unter der Erde befand und sie
ganz in der Nähe des Hafens wieder an die Oberfläche kamen.
***
Die Schmerzen trafen sie
völlig unvorbereitet und zerschlugen ihre Barrieren, als seien
sie aus Glas. Sie war plötzlich blind, hatte keine Gewalt mehr
über ihre Beine. Fast ohnmächtig sackte sie zusammen, konnte
sich gerade noch mit den Händen und Knien abfangen, sonst wäre
sie auf den Boden aufgeschlagen. Es war, als stieße jemand
glühende Nadeln durch ihren Körper, ihren Schädel. Dann fühlte
sie nichts mehr, sie war wie taub, die Kraft wich aus ihren Armen.
Haltlos sank sie vollends zu Boden. Wieder schoss der Schmerz wie
geschmolzenes Blei durch ihren Körper. Sie schrie, jedenfalls
dachte sie es, doch sie hörte nichts, fühlte nichts außer
diesem unbeschreiblichen Schmerz. Als er endlich verschwand, lag
sie einfach nur da, zu einer Kugel zusammengerollt, die Arme um
den Kopf geschlungen. Sie musste sich sogar darauf konzentrieren,
einfach nur zu atmen. Ihre Sinne kehrten langsam zurück. Sie
fühlte Hände, die sie hielten, sie hochhoben, hörte
angsterfüllte Stimmen, sah in vertraute, besorgte Gesichter.
Natürlich, sie war mit Suzannah und einigen anderen Frauen damit
beschäftigt gewesen, ihre Kostüme auszubessern, schoss es ihr
durch den Kopf. Sie musste ihnen einen schönen Schrecken
eingejagt haben. Mühsam richtete sie sich auf, befreite sich
von den Händen, die sie immer noch hielten. Schwindel überfiel
sie, als sie versuchte, aufzustehen. Suzannah stützte sie
geistesgegenwärtig, sonst wäre sie wieder gestürzt. Und dann
dachte sie: JACK!! Sie richtete sich kerzengerade auf, der
Schwindel war vergessen. Der Schmerz war nicht ihr eigener
gewesen, er hatte sie durch das Band erreicht. Es war Jack, der
das erleiden musste. Warum hatte sie auch gerade jetzt an ihn
denken, ihn über die Verbindung suchen müssen? Sie fühlte einen
harten Klumpen in ihrer Magengegend. Was war geschehen? fragte sie
sich besorgt. Hatte er sich jetzt endgültig in die
Schwierigkeiten gebracht, vor denen sie ihn so vergeblich gewarnt
hatte? Sie musste zu ihm, auf der Stelle. Julie löste sich aus
Suzannahs Griff und drehte sich zu ihr um. „Suzannah, ich muss
gehen, sofort." Suzannah versuchte, sie zurückzuhalten, aber
als sie in Julies Gesicht blickte, verstummte sie. Doch ganz so
einfach ließ sie Julie nicht gehen. „Du kannst kaum laufen,
John wird dich begleiten", sagte sie energisch. Julie wollte
protestieren, aber sie schnitt ihr mit einer kurzen Handbewegung
das Wort ab. „Keine Widerrede. Ich sehe dir doch an, dass es
gefährlich werden kann. Und ihr werdet reiten." Kurze
Zeit später war Julie mit ihrem unfreiwilligen Begleiter auf dem
Weg. Sie ritten auf zwei der struppigen Ponies, die sonst die
Wagen der Schausteller zogen. Julie war immer noch etwas ärgerlich
über Suzannahs Machtwort. Allein wäre sie viel schneller
vorangekommen. Aber es würde ihr nicht schwerfallen, den Mann
loszuwerden. John war zwar mit prächtigen Muskeln ausgestattet,
aber dafür im Kopf nicht besonders helle. Er würde sich ihr
nicht widersetzen. Das Band führte sie geradewegs zum Hafen
von Cardiff. In dem Gedränge und den engen Gassen wurde es
unmöglich zu reiten. Sie mussten absteigen. Julie sah endlich
ihre Chance, John loszuwerden. Sie wandte sie an ihn: "John,
wir kommen mit den Pferden nicht weiter." Sie tat kurz so,
als müsse sie nachdenken. Dann sagte sie bestimmt: "Wir
können die Pferde nicht mitnehmen, aber auch nicht einfach
hierlassen. John, du bringst sie zurück, ich gehe allein weiter."
John wollte protestieren, aber Julie kam ihm zuvor. "Du
willst doch nicht riskieren, dass die Pferde gestohlen werden,
oder? Suzannah würde sehr böse auf dich sein!" Kleinlaut
zog John den Kopf ein und ging, die Ponies hinter sich herziehend.
Er tat Julie fast ein wenig leid. Aber sie musste ihn unbedingt
aus dem Weg haben. Er behinderte sie nur bei ihrer Suche. Sie
konnte nicht auch noch auf ihn aufpassen. Also wandte sie sich ab
und ging weiter. Auf einem kleinen Platz inmitten armseliger
Häuschen hinter dem Hafen hielt Julie an. Ratlos sah sie sich um.
Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie eigentlich fast neben Jack stehen
müsste, aber alles, was sie sah, war ein - wenn auch ziemlich
beengter - freier Raum. Dann spürte sie, dass er sich wieder
fortbewegte. Außerdem schien er sehr beunruhigt sein. Julie
folgte ihm vorsichtig. Natürlich bemerkte er, dass sie in der
Nähe war und ihm folgte. Sie meinte einen Moment sogar Panik bei
ihm zu spüren. Wollte er sie warnen? Also wurde sie noch
vorsichtiger.
***
Als er die unterirdische
Basis mit seinem Auftrag verließ, spürte er zu seiner Besorgnis,
dass Julie nun ganz in der Nähe war. Wieso musste sie gerade
jetzt wieder auftauchen, dachte er leicht verzweifelt. Wie sollte
er ihr zu verstehen geben, dass sie sich in dieser Situation nicht
blicken lassen durfte? Er wusste nicht, ob er nicht die ganze Zeit
beobachtet wurde. Inzwischen traute er diesem Torchwood-Institut
so ziemlich alles zu. Ihm fiel nichts anderes ein, als
intensiv an Gefahr zu denken. Vielleicht, so hoffte er, fing sie
es irgendwie auf. Und tatsächlich. Als er sich auf den Weg
machte, spürte er, dass sie ihm zwar folgte, aber Abstand hielt.
Mehr konnte er wohl nicht erwarten. Er würde versuchen, ihr
irgendwie eine Nachricht zukommen lassen, sie zu warnen. Fast
hätte er geseufzt. Gerade jetzt hätte er ihre Hilfe dringend
gebraucht und gerade jetzt durften sie nicht zusammen gesehen
werden. Hoffentlich kam sie nicht auf dumme Gedanken, weil er sie
so geflissentlich ignorierte. Er musste lächeln, als ihm sein
Denkfehler klar wurde. So würde er handeln, aber nicht Julie. Sie
war die Vernünftige in ihrer Partnerschaft, die Rationale. Er war
es, der sich durch seine verdammte Sorglosigkeit in
Schwierigkeiten gebracht hatte. Ihr wäre das nie passiert.
Allmählich wurde ihm klar, was es bedeutete, zweieinhalb
Jahrhunderte hier festzusitzen, ohne verrückt zu werden. Jack
lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er hatte Julies
Warnungen immer als Paranoia abgetan. Jetzt bekam er eine Ahnung
davon, warum man sich vielleicht doch weniger auffällig verhalten
sollte. Deshalb hatte er ja auch den Auftrag bekommen. Dieser
Blowfish versetzte die ganze Zeit in Aufruhr, allein durch seine
Anwesenheit. Eigentlich sollte es nicht schwierig sein ihn zu
finden. Aber so leicht wurde es dann doch nicht. Als es dunkel
wurde, hatte er immer noch keine heiße Spur. Der Blowfish war
zwar eine auffällige Erscheinung, aber heute schien ihn noch
niemand gesehen zu haben. Erschöpft ließ sich Jack am späten
Abend in einer der kleinen Straßenschänken auf eine Bank sinken.
Er musste erst mal Atem schöpfen nach der ganzen fruchtlosen
Rennerei. Er bestellte einen großen Krug Bier, nach Stärkerem
stand ihm heute nicht der Sinn. Julie war den ganzen Tag in seiner
Nähe gewesen, aber er hatte sie nicht gesehen. Offenbar hatte sie
seine Warnung verstanden. Als der Krug gebracht wurde, trank
er den ersten Becher in einem Zug leer, so ausgetrocknet fühlte
sich seine Kehle an. Müde lehnte er sich mit dem Rücken an die
Mauer hinter ihm und schloss die Augen. Jack hatte Mühe nicht
einzuschlafen. Als er die leise Stimme fast genau neben seinem
Ohr hörte, zuckte er heftig zusammen. Aber er hatte sich sofort
wieder in der Gewalt. Es war Julie. John ließ die Augen
geschlossen, Rücken und Kopf an die Mauer gelehnt, als ruhe er
sich aus. „Jack", hörte er sie flüstern, „was ist
los?" Er ließ langsam den Kopf zur Seite sinken und
öffnete die Augen einen Spalt. Nun konnte er etwas um die Ecke
schauen, die die Wand auf dieser Seite bildete, und von wo aus
Julies Stimme gekommen war. Im ersten Moment sah er nichts bzw. es
war so, als habe er dort einen blinden Fleck. Dann konnte er Julie
in ihrer Männerkleidung erkennen, die dort stand. Jack
versuchte zu sprechen, ohne die Lippen allzu deutlich zu bewegen,
und so leise wie möglich. „Ich hasse es, wenn du das tust",
konnte er sich nicht verkneifen. „Jack!" zischte es
empört um die Ecke, „das ist jetzt nicht der Zeitpunkt für
Scherze." „Du hast ja Recht. Julie, diesmal sitze ich
wirklich in der Scheiße." „Das habe ich bemerkt",
meinte sie trocken. „Was ist passiert?" „Keine Zeit
für Erklärungen, ich weiß nicht, ob ich beobachtet werde. Sie
wissen, dass ich unsterblich bin und nach dem Doctor suche",
murmelte er hastig. Es blieb still, dann flüsterte Julie:
"Nein, hier beobachtet dich niemand. Alles nur normale
Leute." Jack atmete auf, aber er veränderte seine
Stellung nicht und sprach weiter nur sehr leise. „Gut. Aber es
ist besser, wenn wir vorsichtig sind. Sie sind gefährlich." „Wer
sind ‚sie’?" fragte Julie. „Zwei Frauen, sie nennen
sich ‚Torchwood’." Er hörte, wie sie scharf die Luft
einsog, dann war alles still. „Julie?", fragte er
beunruhigt, als die Stille andauerte. „Haben sie wirklich
‚Torchwood’ gesagt?" Ihre Stimme war so leise, dass er
sie kaum verstehen konnte, und seltsam tonlos. "Zwei Frauen,
sagst du? Eine brünette, noch sehr jung, und eine blonde,
kleinere, etwas ältere?" "Ja, genau", flüsterte
er überrascht, "kennst du sie?" "Nein, nicht
direkt", flüsterte sie zurück. "Ich habe sie einmal
gesehen, an einem Riss. Sie haben das Wesen erschossen, das
hindurch kam." Jacks Mund formte lautlos ein „O",
dann sagte er: „Ich habe ja gesagt, sie sind gefährlich. Sie
verfügen über Technologie, die nicht in dieses Jahrhundert
gehört, und sollen angeblich das Empire vor außerirdischen
Bedrohungen schützen. Den Doctor zählen sie auch dazu." Er
brach ab, als ein Mann vorbeilief, dann sprach er weiter: „Ich
sollte ihnen verraten, wo der Doctor sich aufhält. Als sie
endlich merkten, dass ich es auch nicht weiß, haben sie mich für
einen Auftrag angeheuert. Ich soll einen Blowfish fangen, der sich
hier in Cardiff herumtreibt." „Ich kenne ihn",
hörte er Julie flüstern. „Ein kleiner Gauner, der meins und
deins nicht auseinander halten kann; eigentlich harmlos." Sie
schwieg einen Moment, dann sagte sie: „Am besten spielst du das
Spiel mit – fürs Erste. Wir müssen unbedingt mehr über dieses
Torchwood erfahren. Ich werde den Blowfish finden, das sollte
nicht schwer sein, und dir seinen Standort mitteilen. Bringe ihn
zu ihnen. Dann sehen wir weiter." Jack musste lächeln.
„Zu Befehl, General", sagte er. Beinahe hätte er auch noch
salutiert. Er konnte sich gerade noch zurückhalten. Einen
Moment war es still hinter der Mauer. Er spürte einen leichten
Schlag an der Schulter. Dann hörte er: „Gut, ich werde es mal
anders formulieren." Ihre Stimme troff vor Ironie. „Liebster
Jack, ich bin der Meinung, wir sollten die Gelegenheit nutzen,
mehr über diese Organisation zu erfahren. Was meinst du dazu?" Er
lachte lautlos in sich hinein. Damit konnte er sie immer auf die
Palme bringen. „Ich muss jetzt gehen", hörte er sie
sagen. „Ich kann meine Tarnung nicht länger aufrechterhalten."
Ihre Stimme zitterte ein wenig. Jack spürte eine sanfte
Berührung an der Wange, dann ging Julie. Aus den Augenwinkeln sah
er ihr nach, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwand. Er dachte
daran, dass er sie noch nie gefragt hatte, wie das mit ihrer
Unsichtbarkeit funktionierte, und nahm sich vor, das bei nächster
Gelegenheit nachzuholen. Die Spannung fiel von ihm ab, jetzt
spürte er die Strapazen der vergangenen Stunden. Bleierne
Müdigkeit überkam ihn. Seufzend stemmte er sich hoch. Er würde
sich erst mal eine Mütze voll Schlaf gönnen. Julie würde den
Blowfish schon finden, da hatte er keine Zweifel.
***
Julie hatte das Gefühl, ihr
Körper bestünde aus Gummi. Sie zitterte und konnte sich kaum auf
den Beinen halten. Die ganze Zeit die Leute davon abzuhalten sie
zu sehen, hatte ihre Kräfte aufgezehrt. In einer dunklen Gasse,
nicht weit von der Schänke entfernt, in der sie Jack getroffen
hatte, setzte sie sich einfach auf den Boden. Sie legte den Kopf
auf ihre hochgezogenen Knie und schloss die Augen. Nur einen
kurzen Moment, dachte sie erschöpft, dann geht es wieder. Als
sie die Augen wieder öffnete, wusste sie gleich, dass mehrere
Stunden vergangen waren. Sie war eingeschlafen, verdammt! haderte
sie mit sich selbst. Schwerfällig stand sie auf. Es bereitete ihr
Mühe, ihren Verstand ebenfalls wach zu bekommen. Sie war immer
noch sehr müde. Sie musste erst einmal dafür sorgen, dass sie
wieder zu Kräften kam. An einer kleinen Garküche stahl sie sich
eine Portion Krapfen und verschlang sie hastig in einer ruhigen
Ecke. Schon besser, dachte sie, als sie sich das Öl von den
Fingern leckte. Als nächsten besorgte sie sich noch ein
Hühnerbein, indem sie es einem späten Zecher, der an seinen
Tisch eingeschlafen war, vom Teller stibitzte. Stehlen war für
Julie noch nie ein Problem gewesen. Nach Jahrhunderten der Übung
brauchte sie dafür nicht einmal auf ihr besonderes Talent
zurückzugreifen. Nachdem sie ihre Reserven aufgefüllt hatte,
fiel ihr auch das Denken wieder leichter. Bei einem Krug Bier, den
sie diesmal bezahlt hatte, rekapitulierte sie noch einmal die
Geschehnisse der letzten Stunden. Jack war von Torchwood gefangen
worden – und Torchwood waren die beiden Frauen, denen sie in
letzter Zeit immer so geflissentlich aus dem Weg gegangen war. Sie
hätte sich am liebsten geohrfeigt. Da suchte sie seit Monaten
nach der Bedeutung für diesen vermaledeiten Begriff und die
Lösung spazierte ihr die ganze Zeit vor der Nase herum! Julie
schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Zweck, sich jetzt Vorwürfe
zu machen. Jack hatte die Chance, weit mehr Informationen zu
sammeln als sie es jemals durch Beobachtungen geschafft hätte.
Dafür mussten sie nur den Blowfish ausliefern. Es würde
gefährlich werden – natürlich. Aber Julie hatte nicht vor,
Jack allein wieder zu Torchwood gehen zu lassen. Sie würde ihm
folgen. So bekam sie auch gleich die Gelegenheit, deren Stützpunkt
auszukundschaften. Und sollte er in Gefahr geraten, konnte sie ihm
beistehen. Die Frauen würden nicht damit rechnen, dass jemand mit
ihm kam. Und der Blowfish? Julie zuckte mit den Schultern. Sie
ahnte, was ihm bei den beiden Frauen blühen würde. Eher
unwahrscheinlich, dass sie ihn einfach nur einsperrten. Aber
erst einmal musste sie ihn finden. Julie suchte mit ihrer Empathie
nach ihm. Die Ausstrahlungen Außerirdischer waren so anders als
die der Menschen, dass es leicht war, sie zu erkennen. Nur war
ihre „Reichweite" nicht besonders groß. Wenn sich die
Emotionen zu vieler Personen überlagerten, konnte sie keinen
Einzelnen mehr herausfiltern. Also lief sie durch Cardiff, immer
darauf bedacht, den Einen zu finden, dessen Ausstrahlung so anders
war. Es wurde schon hell, als sie ihn endlich fand. Nachdem sie
sich die Merkmale seiner Aura eingeprägt hatte, suchte sie Jack.
Der Blowfish würde ihr nicht mehr entwischen. Sie fand Jack
in der Nähe seiner Wohnung, er genehmigte sich in einer Garküche
gerade ein Frühstück. Er war so damit beschäftigt, dass er vor
Schreck mit einem Satz aufsprang, als sie ihn ansprach. „Ich
hasse es, wenn du das tust!" meinte er vorwurfsvoll und legte
eine Hand auf die linke Seite seiner Brust, als stünde er kurz
vor einem Herzanfall. „Musst du dich denn so anschleichen?".
Julie sah ihn gespielt unschuldig an, dann lachte sie. Jack
grinste sie an, aber bei Julies nächsten Worten wurde er
schlagartig wieder ernst. „Ich habe den Blowfish gefunden",
sagte sie und bedeutete ihm ihr zu folgen. Sie ging los und Jack
beeilte sich zu ihr aufzuschließen. „Sollten wir nicht
etwas vorsichtiger sein?" fragte er leise. Julie schüttelte
lächelnd den Kopf. „Keine Sorge, wir werden nicht
beobachtet. Ich habe alles überprüft, niemand folgt uns. Was
sollte schon daran verdächtig sein, dass du einen Laufburschen
angeheuert hast? Und übrigens, Kameraüberwachung gibt es in
Cardiff noch nicht." Jack schaute sie verblüfft an. Sie
lachte und sagte: „Dein Torchwood verfügt vielleicht über
Geräte, die ihrer Zeit voraus sind, aber auch sie können nicht
ganz Cardiff überwachen!" Jack murmelte: „Das ist nicht
MEIN Torchwood …" Julie schaute ihn kurz aus den
Augenwinkeln an und grinste, dann wurde sie wieder ernst. „Aber
du hast recht. Es ist besser vorsichtig zu sein. Ich werde dich
zum Blowfish führen, aber mich dann zurückziehen. Alles andere
liegt dann bei dir." Dass sie vorhatte ihm zu folgen,
erwähnte sie nicht. Vielleicht bemerkte er es gar nicht,
dachte Julie. Jacks Umgang mit dem Band war wesentlich
oberflächlicher als bei ihr. Wenn er sich nicht darauf
konzentrierte, spürte er die Verbindung gar nicht. Und wenn er es
mitbekam, würde es zu spät sein. War er erst einmal in der
Basis, konnte er nichts mehr unternehmen, ohne sie beide zu
verraten. Und so impulsiv ist nicht einmal Jack, dachte Julie. Als
sie den Blowfish erreichten, zog Julie sich wie vereinbart zurück.
Jack würde keine Probleme mit ihm haben, diese Spezies log und
stahl, aber sie waren keine guten Kämpfer. Julie bezog inzwischen
Posten in der Nähe der Stelle, wo sie die Torchwood-Basis
vermutete – also da, wo Jack am letzten Tag im Hafenviertel
aufgetaucht war. Und tatsächlich – Jack war so mit seinem
Gefangenen beschäftigt, der sich gegen die Fesseln sträubte,
dass er sie nicht bemerkte. Die beiden verschwanden in einem
Schuppen. Julie folgte ihnen und sah gerade noch, wie Jack den
Blowfish durch eine getarnte Tür an der Rückseite des Schuppens
zerrte. Dort wurden sie schon von der brünetten Frau erwartet,
die triumphierend lächelte. Julie wartete, bis die Tür sich
wieder geschlossen und das Trio etwas Vorsprung hatte. Dann trat
sie zu der Tür, die sich jetzt nicht mehr von der Wand abhob.
Aber das stellte kein Problem für sie da. Julie zog eines ihrer
kleinen Alien-Spielzeuge aus der Tasche und fuhr damit über die
Stelle, an der die Tür sich befand, bis das Gerät leise piepte.
Sie hielt das Gerät einen Moment ruhig. Ein leises Klicken war zu
hören, dann genügte ein leichter Druck, um die Tür zu öffnen.
Julie prüfte vorsichtig, ob die drei schon weit genug voraus
waren, um ihnen ungesehen folgen zu können. Dann schlüpfte sie
durch die Tür. Dahinter lag ein langer Gang aus rotem Ziegel. Und
er wurde von elektrischem Licht erhellt! Julie sah sich kurz um,
aber der Gang führte nur schräg nach unten, es gab keine Nischen
oder Türen, soweit sie sehen konnte. Sie bewegte sich langsam
weiter, die geistigen Fühler ausgestreckt, um den Kontakt mit
Jack nicht zu verlieren und vor unliebsamen Überraschungen
gewarnt zu sein. Über eine steile Treppe gelangte sie
schließlich zu einem kleinen Raum. Geradeaus sah Julie eine
große, massiv aussehende metallene Doppeltür. Sie spürte
dahinter eine weitere Präsenz. Wahrscheinlich die andere Frau,
vermutete sie. Aber Jack mit seinem Gefangenen und die Brünette
hatten sich nach rechts gewandt, wo Stufen noch weiter nach unten
führten. Julie folgte ihnen. Am Ende der Treppe verlief ein
Korridor nach beiden Seiten, geradeaus befand sich eine weitere
Metalltür, die einen Spalt geöffnet war. Sie spürte, dass sich
die drei hinter der Tür befanden, sie konnte sie sogar sprechen
hören. Julie riskierte einen Blick durch den Türspalt. Sie
sah in einen Korridor, in dessen Wände in regelmäßigen
Abständen Gitter eingelassen waren – ein Gefängnistrakt. Die
Frau und Jack standen an einer der geöffneten Zellen, in die Jack
gerade den Blowfish hineinstieß. Der protestierte lauthals.
Offenbar erkannte er immer noch nicht den Ernst der Lage, dachte
Julie. Im Gegensatz zu Jack. Sie spürte seine Beunruhigung. Er
schien zumindest einen Verdacht zu haben, was dem Fischwesen
blühen könnte, denn er versuchte mit der Frau zu verhandeln.
„Er ist nur ein Kind. Schickt ihn dahin zurück, wo er
hergekommen ist", hörte Julie ihn sagen. Sie schüttelte
leicht den Kopf. Glaubte er immer noch daran? Die Antwort der Frau
entsprach ihren Gedanken. „Wenn wir das nur könnten. Das
Rift ist eine Einbahnstraße", sagte sie. Es klang sogar ein
bisschen bedauernd. Aber Jack gab sich damit nicht zufrieden.
„Was tut ihr dann? Die Außerirdischen beobachten und bestimmen?
Und dann sperrt ihr sie irgendwo ein", fragte er. Die Frau
antwortete nicht, sondern griff mit der rechten Hand zwischen die
Falten ihres voluminösen Rocks. Als sie die Hand wieder
hervorzog, hielt sie eine langläufige Pistole darin. Julie sog
scharf die Luft ein. Jack konnte die Waffe noch nicht sehen, weil
die Frau sie in der von ihm abgewandten Hand hielt. Mit einer
schnellen, flüssigen Bewegung hob die Frau die Pistole und schoss
dem Blowfish mitten in die Stirn. Er schleuderte gegen die
Rückwand der Zelle und blieb tot am Boden liegen. Jack griff
zwar noch nach der Waffe, aber er war viel zu langsam. Hart packte
er die Frau und drückte ihr die Arme an den Körper. Entsetzt
fragte er, warum sie das getan habe. Ihre lakonische Antwort
lautete: „Er war eine Bedrohung für das Empire." Bitter
meinte er: „So wie ich?" Die Frau befreite sich aus
seinem Griff, der nun nicht mehr besonders fest war. Sie drehte
sich zu ihm um und sah ihm mit unbewegter Miene ins Gesicht.
„Nein, du bist nun unser Verbündeter." Jack wandte sich
kurz von ihr ab, als könne er ihren Anblick nicht mehr ertragen.
Dann gingen die beiden auf die Tür zu, an der Julie stand. Diese
ging in Deckung. Kurz prüfte sie, ob einer der beiden sie gesehen
hatte. Nein, keine Gefahr. Die Frau kam gar nicht auf die Idee,
dass sie beobachtet werden könnte, so sehr vertraute sie auf ihre
eigene Überlegenheit. Und Jack - Julie spürte ein so starkes
Gefühl der Resignation und Ohnmacht, dass es alles andere
überlagerte. Die beiden gingen an Julies Versteck vorüber. Fast
hätte sie die Hand nach Jack ausgestreckt, so niedergeschlagen
sah er aus. Sie konnte sich gerade noch zurückhalten. Doch Jack
schien etwas gespürt zu haben. Er hob den Kopf und sah genau in
ihre Richtung. Seine Augen erfassten sie nicht, aber Jack
schüttelte fast unmerklich den Kopf und folgte der Frau
wieder. Julie streckte vorsichtig ihre geistigen Fühler aus.
Ja, Jack spürte schon, dass sie in der Nähe war, und es schien
ihn wieder etwas aufzurichten. Sie wartete noch einen Moment, dann
folgte sie den beiden. Sie gingen wieder die Treppe hinauf.
Oben angekommen wandte die Frau sich nach links und öffnete die
große Doppeltür, an der sie auf dem Hinweg schon vorbeigekommen
waren. Julie erhaschte einen kurzen Blick darauf, was dahinter
lag. Es schien eine große Halle zu sein, mit sehr hoher Decke.
Als die Tür sich geschlossen hatte, löste sie sich aus dem
Schatten der Treppe und untersuchte sie. Sie würde sich einen
anderen Weg in die Halle suchen müssen, durch diese Tür konnte
sie nicht ungesehen gelangen. Aber sie hatte ja sowieso vorgehabt,
diesen unterirdischen Komplex weiter zu erkunden. Julie prüfte
kurz die Emotionen der beiden Frauen. Nein, im Moment drohte keine
Gefahr. Sie hatten ja auch bekommen, was sie wollten. Also wandte
sie sich nach links, in den Gang hinein, der dort verlief.
***
Die brünette Frau führte
ihn durch die große Halle. Jack sah sich aufmerksam um. Sie war
sehr hoch, es schien es ihm, als müsse die Decke direkt unter dem
Straßenpflaster liegen. Alles machte einen halbfertigen Eindruck,
überall standen und lagen Baumaterialien herum. Auf einem
Vorsprung, der sich etwa in normaler Deckenhöhe rund um die Halle
zog, war eine Hebevorrichtung befestigt, die wie ein Kranarm
aussah. Jack sah Ziegelstapel, Treppen, die ins Leere führten,
Fenster ohne Glas. Sie stiegen eine Treppe hoch, die in einen
kleinen Raum führte, der über ein auffälliges rundes Fenster,
glaslos wie die anderen, verfügte. In dem Raum, der wie ein
Büro eingerichtet war, saß die Blonde hinter einem großen,
klobigen Schreibtisch. Sie sah auf, als sie die beiden kommen
hörte, und bat Jack hinein. Die Brünette ging. Er sah sich
um, als er eintrat. Das Zimmer war recht klein, verfügte aber
über einen großen Kamin, in dem ein helles Feuer brannte. Das,
einige Schränke und ein paar Farne als Topfpflanzen machten es
fast gemütlich. Die Frau wies auf den Stuhl, der vor dem
Schreibtisch stand. „Bitte, setze dich", sagte sie zu Jack.
Er kam näher und ließ sich in den Stuhl sinken. Ein Gegenstand
auf dem Schreibtisch erregte seine Aufmerksamkeit. Links von der
Frau stand ein Telefon, zwar mit Wählscheibe, aber definitiv ein
Telefon. Doch im Moment konnte ihn gar nichts mehr
überraschen. Jack richtete seinen Blick wieder auf die Frau.
Sie war gerade dabei, von einem Stapel in ihrer Hand einige
Banknoten abzuzählen. Als sie fertig war, schob sie sie zusammen
und legte sie vor Jack auf den Schreibtisch. Aber er machte keine
Anstalten, sie zu nehmen. Die Frau hob die Hand und hielt sie
über das Geld. „Wenn du es nicht haben willst ...", meinte
sie bedeutungsvoll. Nun beugte Jack sich doch vor und nahm das
Geld. Aber es wirkte zögerlich, als wolle er es nicht wirklich.
Die Blonde lächelte triumphierend. Jack beachtete sie nicht.
Er war immer noch mit seinen Gedanken bei dem Tod des Blowfish und
fragte sich, worauf er sich hier eingelassen hatte. Diese
Organisation machte einen zunehmend bedrohlichen Eindruck auf ihn.
Die beiden Frauen waren skrupellos und dazu offensichtlich noch
paranoid, eine äußerst gefährliche Mischung. Gegen solche Leute
konnte man nicht gewinnen. Entweder tötete man sie oder man
musste so viele Meilen wie nur möglich zwischen sich und sie
bekommen – am besten verließ man das Land. Keine besonders
attraktiven Möglichkeiten, dachte Jack resigniert. Noch ganz
in Gedanken beobachtete er, wie die Frau ein gefaltetes Blatt mit
einem Stempel darauf aus einer ihrer Taschen zog und ihm
hinhielt. „Dein nächster Auftrag", sagte sie. Doch
Jack hatte eine Entscheidung getroffen. „Nein. Ich bin fertig
mit euch", sagte er entschieden und stand auf. Er drehte sich
zur Tür um zu gehen, aber die Stimme der Frau ließ ihn
innehalten. „Deine Freiheit steht in unserem Ermessen",
sagte sie. Jack drehte sich wieder um und sah sie forschend an. In
diesem Moment betrat die Brünette wieder das Büro. Sie blieb an
der Tür stehen, bemerkte Jack aus den Augenwinkeln. Blitzschnell
versuchte er seine Chancen zu ermitteln. Gegen beide konnte er
nicht gewinnen. Zu schnell war die Brünette mit der Pistole,
außerdem stand sie schräg hinter ihm. Nie im Leben hätte er sie
erreicht, bevor sie schießen konnte. Und die Blonde konnte er
auch nicht als Schutz benutzen. Sie saß immer noch hinter dem
Schreibtisch. Er hätte sich eine Kugel eingefangen, bevor er
hinter ihr gewesen wäre. Also sagte er nichts und wartete erst
mal ab. Die blonde Frau sprach als erste: „Arbeite für uns,
dann dienst du dem Empire. Wenn nicht, wirst du zu einer
Bedrohung." „Und du hast gesehen, wie wir mit
Bedrohungen umgehen", ergänzte die Brünette. Jack sah
von einer zur anderen, er war immer noch damit beschäftigt, eine
Lösung zu finden, bei der er unbeschadet davonkommen konnte. Die
nächsten Worte der Frau hinter dem Schreibtisch überraschten
ihn. „Das ist gutes Geld, Captain. Wie sonst willst du hier
deinen Lebensunterhalt bestreiten", sagte sie. Sollte das
jetzt Zuckerbrot sein, nach der Peitsche von gerade eben? Er traf
eine Entscheidung. Er würde nicht nachgeben. Jack horchte kurz in
sich hinein. Julie war ganz in der Nähe, offenbar bewegte sie
sich durch die Basis. Sollte er gleich erschossen werden, würde
sie ihm zu Hilfe kommen. Gemeinsam konnten sie immer noch
entkommen. Und dann mussten sie Cardiff eben für einige Zeit
verlassen. Sie konnten warten. Er ging zurück zum Schreibtisch
und nahm das Blatt Papier. Der Stempel zeigte ein großes T in
einem Hexagon. Anscheinend das Emblem dieser „Organisation",
dachte Jack ironisch. Die Blonde lächelte wieder dieses
triumphierende Lächeln. Jack überkam auf einmal das starke
Verlangen, es ihr aus dem Gesicht zu schlagen. Aber er verbarg
seine Gelüste hinter einem Grinsen. Lässig hielt er das
Blatt zwischen Zeige- und Mittelfinger hoch und schnippte es mit
einer kurzen Bewegung auf den Schreibtisch, genau vor die Frau.
Dann drehte er sich um und ging. Jacks Rückenmuskeln verkrampften
sich in Erwartung eines Schusses, aber nichts geschah. Stattdessen
sagte die Blonde: „Mal sehen, wie du morgen darüber denkst."
Jack atmete auf, als er das Büro verlassen hatte. Er hörte
noch, wie die Brünette sagte: „Ein hübscher Kerl. Aber du bist
hübscher." Er bekam eine Gänsehaut und machte, dass er
rauskam. Auf dem Weg durch den Gang, der zum Ausgang führte,
spürte er Julie nach. Sie bewegte sich noch immer in der Nähe.
Jack vermutete, dass der unterirdische Komplex weitaus größer
war als das, was er bisher gesehen hatte. Und sie schien ihn
komplett auskundschaften zu wollen. Jack wagte es nicht, sie zu
suchen. Außerdem wollte er nur noch raus aus diesem Bauwerk. Er
hatte das Gefühl, er werde immer noch beobachtet. Langsam wurde
er auch schon paranoid, schalt er sich in Gedanken. Aber das
beruhigte ihn kein bisschen. Erst als die Tür des Schuppens,
in dem die geheime Tür lag, hinter ihm zufiel, entspannte er
sich. Aber das war sofort wieder vorbei, als ihm einfiel, dass
Julie immer noch dort drinnen war. Er stürzte hastig zurück in
das Gebäude und untersuchte die Tür. Es gab keinen Griff, die
Tür fügte sich fast unsichtbar in die Wand ein. Jack fuhr mit
den Händen über das Türblatt und auch die angrenzenden
Bereiche. Vielleicht gab es eine Art Kontaktfeld? Aber alles
Abtasten half nichts, die Tür ließ sich nicht wieder öffnen. Er
konnte nicht mehr zurück, dieser Weg war nun versperrt. Was
sollte er machen, wenn sie doch in Gefahr geriet? Wie konnte er
nur so dumm sein? War es ihm gerade noch nicht schnell genug
gegangen, die Basis zu verlassen, wollte er nun unbedingt wieder
hinein. Eine Zeitlang suchte er die Umgebung nach einer anderen
Möglichkeit ab, wieder hinein zu gelangen. Es musste doch einen
weiteren Zugang geben, dachte er immer wieder. Wie sonst wurden
die ganzen Baumaterialien hinunter geschafft? Aber er fand
keinen. Momentan schien dort auch nicht gearbeitet zu werden. Er
hatte keine Arbeiter gesehen. Und es war ganz still in dem Komplex
gewesen, kein Baulärm, nichts. Irgendwann gab er auf und
setzte sich in eine der Hafenschänken. Er entschied sich für
diejenige, die ganz in der Nähe der Basis lag, und ließ sich auf
einer der Bänke nieder, die wenigstens eine Mauer als Lehne
hatten. Die Bank bestand nämlich nur aus einer rohen Holzplanke,
die ziemlich unsicher auf zwei Ziegelsteinstapeln balancierte. Der
Tisch war ein kleines Fass, auf das ein Brett gelegt worden war.
Ebenfalls eine recht wacklige Angelegenheit. Dort wartete er
bei einem Krug Bier darauf, dass Julie wieder auftauchte. Die
Stunden verstrichen und Jack stieg auf härtere Getränke um. Er
spürte zwar nicht, dass sie in Gefahr war, aber allein die Zeit,
die verging, ohne dass sie erschien, beunruhigte ihn
zunehmend. Der Schnaps schmeckte ekelhaft, aber zumindest
bescherte er Jack einen kleinen Schwips und beruhigte ihn etwas.
Mehr würde er sowieso nicht erreichen. Das Mädchen, das an
seinen Tisch trat, bemerkte er nicht sofort. Es war inzwischen
dunkel geworden und die dünnen Kerzen auf den Tischen kamen gegen
die Dunkelheit kaum an. Jack nahm sie erst wahr, als sie ihn
ansprach. „Soll ich Ihnen die Karten legen?" fragte sie.
Sie war vielleicht vierzehn Jahre alt, wirkte aber durch ihr
anämisches Aussehen und die ärmliche Kleidung viel jünger.
Alles in Allem eine klägliche Erscheinung, wie man sie in den
Armenvierteln Cardiffs zuhauf antrat. Jack schüttelte den Kopf
und hob seinen Becher, um sich einen weiteren Zug zu
genehmigen. „Nein, danke", sagte er. Das Mädchen
begann unbeeindruckt, die Becher und Flaschen vom Tisch zu
schieben. Jack schaute ihr teilnahmslos zu. Dann setzte sie sich
ihm gegenüber auf ein Fässchen, das als Hocker diente, und
begann ihre Karten auszulegen. Jack machte noch einmal einen
halbherzigen Versuch, sie loszuwerden. Dafür hatte er jetzt gar
keine Zeit. Wenn er sich solche Spielereien ansehen wollte, konnte
er das bei den Gauklern haben – Julie kannte da auch einige
interessante Tricks, dachte er leicht verärgert. Aber das
Mädchen ignorierte ihn und legte drei Karten auf den Tisch. Jack
schaute sich die Karten genauer an. Sie waren zwar ziemlich
abgegriffen, aber sehr detailliert bemalt, fast schon kleine
Kunstwerke. Auf der ersten war ein Turm zu sehen, in den ein Blitz
einschlug. Zwei Figuren stürzten kopfüber herunter. Die zweite
Karte zeigte einen Ritter in voller Rüstung, mit gezogenem
Schwert, das Schild auf den Boden gestützt. Die dritte Karte war
mit einem von drei Schwertern durchbohrten Herz bemalt. Die
Stimme des Mädchens riss ihn aus seinen Gedanken. "Er wird
kommen. Der, nach dem du suchst", sagte sie. Jack schaute sie
erstaunt und auch etwas erschrocken an, doch sie war schon dabei,
die nächsten drei Karten aufzudecken. Die erste zeigte einen
Kelch, aus dem zwei Wasserströme rannen; eine Taube schwebte
darüber. Auf der zweiten war ein Mond zu sehen, der von zwei
Hunden angebellt wurde. Und das Bild der letzten zeigte eine nur
mit einem Tuch bekleidete Frau mit einem Stab in jeder Hand, über
der die Zahl 'XXI' stand. "Aber das Jahrhundert wird sich
zweimal wenden, bevor ihr euch wieder findet." Ein kalter
Schauer rieselte Jack über den Rücken. Über einhundert Jahre,
dachte er freudlos. Dann durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Die
Vision von Julie, damals in ihrem Zelt. Das, was er von ihrem
Gestammel verstanden hatte: Einhundert - einhundert Jahre. Woher
wusste das Mädchen davon? Er hatte ihr bestimmt keine Hinweise
gegeben. Oder doch? Er war bei seiner Suche nach dem Doctor ja
nicht gerade vorsichtig gewesen, dachte er sarkastisch. So war
schließlich auch Torchwood auf ihn aufmerksam geworden. Aber eine
leichte Unsicherheit blieb. Das zeigte er dem Mädchen natürlich
nicht und lachte spöttisch. „Meinst du das ernst?" Sie
schaute ihn an und bei diesem Blick blieb Jack das Lachen im Halse
stecken. Es drückte Missbilligung aus und Verärgerung darüber,
dass er ihren Prophezeihungen nicht glaubte. So sah Julie ihn auch
immer an, wenn er mal wieder Witze machte über etwas, womit es
ihr ernst war. Nachdenklich senkte Jack den Kopf, sein Blick
fiel auf die Karten, die immer noch auf dem primitiven Tischchen
lagen. Jack stutzte. Die Karten lagen aus seiner Sicht auf dem
Kopf, aber die mit dem Ritter erregte seine Aufmerksamkeit. Er
nahm die Karte in die Hand und betrachtete sie genauer. Erstaunt
erkannte er, dass das Gesicht des Ritters dem seinen ähnelte.
Nachdenklich drehte er die Karte in seinen Fingern und legte sie
dann wieder auf den Tisch. Er sah das Mädchen an. „Du
meinst, ich muss hundert Jahre auf ihn warten?" fragte er
resigniert. „Dann hatte Julie doch recht …" Das
Mädchen sah ihn nur und sagte nichts. Dann schweifte ihr Blick ab
zu etwas, das anscheinend rechts hinter ihm zu sehen war. Sie
neigte den Kopf ein wenig, als grüße sie jemanden
dort. „Mylady", sagte sie ernst. Jack blickte
erstaunt über ihr Gehabe über seine Schulter nach hinten. Und
dort sah er Julie, auf die er die ganze Zeit gewartet hatte. Er
lächelte, aber Julie sah nur zu dem Mädchen und nickte ihr zu.
„Klotho", sagte sie ebenso ernst. Als habe sie ihr damit
noch viel mehr gesagt, stand das Mädchen wortlos auf, nahm ihre
Karten und ging davon. Jack schaute ihr verblüfft nach, dann sah
er fragend zu Julie. Julie blickte ihn an und lächelte. „Hallo
Jack", sagte sie nur. Sie trat zu ihm und umarmte ihn. Er
legte seine Arme ebenfalls um sie. Irgendwie hatte er das Gefühl,
das sei jetzt notwendig. Eine Zeitlang standen sie einfach nur
so da. Sie mussten ein seltsames Bild abgeben für die anderen
Gäste, aber ein schneller Blick zeigte ihm, dass niemand ihnen
Beachtung schenkte. Die meisten Zecher waren sowieso zu betrunken
dazu. Dann schob er Julie auf Armeslänge von sich und sah sie
an. Sie war staubig, mit Dreckstreifen im Gesicht, als sei sie bei
Torchwood auch noch in den hintersten Winkel gekrochen. Was
wahrscheinlich auch der Fall war, dachte Jack. „Wo warst du
so lange? Und was war das denn gerade", fragte er sie. Julie
lachte. „Welche Frage soll ich dir zuerst beantworten?"
meinte sie. Jack tat so, als dächte er ernsthaft darüber
nach. Dann sagte er: „Wer war das Mädchen? Ihr kennt euch?"
Julie nickte. „Das war Klotho. Du hattest gerade eine
Begegnung mit dem Schicksal." Jack sah sie verständnislos
an. „Die Kleine war ganz geschickt mit den Karten, das stimmt.
Aber so gut auch wieder nicht." Julie schüttelte den Kopf
und lachte. „Das meinte ich nicht. Sie ist eine Inkarnation des
Schicksals, eine der drei Spinnerinnen. Die alten Griechen nannten
sie Klotho, Lachesis und Athropos." Jack schaute sie
fassungslos an und ließ sich auf die Bank sinken. Julie setzte
sich neben ihn und lehnte den Kopf an die Wand. Jack sah sie
sprachlos an, als ihm aufging, was sie damit sagen wollte. So
saßen sie schweigend nebeneinander, dann murmelte Julie: "Das
gibt es auch nur auf diesem Planeten. Götter und Mächte
materialisieren sich, weil die Menschen an ihre Existenz glauben
..." Jack sah sie erstaunt an, aber sie schien es nicht zu
bemerken.
***
Das Erscheinen von Klotho
hatte sie überrascht. Damit hatte sie nicht gerechnet. Julie
hatte die Karten gesehen – Tarotkarten, damit arbeitete Klotho
gerne. Sie waren Sinnbilder für das, was sie voraussagte, nichts
weiter. Aber sie lenkten die Menschen ab und gaben ihr die
Tarnung, die sie benötigte. Julie benutzte sie selbst
manchmal. „Was hat sie dir gesagt?" fragte sie Jack
neugierig. Der musste einen Moment überlegen, zu sehr
beschäftigte ihn noch Julies Erklärung, das Mädchen sei gar
kein Mädchen gewesen, sondern eine Göttin oder so etwas
Ähnliches. Dann sagte er: „Sie sagte, der Doctor würde
kommen. Aber erst im 21.Jahrhundert." Seine Stimme war immer
leiser geworden, jetzt verstummte er ganz. Julie konnte sehen, wie
sein Blick sich nach innen wandte, als er darüber
nachgrübelte. Dann wurde sein Blick wieder klar und
fokussierte sich auf sie. „Julie", sagte er, „das Gleiche
hast du damals gesagt, weißt du noch, in deinem Zelt. Hundert
Jahre. Und ich habe die ganze Zeit geglaubt, du wolltest nur eine
Show abziehen", schloss er bitter. Julie berührte seine
Hand. „Mach’ dir nichts draus. Ich bin gewohnt, dass man mir
meine Vorhersagen nicht glaubt. Und die Vision hat auch mich
erschreckt." Sie lächelte kurz, doch das Lächeln erreichte
ihre Augen nicht. Ihr war ein Verdacht gekommen - war ihre Vision
auch das Werk Klothos gewesen? Oder einer ihrer Schwestern?
Möglich wäre es. Diese Wesen verfolgten ihre eigenen Pläne.
„Aber das ist auch nicht so wichtig. Mir wäre lieber gewesen,
du hättest auf meine Warnungen gehört, was Torchwood
betrifft." Jack fragte auch sofort: „Richtig, was hast
du so lange dort gemacht?" Genau, wie sie es beabsichtigt
hatte. „Mich ein bisschen umgesehen", antwortete sie
lächelnd. „Aha", sagte Jack nur und sah sie auffordernd
an. „Der ganze Komplex ist noch in der Bauphase, aber die
Ausmaße sind schon erkennbar", berichtete Julie. „Jack,
ich habe Baupläne gefunden, das Ganze wird riesig! Und sie setzen
außerirdische Technologie ein. Ich habe eine Halle gesehen, die
mit Kryofächern ausgestattet ist – noch nicht in Betrieb, aber
der Zweck ist schon deutlich erkennbar. Überall werden Kabel
verlegt, sie verfügen sogar über ein eigenes kleines Kraftwerk
für die Stromerzeugung. Ich habe auch viele andere Unterlagen
gefunden. Sie wissen von dem Rift und was es bewirkt. Deshalb wird
der Stützpunkt überhaupt hier in Cardiff gebaut. Es gibt dort
Akten von allen möglichen außerirdischen Spezies und Geräten,
die sie beobachtet und untersucht haben. Und ich glaube, du weißt,
was ‚untersucht’ bedeutet." Sie schüttelte den Kopf
und sah Jack eindringlich an. „Der Hauptsitz ist London, das
hier in Cardiff ist nur eine Nebenstelle. Jack, es gibt auch eine
Akte über den Doctor. Der Doctor wird von ihnen als Bedrohung
eingestuft, vielleicht als gefährlichste von allen!" Jack
sah sie alarmiert an. Sie konnte seine Besorgnis auch ohne
Empathie erkennen, ihr selbst erging es nicht anders. Jack
sagte: „Verdammt, und ich habe geglaubt, wir machen uns einfach
aus dem Staub. Ein paar Monate oder auch Jahre weit weg von hier
und alles hätte sich erledigt." Julie sah ihn
nachdenklich an. „Wo sollten wir hin? Das Empire ist groß und
sein Arm reicht noch weiter – ganz zu schweigen von den
Befugnissen Torchwoods. Wo wären wir sicher, dass sie uns nicht
finden können?" Jack zuckte ratlos mit den Schultern.
Beide schwiegen in Gedanken versunken. Dann sagte Julie: „Ich
wundere mich, dass sie dich überhaupt haben laufen lassen." Sie
konnte richtig sehen, wie er aus seinen Grübeleien heraus
auftauchen musste. „Haben sie auch nicht – jedenfalls nicht
richtig", antwortete Jack ernst. Einen Moment schwieg er
wieder, als müsse er sich das Geschehene wieder ins Gedächtnis
rufen. Sein Blick richtete sich auf nichts Bestimmtes, dann sagte
er: „Sie wollten, dass ich weiter für sie arbeite. Sie haben
mir sogar Geld dafür angeboten. Aber ich habe abgelehnt. In dem
Moment habe ich wirklich damit gerechnet, dass sie mich wieder
erschießen und ich mich kurz darauf in einer der Zellen
wiederfinde." Er schaute Julie an und grinste. „Aber ich
dachte mir, dass du mich da schon wieder rausholst." Sie
musste lachen. Gottlob, der alte Jack war ja doch noch da. Sie
hatte schon befürchtet, das Ganze hätte ihm seine sorglose Art
gründlich ausgetrieben. Spontan umarmte sie ihn und gab ihm einen
Kuss. Erstaunt fragte er: „Wofür war das denn?" Julie
lachte wieder und sagte: „Ich bin nur froh, dass du doch nicht
völlig todernst geworden bist." Jack brach in lautes
Gelächter aus und Julie stimmte ein. Sie konnten sich gar
nicht mehr beruhigen, die anderen Leute schauten sie schon
beunruhigt an. Die ganze Anspannung der letzten Stunden entlud
sich in diesem Gelächter, das ihnen die Tränen in die Augen
trieb und sie schließlich nur noch nach Luft schnappen ließ.
Aber so hörten sie wenigstens auf zu lachen. Als sie sich
einigermaßen beruhigt hatten, bemerkte Jack: „Ich glaube, wir
sollten hier verschwinden. Wir erregen allmählich unerwünschte
Aufmerksamkeit." Sie sah sich um, dann nickte sie
lächelnd. Beide standen gleichzeitig auf und gingen. Auf dem Weg
zu Jacks Unterkunft sprachen sie kein Wort. Jeder hing seinen
eigenen Gedanken nach. In Jacks Zimmer sahen sie sich an, immer
noch schweigend. Julie wartete einfach, bis Jack anfing zu
sprechen. „Was sollen wir tun?" fragte er. Aber sie
wusste, dass er sich schon längst entschieden hatte. Julie legte
ihre Hand auf seine Brust und lächelte. „Sag’ du es
mir." Jack legte seine Hand auf ihre und lächelte
ebenfalls. „Ich werde den Job annehmen." Julie nickte
nur. Sie setzten sich beide auf Jacks Bett. Jetzt ging es darum,
die Details auszuarbeiten. Jacks Zusammenarbeit mit Torchwood
würde ihnen eine gewisse Kontrolle über dessen Aktivitäten
verschaffen. Davon versuchten sie sich jedenfalls gegenseitig zu
überzeugen. Aber sie wussten beide, dass sie sich auf ein
gewagtes Spiel einließen. Jack fragte auch, ob sie nicht mit
ihrer Wahrsagerei ein bisschen in die Zukunft blicken könne.
Julie senkte den Kopf und schaute ihn dann schräg von unten an.
„Ach, auf einmal glaubt der Herr an meine Fähigkeiten",
sagte sie spöttisch. Jack verzog das Gesicht, als habe er
etwas Schlechtes gegessen. „Das muss ich ja wohl", sagte er
in einem Ton, als bereite es ihm Schmerzen, so etwas zuzugeben.
„So viele Zufälle kann es nicht geben. Vor allem nach der Sache
mit diesem Mädchen, das das Schicksal ist." Er grinste schon
wieder. Julie schlug nach ihm und meinte gespielt hochnäsig: „Das
wird ja auch langsam Zeit. Wie konntest du überhaupt an meinen
Fähigkeiten zweifeln?!" Jack hielt ihre Hand, mit der sie
nach ihn geschlagen hatte, fest. Jetzt küsste er sie auf die
Innenseite des Handgelenks. „Entschuldigt vielmals, Mylady",
sagte er scherzhaft. Julie nächste Worte waren wieder ernst.
„Ich mag diesen Titel nicht, Jack." Sie entzog ihm ihre
Hand. „Er steht mir nicht zu, nicht mehr." Sie schwieg
einen Moment, in dem Jack sie nachdenklich ansah. Julie senkte den
Blick, plötzlich verlegen. Schnell wechselte sie das Thema. „Ich
habe schon versucht die Zukunft zu sehen, auf dem Weg hierher",
sagte sie niedergeschlagen. „Aber ich bekomme kein klares Bild,
es ist alles sehr verworren. Die Zeitlinien differieren so stark,
dass ich keine vernünftige Aussage treffen kann." Sie
schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber wir werden uns auf uns
selbst verlassen und improvisieren müssen, wenn es notwendig
wird." Als Jack vorschlug, dass sie doch zusammen als Team
für Torchwood arbeiten könnten, ohne dieses Versteckspiel, riss
Julie entsetzt die Augen auf und protestierte heftig. Jack schaute
sie perplex an. Sie spürte, dass er gar nicht wusste, was ihre
heftige Reaktion ausgelöst hatte, und bekam prompt ein schlechtes
Gewissen. Spontan traf sie eine Entscheidung. Aber es fiel ihr
schwer, diese auch in die Tat umzusetzen. Zu lange hatte sie
dieses Geheimnis verborgen, jetzt wusste sie nicht, wie sie
darüber sprechen sollte. Jack hatte genug aus seinem Leben
erzählt, dass sie wusste, er war bestimmt nicht xenophob, ganz im
Gegenteil. Aber trotzdem hatte sie Angst davor, wie seine Reaktion
ausfallen würde. Jack spürte ihre Unsicherheit und nahm ihre
Hand. Sie verschränkten die Finger ineinander und Julie lächelte.
Manchmal hatte sie den Verdacht, er sei auch Empath. Nur ein
schwacher, aber das würde einiges erklären. Sie holte tief
Atem. „Mein wahrer Name ist Rhuhileina Coarneru", begann
sie. Sie sah Jack an, er nickte ihr beruhigend zu. Trotzdem
verkrampften sich ihre Finger, die Jacks Hand hielten. „Jack,
ich bin kein Mensch", stieß sie hastig hervor, bevor sie es
sich anders überlegen konnte. „Ich habe jetzt zwar einen
menschlichen Körper, aber darin fand ich mich erst nach dem
Unfall wieder. Meine Erinnerungen sind zwar bei weitem noch nicht
vollständig, aber eines weiß ich: Eigentlich bestehe ich nur aus
Energie. Ich - Wir sind Wächter. Für uns existieren alle
Zeitlinien gleichzeitig, alles läuft parallel ab. Und wir wachen
darüber, dass die Linien nicht zerstört werden. Das ist nicht
einfach, die Zeitlinien sind verwirrend, und zu viele pfuschen
daran herum - Time-Agency, ein gewisser Timelord ..." Julie
verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen, als müsse sie sich für
etwas entschuldigen. „Ich - wir sind Individuen, aber auch
eins. Wenn man alles miteinander teilt, immer die Gegenwart der
anderen spürt, wie ein einziger großer Organismus, ist man nie
allein. Es ist Geborgenheit, Sicherheit, Familie. Und nun bin ich
seit fast drei Jahrhunderten schon in diesem Körper gefangen, in
einer Zeit, isoliert von anderen, wie blind und taub. Ich fühle
mich immer einsam. Selbst unter tausend Menschen. Es ist schon
besser geworden, seit du da bist. Aber es wird wohl nie ganz
vergehen." Ihre Stimme war immer leiser geworden, ihre
Augen starrten in die Ferne. Jack legte auch noch seine andere
Hand auf die ihre. Die Berührung schien sie wieder in die
Gegenwart zu holen. Sie schaute ihn an. "Ich führte
gerade Beobachtungen durch, mit dem Vortex, als unser Unfall
geschah. Jack, ich weiß nicht, wie menschlich dieser Körper ist.
Ich weiß nicht einmal, ob mein Bewusstsein diesen Körper
übernommen hat oder er damals erst erschaffen wurde. Und ich habe
keine Lust herauszufinden, ob Torchwood in der Lage ist das
herauszufinden." Sie lächelte, aber es wirkte mechanisch.
„Soweit ich bisher feststellen konnte, scheint alles da zu sein,
wo es hingehört. Aber ich will nicht das Risiko eingehen, von
Torchwood als Studienobjekt eingestuft zu werden." Sie sah
Jack eindringlich an, wartete ängstlich auf seine Reaktion. Er
lächelte und legte die Arme um sie. Julie lehnte sich an ihn, das
Gesicht und die Hände auf seine Brust gelegt. „Mein kleines
Alien", sagte er leise. Es klang gleichzeitig spöttisch und
liebevoll. „Ich habe so etwas schon vermutet. Manches, was du
gesagt hast, war so distanziert, als wenn du alles nur von außen
beobachtest, als Fremde. Und deine Fähigkeiten gehen weit über
das hinaus, was menschlich ist. Aber das andere ist so
hundertprozentig menschlich – sich über so etwas Sorgen zu
machen…" Julie musste unwillkürlich lächeln. Sie
spürte, wie Jack ihr die Mütze abnahm und die Haarnadeln
herauszog, die ihren Zopf festhielten. Der Zopf fiel ihr auf den
Rücken, Jacks Hände flochten ihn auf und fuhren durch ihr Haar.
Er liebte es, damit zu spielen. Und ihr gefiel, wenn er es tat.
Sie legte ihre Arme um seinen Körper und schmiegte sich noch
enger an ihn. Dann wurde ihr wieder der Ernst der Lage bewusst.
Sie schob sich etwas von ihm fort, hob den Kopf und sah Jack an.
Er war immer noch ganz versunken darin, mit den Händen durch ihr
Haar zu fahren. „Jack", sagte sie ernst, „es mag
irrational klingen. Aber ich habe schon erfahren müssen, was
Menschen mit Leuten anstellen, die anders sind." Ein Schauer
überfuhr sie so heftig, dass sie zu zittern anfing. Jack sah
sie, plötzlich besorgt, an. „Was ist?" fragte er. Aber
Julie hatte sich schon wieder gefangen. „Schon mal verbrannt
worden?" fragte sie ironisch. „Ist kein schöner Tod.
Dauert vor allem verdammt lange …" Jacks Blick zeigte
erst Entsetzen, dann Verlegenheit und schließlich Verständnis.
Er nahm sie wieder in die Arme und ließ sich mit ihr auf das Bett
sinken.
Später lagen sie
engumschlungen in Jacks schmalem Bett. Natürlich auch, weil die
schmale Pritsche gar nichts anderes zuließ, wenn zwei Personen
darauf Platz haben wollten. Aber auch, weil beide wussten, dass
ihnen am nächsten Morgen ein Abschied bevorstand. Kein
Abschied voneinander, dachte Julie, das nicht. Aber ihr bisheriges
Leben war vorbei, sobald Jack die Torchwood-Basis betrat. Ein
Sprichwort fiel ihr ein, angeblich ein Fluch: Mögest du
interessante Zeiten erleben. Das stand ihnen jetzt auch bevor,
dachte Julie sarkastisch. Schöne Aussichten!Sie hatte ihr Gesicht
in Jacks Halsbeuge geschmiegt und versuchte, an nichts mehr zu
denken. Sie sollte etwas schlafen. Die Energie würde sie morgen
brauchen. Sie sollte auch müde sein nach den fast akrobatischen
Leistungen, die dieses Bett ihnen abverlangt hatte. Julie
lächelte. Ihr fiel einfach nicht mehr ein, dachte sie träge,
warum sie eigentlich unbedingt auf dem Bett hatten bleiben wollen.
Aber an Schlaf war nicht zu denken. Die Gedanken kreisten in
ihrem Kopf, immer rund und rund.
***
Auch Jack konnte nicht
schlafen, weil die Gedanken an morgen ihn wach hielten. Er spürte,
wie sich Julie immer wieder bewegte. Sie lagen so eng aneinander,
dass er auch noch die kleinste Bewegung, jedes Muskelzucken von
ihr mitbekam. Ironisch dachte er, dass er sich demnächst wohl
ein größeres Bett anschaffen sollte. Die Besuche in Julies Haus
waren erst einmal gestrichen. Auch darüber hatten sie vorhin
diskutiert, welche Vorsichtsmaßnahmen sie ergreifen sollten und
mussten, damit Torchwood nicht auf ihre Partnerschaft aufmerksam
wurde. Ihre heftige Ablehnung seines Vorschlags, sie könne
doch genau wie er für das Institut arbeiten, hatte ihn
überrascht. Er traute Torchwood zwar auch nicht, aber ihr
Misstrauen kam ihn übertrieben vor. Bis sie erwähnte, dass sie
schon einmal verbrannt worden war. Ihn schauderte, als er sich das
ausmalte. Die Elektroschocks, mit denen ihn die Blonde malträtiert
hatte, waren schon quälend genug gewesen. Aber verbrannt zu
werden … Seine Muskeln verkrampften sich unwillkürlich. Eine
lebhafte Phantasie zu besitzen, hatte auch negative Seiten. Er
spürte wieder, wie Julie sich bewegte. Sie streichelte sanft über
seinen Rücken und küsste ihn ganz leicht in die Kuhle zwischen
Schulter und Hals. Jack lächelte und entspannte sich. Er küsste
sie zärtlich auf den Nacken, fuhr mit der freien Hand durch ihr
Haar und dann weiter ihren Rücken hinunter. Auch ihre Hände
bewegten sich auf seinen Rücken hinunter, bis sie auf seinen
Pobacken ruhten. Jack drehte sich auf den Rücken und zog Julie
mit, so dass sie halb auf ihm lag. Sie küsste ihn auf den Mund.
Jack spürte ihre Zunge und öffnete die Lippen. Sie folgte der
Einladung. Nicht die schlechteste Idee, die Zeit zu
verbringen, dachte Jack, das verjagt wenigstens die trüben
Gedanken.
Irgendwann schlief er doch
noch ein. Bei Sonnenaufgang erwachte Jack. Ihm war kalt. Er fand
auch schnell den Grund dafür heraus: Die Decke war vom Bett
gerutscht und Julie lag nicht mehr neben ihm. Er konnte nicht
lange geschlafen haben. Plötzlich besorgt, richtete er sich
ruckartig auf. Sie war doch nicht etwa klammheimlich verschwunden?
Als sie ihn ansprach, zuckte er zusammen. Hastig drehte er
sich um. Julie stand hinter ihm an der Dachluke, durch die das
erste Licht fiel. Sie stand, wieder bekleidet, seitlich zum
Fenster, den linken Arm auf den Rahmen gelegt, als habe sie gerade
noch hinausgesehen. Aber jetzt sah sie ihn an, mit einen leicht
spöttischen Lächeln auf den Lippen. „Ich hasse es, wenn du
das tust", sagte er. Julie Lächeln wurde stärker. „Du
könntest dir auch allmählich mal einen anderen Spruch einfallen
lassen", meinte sie. „Und ich werde schon nicht
verschwinden." Jack schaute sie verblüfft an. „Kannst
du jetzt auch noch Gedanken lesen?" fragte er. Julie kam
auf ihn zu und setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. Sie
schüttelte den Kopf. „Nein, das habe ich noch nie gekonnt",
sagte sie, „aber dein Gesicht hat alles so deutlich ausgedrückt,
da brauche ich keine Telepathie." Jack sah sie schweigend
an, dann fragte er: „Hast du schon lange dort am Fenster
gestanden?" Sie nickte und sah zu der Luke, durch die nun
Sonnenstrahlen fielen. „Ich konnte nicht schlafen, wollte dich
aber nicht wecken. Also habe ich den Himmel beobachtet. Die Sterne
sind so klar und deutlich hier, es erstaunt mich immer wieder.
Kein künstliches Licht, das den Blick verstellt. Du kannst sogar
schwache Sterne ganz deutlich erkennen. Und jede Farbnuance am
Himmel, wenn der Morgen anbricht und das Schwarz ganz allmählich
in Blau übergeht." Einen Moment schwieg sie, dann hörte
Jack, wie sie leise sagte: "Die Sonne scheint. Es wird ein
schöner Tag ..." Jack sah sie an, sie starrte immer noch zum
Fenster. Er beugte sich zu ihr und griff nach ihrer Hand. Julie
sah ihn an, ihr Blick klärte sich langsam wieder. Dann lächelte
sie ihn an und stand auf. "Wir sollten uns auf den Weg
machen." Ihr Lächeln wurde breiter. "Aber vorher
solltest du dir etwas anziehen." Jack seufzte. "Also
los. Ziehen wir's durch." Es lief alles wie abgesprochen.
Jack ging anscheinend allein zur Torchwood-Basis. Julie folgte ihm
als seine Lebensversicherung. Und sie würde ihm die Geheimtür
öffnen, wenn es notwendig sein sollte. Aber das brauchte sie
gar nicht. Jack wurde in dem Schuppen schon erwartet. Die Brünette
stand in der geöffneten Tür und lächelte ihn an, als habe sie
nichts anderes erwartet. Jack folgte ihr durch die große Halle zu
dem kleinen Büro, wo die Blonde auf sie wartete. "Da
bist du ja wieder", sagte sie spöttisch. Jack biss die Zähne
zusammen. Diesmal wollte er sich nicht aus der Reserve locken
lassen, obwohl die Wut wieder in ihm hochstieg. Sie hielt ihm den
Zettel hin, den er gestern abgewiesen hatte. Wortlos nahm Jack
ihn, das Gesicht starr vor Anstrengung, sich nichts anmerken zu
lassen. Diesmal ginge es um eine Gruppe von außerirdischen
Wesen, erklärte sie ihm. Kreaturen, die im Untergrund hausten,
menschenähnlich, aber mit schrecklich verzerrten Gesichtern und
gefährlichem Raubtiergebiss. Sie ließen sich nur nachts an
der Oberfläche sehen, dann gingen sie auf Raubzüge. Und immer
wieder töteten sie Menschen. Die Blonde vermutete, dass
inzwischen einige von ihnen auf den Geschmack gekommen seien und
sich von Menschenfleisch ernährten. Jack sollte sie aufspüren
und erst einmal mehr Informationen über diese Spezies
sammeln. Sie gab ihm auch eine Pistole, ausreichend Munition
und ein anderes Gerät, das eindeutig außerirdischen Ursprungs
war. Damit könne er die "Weevils", wie sie die Wesen
nannte, aufspüren. Jack war überrascht. Vertrauten sie ihm
schon so weit, dass sie ihm ohne Bedenken solch ein Gerät und
eine Waffe überließen? Oder war das nur ein weiterer
Test? Wortlos nickte er und wollte schon gehen, da sagte die
Blonde: "Nicht sehr gesprächig heute, wie? Hast du deine
Zunge verschluckt?" Jack schoss ihr einen bösen Blick zu,
sagte aber immer noch nichts. Die Frau schaute ihn abschätzend
an, dann sagte sie: "Wir haben uns noch gar nicht
vorgestellt. Mein Name ist Emily Holroyd, ich leite diese
Abteilung." Unwillkürlich nickte Jack. "Das ist mir
nicht entgangen", sagte er ironisch. Emily Holroyd sah
ihn streng an. "Du hast ja deine Sprache wiedergefunden",
meinte sie gespielt erstaunt. Sie deutete auf die Brünette, die
nun neben ihr stand. "Und das ist meine Kollegin, Miss Alice
Guppy." Jack zog die Augenbrauen hoch. "Kollegin, so,
so ..." sagte er anzüglich. Die beiden Frauen tauschten
einen ärgerlichen Blick. Im gleichen Moment verfluchte er seine
schnelle Zunge. Er sollte doch erst nachdenken, bevor er etwas
sagte. Aber irgendwie gelang es ihm nie, sich auch daran zu
halten. Doch die beiden Frauen entschieden sich, seine
Bemerkung zu ignorieren. Emily Holroyd sagte nur: „Wir erwarten
deinen Bericht in spätestens einer Woche." Dann war er
entlassen. Alice Guppy begleitete ihn noch bis zum Ausgang und
zeigte ihm dort, wie man die Geheimtür von außen öffnete. Er
konnte also jetzt jederzeit die Basis betreten, dachte Jack
erstaunt. Dann regte sich Misstrauen bei ihm. Konnten sie wirklich
so sorglos sein? Oder gab es doch irgendwelche Sicherheitssysteme,
mit denen die Basis überwacht wurde? Er traf sich mit Julie am
Hafen. Diesen Treffpunkt hatten sie ausgemacht, weil es in dem
ständigen Gedränge, das hier herrschte, so gut wie unmöglich
war, sie zu beobachten. Natürlich war sie die ganze Zeit in der
Nähe gewesen. Jack erzählte ihr von seinem neuen Auftrag und wie
sich die beiden Frauen verhalten hatten. Auch von seinem Verdacht
sprach er, dass sie viel zu sorglos waren im Umgang mit ihm. Oder
litt er allmählich unter Verfolgungswahn? Sah er überall Gefahr,
wo es gar keine gab? Julie wusste darauf keine Antwort. Sie habe
keine Anzeichen für Lügen bei den Frauen gefunden, auch nicht
dafür, dass sie bewusst Informationen zurückhielten, nur eine
fast unheimliche Selbstsicherheit. Seinen Bedenken, dass es
doch eine raffinierte Überwachung in der Basis gebe, widersprach
sie. Keine Kameras, keine Mikrofone, sagte sie bestimmt. Auch
keine Hinweise auf entsprechende außerirdische Technologie.
Torchwood Cardiff ging entweder davon aus, dass Jack keinen
Schaden anrichten würde oder konnte, oder den Frauen war so ein
Gedanke einfach noch nie in den Sinn gekommen.
Bald war Jack sicher, dass
Torchwood nicht daran dachte, ihn ständig zu überwachen. Er
arbeitete für sie, das schien ihnen zu genügen. Was er sonst
noch machte, interessierte sie nicht. Diese Aufträge nahmen ihn
nicht wirklich in Beschlag. Und sie zahlten wirklich gut. Julies
Beobachtungen bestätigten sein Gefühl. Misstrauisch, wie sie
war, überprüfte sie ständig die Umgebung, wenn sie sich trafen.
Aber sie fand nie Anzeichen dafür, dass Jack überwacht
wurde. Die ersten Wochen wirkte sie regelrecht gehetzt. Jack
hatte den Verdacht, dass sie einen großen Teil ihrer Zeit damit
zubrachte, die Torchwood-Basis auszuforschen. Er verstand nicht,
was sie dort noch suchte. Inzwischen müsste sie doch alles
gesehen und jede Akte mindestens einmal gelesen haben. Sie schien
geradezu davon besessen, so wie sie früher vom Rift besessen
gewesen war. Julies Argwohn Torchwood gegenüber konnte
allerdings nichts, was passierte - oder gerade nicht passierte -
und auch nichts, was Jack sagte, aus der Welt schaffen. Er redete
wirklich mit Engelszungen auf sie ein, was das betraf, aber ihre
Einstellung änderte sich kein bisschen. Allmählich wurde aber
auch Julie ruhiger. Oder sie zeigte ihr Misstrauen nur nicht mehr
so deutlich, dachte Jack.
***
Was
sie wirklich machte, wenn sie mal wieder unterwegs war, wollte sie
Jack einfach nicht anvertrauen. Er verstand sowieso nicht, warum
sie sich immer noch so intensiv mit Torchwood beschäftigte. Wenn
sie ihm erzählen würde, was sie dort tatsächlich trieb, hätte
er ihr wohl nicht geglaubt.
Denn
sie baute an der Basis mit. Natürlich nicht offen. Aber sie war
ständig dort und beobachtete die Bauarbeiten. Manchmal nahm sie
dann einige Modifikationen vor, entweder eigenhändig oder indem
sie die Baupläne „bearbeitete“. Sie lächelte in sich hinein.
Es war so einfach, eine versteckte Tür, einen Gang zusätzlich
hier und da oder geheime Öffnungsmechanismen einzuzeichnen. Ihre
technischen Kenntnisse, vor allem die aus ihrem „früheren
Leben“ machten es leicht für sie.
Die
Bauarbeiter verließen sich blind auf die Pläne, sie verstanden
sowieso nicht, was sie da errichteten. Und die Pläne waren aus
London gekommen, Holroyd und Guppie verstanden sie ebenso wenig
wie die Arbeiter. Sie hatten nichts damit zu tun, außer die
Arbeiten zu beaufsichtigen.
Julie
war sich sicher, dass diese heimlichen Änderungen einmal
lebensrettend sein würden. Sie wusste nicht, woher diese
Gewissheit kam, ob aus ihrer Zeitsicht oder aus der Vision. Doch
sie stellte sie nicht in Frage und tat, was nötig war.
Aber
das genügte ihr noch nicht.
***
Ihr Leben normalisierte sich
also wieder, so schien es - bis Julie verschwand. Jack fand den
Zettel auf seinem Bett, als er von einem Auftrag für Torchwood
zurückkehrte, der ihn einige Tage beschäftigt hatte. Inzwischen
wohnte er schon längere Zeit recht komfortabel. Sein nun - dank
Torchwood - sehr gutes Einkommen ermöglichte es ihm, eine
angemessene Wohnung in einem ansehnlichen Cardiffer Stadthaus zu
mieten. Besser als die ärmliche Bude früher war es auf jeden
Fall.
Das Blatt enthielt nur wenige
Zeilen:
Liebster Jack, Charles hat
mich gebeten, ihn auf die nächste Tournee zu begleiten, und ich
habe sein Angebot angenommen. Er will nach Osten, wir werden
wohl sechs Monate unterwegs sein.
Julie
Nachdenklich hielt Jack den
Brief in der Hand. Er prüfte das Band. Ja, sie war schon ziemlich
weit entfernt, sie mussten vor mindestens zwei Tagen aufgebrochen
sein. Irgendwie fühlte Jack sich verraten. Wieso hatte sie diesen
Weg gewählt, war heimlich aufgebrochen, ohne ein einziges Wort?
Wenigstens hatte sie ihm diesmal eine Nachricht hinterlassen,
dachte er ironisch. Dann fiel ihm etwas ein. Er schaute noch
einmal auf den Brief. Da stand es, schwarz auf weiß: nach Osten.
Und Charles hatte wahrscheinlich auch wieder London, seine
Traumstadt, auf der Liste. Die Stadt, in der sich die
Torchwood-Zentrale befand. Verdammt, Julie, was planst du da,
dachte Jack verärgert und besorgt. Alles drängte ihn, ihr zu
folgen. Wenn sie wirklich vorhatte, was er vermutete, ließ sie
sich auf ein äußerst gefährliches Spiel ein. Aber deshalb war
sie ja heimlich aufgebrochen, damit er es ihr nicht ausreden
konnte oder ihr folgte. Jack seufzte. Das hatte er wohl seinem
schlechten Einfluss zuzuschreiben, dachte er und verzog den Mund
zu einem schiefen Lächeln. Es war inzwischen mehr als ein Jahr
seit ihrer ersten Begegnung vergangen. Und diese Zeit hatte sie
beide verändert. Julie hätte, bevor sie sich begegnet waren, so
ein halsbrecherisches Unternehmen nicht einmal in Betracht
gezogen. Und er hätte sich früher nie um eine andere Person
solche Sorgen gemacht. Sie waren doch unsterblich, was konnte
schon passieren. Aber er vermisste sie jetzt schon. So weit war
es schon mit ihm gekommen, dachte er ironisch. Jack setzte sich
auf das Bett. Also gut, du bekommst deinen Willen, Julie. Durch
das Band konnte er ja spüren, wie es ihr ging. Er konnte ihr
immer noch folgen, sollte das nötig werden. Es waren doch nur
ein paar Monate, sagte er sich. Ein Wimpernschlag, wenn die
Ewigkeit vor einem lag.
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