TORCHWOOD

 

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Weggefährten

Station 5 - 200.000 a.d.

Er erwachte mit einem so tiefen Atemzug, als habe er eine Ewigkeit die Luft angehalten. Es klang wie ein Schrei.
Einige Momente war er noch wie benebelt, alles drehte sich vor seinen Augen. Als die Welt aufgehört hatte Karussell zu fahren, sah er sich staunend um. Er war allein und es war still - totenstill.
Moment mal, da war doch etwas gewesen? Er sah an sich herab, seine Hände tasteten über seine Brust. Die Erinnerung kam zurück, an die Daleks; seine Versuche, sie aufzuhalten, um Rose und dem Doctor noch etwas Zeit zu verschaffen; wie der Dalek auf ihn geschossen hatte.
Aber da war kein Blut, keine Wunde. Verwirrt tastete er über seine Brust. Er konnte doch die verbrannte Stelle sehen, wo seine Kleidung durch die Dalekwaffe in ihre Atome aufgelöst worden war.
Und noch etwas war anders. Er hielt inne und lauschte. Aber nicht auf Geräusche, es war etwas in ihm selbst. Wie sollte er es beschreiben? Wie ein ganz leises, sehr hohes Geräusch, kurz vor der Hörgrenze? Wie eine straff gespannte Gitarrenseite, die ständig in seinem Kopf vibrierte? Oder doch mehr wie Zahnschmerzen - oder eher wie eine Ahnung davon?
Er konnte es nicht einordnen, er wusste nur, es war lästig und unangenehm.
Jack schüttelte den Kopf, als könne er das Gefühl so loswerden. Was natürlich nicht funktionierte. Also beschloss er, es einfach zu ignorieren.
Entschlossen stemmte er sich hoch, einen Moment schwankte er noch, aber dann stand er wieder fest auf den Beinen.

Cardiff - 2. Hälfte 19. Jh. a.d.

Sie hatte sich eingerichtet in diesem Leben. Im Gaukler- und Zirkusmilieu fühlte sie sich sicher, hier fiel sie nicht auf.
Im Gegenteil - ihr exotisches Aussehen und ihre Fähigkeiten waren hier sogar sehr nützlich. Sie sicherten ihr ein gutes Einkommen, und dass sie meistens früher als alle anderen spürte, dass der Arm des Gesetzes es mal wieder auf die Schausteller abgesehen hatte, bescherte ihr Respekt in dieser abgeschlossenen Gesellschaft. So wurden ihre Eigenarten und seltsamen Angewohnheiten toleriert oder einfach hingenommen.
Sie war zufrieden, soweit sie das sein konnte. Denn immer noch fühlte sie sich, als würde ihr ein Teil ihres Körpers fehlen. Das Band war immer da, sie konnte spüren, wohin es führte, aber das andere Ende blieb unerreichbar.
Doch eines Tages wurde alles anders. Julie erwachte und hatte das Gefühl, sie könne plötzlich wieder klar sehen, nach einer Ewigkeit wie durch einen Schleier. Sie fühlte sich auch wacher, stärker, als habe man ein schweres Gewicht von ihren Körper entfernt. Erstaunt horchte sie in sich hinein. Das Band hatte sich verändert, nun war da ein Ziel, hier in Cardiff! Wie von einem Magneten angezogen machte sich Julie auf den Weg, das so lange fehlende Ende zu finden.
Ihn zu finden war nicht schwer, das Band führte sie direkt zu ihm. Als sie ihn sah, lächelte sie in ihrem Versteck. Es hätte schlimmer kommen können, wesentlich schlimmer. Denn was sie sah, gefiel ihr ausnehmend gut: der Mann war groß und gutaussehend - breite Schultern, schmale Hüften, lange Beine, muskulös, mit dunklen Haaren und grauen Augen. Und er strahlte eine jugendliche Unbekümmertheit aus, die sie erstaunte. Denn sie schätzte ihn auf mindestens Mitte 30.
Allerdings schien er, wie sie, nicht in diese Zeit zu gehören. Er verhielt sich manchmal sehr ungewöhnlich für diese Epoche. Außerdem war das Band bis vor kurzem sehr stark gedehnt gewesen, was auf eine große Entfernung hindeutete - räumlich oder zeitlich. Und während ihrer Beobachtungen kam sie zu der Überzeugung, dass er wohl zeitlich sehr weit entfernt gewesen war.
Julie folgte ihm unauffällig, wann immer sie die Zeit dazu fand. In ihrer Aufmachung mit der Schiebermütze, unter der sie ihre langen Haare versteckte, und den abgetragenen Männerkleidern war sie so gut wie unsichtbar. Und wenn nicht, konnte sie immer noch auf ihre Fähigkeit zurückgreifen, den Menschen zu suggerieren, sie sei eigentlich gar nicht da.
Es wunderte sie bei ihrer Observierung schon, dass er anscheinend nicht auf ihre Gegenwart reagierte. Sie hatte angenommen, dass er - genau wie sie - sich immer bewusst war, wo der andere sich gerade befand. Sie konnte jedenfalls immer spüren, in welcher Richtung und in welcher Entfernung er sich aufhielt. So war es leicht für sie, ihn zu finden. Doch er ließ nicht erkennen, dass er sie ebenso wahrnahm.

Am zweiten Tag erfuhr sie schon seinen Namen, Jack Harkness. Es war bei einer der Prügeleien, in die er offenbar ständig geriet, wie sie im Laufe ihrer Beobachtungen feststellen musste.
Er schlug sich mit kleinen Gaunereien und seinem Charme durchs Leben, aber seine Großmäuligkeit brachte ihn oft in Schwierigkeiten. Was ihn aber überhaupt nicht zu kümmern schien. Mit Erstaunen beobachtete Julie, dass Verletzungen, egal wie schwer sie auch waren, in Windeseile heilten ohne Spuren zu hinterlassen. Sogar einen Schuss mitten ins Herz überstand er schadlos, wie Julie feststellte.
Ihr blieb fast das Herz stehen, als sie es zum ersten Mal beobachtete. Entsetzt dachte sie, das war's jetzt wohl. Jack ging zu Boden und blieb reglos liegen. Überrascht musste Julie feststellen, dass die Verbindung zwischen ihnen aber immer noch bestand. Einige Augenblicke lag Jack so da, dann erwachte er ruckartig wieder zum Leben. Julie atmete auf.
In den nächsten Wochen wurde er noch mehrmals erstochen, erschlagen und erschossen. Aber er änderte sein Verhalten nicht ein bisschen. Stattdessen erwähnte er ständig einen Doktor, den er suche. Anscheinend ein verflossener Liebhaber, so wie er über ihn sprach.
Julie war hin- und hergerissen. Sollte sie Kontakt mit ihm aufnehmen? Oder doch lieber nicht? Seine Lebensweise schreckte sie ab. Immer hatte sie sich bemüht, bloß nicht aufzufallen. Er tat genau das Gegenteil. Aber sie konnte nicht leugnen, dass er selbst sie faszinierte.

Schließlich kam sie zu einer Entscheidung. Bei seinem nächsten "Erwachen" wartete sie neben ihm.

***

Als er auf der Erde ankam, bemerkte er gleich, dass er nicht in der Zeit gelandet war, die er programmiert hatte. Die Menschen trugen altertümliche Kleidung und redeten auch anders. Und die Luft war so schlecht, dass er fast keine Luft bekam. Direkt nach der Ankunft bekam er einen Hustenanfall, der gar nicht wieder aufhören wollte. Dann hatte die erstaunliche Regenerationsfähigkeit, über die sein Körper nun verfügte, seine Lunge auch daran angepasst.
Sich an den Dreck und den damit verbundenen Gestank zu gewöhnen, dauerte länger. Das Fehlen einer Kanalisation und die Folgen der Industrialisierung ergaben eine Brechreiz erregende Mischung. Die ganze Stadt stank einfach erbärmlich, nach Fäkalien, Abgasen und Krankheit.
Sofort machte er sich daran, heraus zu finden, wo und vor allem wann er sich befand. In dieser Epoche der irdischen Geschichte war er noch nie gewesen, aber die Time-Agency hatte ihn auch auf so etwas vorbereitet. Also stahl er sich passende Kleidung und informierte sich schnell über die wichtigsten aktuellen und vergangenen Ereignisse. Seinen Akzent und die andere Ausdrucksweise erklärte er damit, dass er Amerikaner war. Alles andere war einfach. Schließlich hatte er darin mehr als genug Erfahrung.
Und noch etwas war anders: Dieses Gefühl, dass er seit seiner "Auferstehung" auf Station 5 nicht loswurde, hatte sich mit seiner Ankunft verändert. Und wieder konnte er es nicht beschreiben. Am nächsten kam noch der Vergleich mit einem straff gespannten Gummi, das, nun losgelassen, in eine Art Ruhezustand zurückkehrte. Wie schon vorher verdrängte er es erfolgreich in den hintersten Winkel seines Bewusstseins und kümmerte sich nicht weiter darum.
Aber nach einiger Zeit konnte er es nicht mehr ignorieren, es ließ sich nicht mehr verdrängen. Es wand sich wie etwas Lebendiges, wurde stärker und schwächer in unregelmäßigen Abständen. Jack war beunruhigt und irritiert, was allmählich hinderlich bei seiner Arbeit wurde. Er war nicht mehr so konzentriert wie er es hätte sein müssen, um bei seinen kleinen Betrügereien und krummen Geschäften nicht aufzufallen.
Jack steckte mehr Prügel ein als für ihn normal war. Schließlich wurde er sogar erschossen. Gottseidank waren die Ganoven schon fort, als er wieder zu sich kam. Aber das Gefühl war nun besonders stark geworden. Es war, als stehe jemand neben ihm, den er nicht sehen konnte.
Verdammt, so konnte er nicht arbeiten, dachte Jack verärgert. Aber wieder gelang es ihm, wenn auch mit einiger Mühe, es ganz in den hintersten Winkel seines Bewusstseins zu schieben.
Doch es war immer da. Allmählich wurde er ungeduldig. Den Doctor konnte er nicht finden, niemand wusste hier anscheinend etwas über ihn. Und das Geld wurde knapp. Nur mit Mühe konnte er noch das Zimmerchen bezahlen, dass er gemietet hatte. Und dass er sich ständig neue Kleidung besorgen musste, weil sie durch die häufigen "Zwischenfälle" blutbesudelt oder zerrissen wurde, strapazierte sein Budget zusätzlich. Er würde sich bald etwas anderes einfallen lassen müssen.
Dann wurde ihm diese Entscheidung auf eine sehr erstaunliche Weise abgenommen.

Als er nach einem seiner Tode erwachte, war das Gefühl wieder sehr stark. Der Ausgangspunkt musste ganz in der Nähe liegen. Dann bemerkte er einen jungen Burschen in ärmlicher Kleidung, auf dem Kopf eine Schiebermütze, der betont lässig an der Hauswand ihm gegenüber lehnte. Das Gefühl "zeigte" genau auf ihn. Der Junge war recht groß, dabei auffallend feingliedrig, fast mädchenhaft, das Gesicht mit den hohen Wangenknochen und spitzem Kinn wirkte unbestimmt asiatisch. Als Jack ihn genauer betrachtete, fielen ihm die Augen auf. Mandelförmige Augen von einer Farbe, die er noch nie gesehen hatte. Wie Bernstein, dachte er fasziniert. Als der Bursche seinen Blick bemerkte, lächelte er und tippte mit den Fingern an seine Mütze. Schlagartig wurde Jack klar, dass er da keineswegs einen halbwüchsigen Jungen vor sich hatte, sondern eine junge Frau.
Jack rappelte sich stöhnend auf und schaute an sich herunter. Wieder ein Hemd unbrauchbar. Es hatte einen großen Blutfleck unterhalb der Rippen, wo ihn das Messer getroffen hatte. Das Messer, dachte er alarmiert. Es hätte noch in seinem Leib stecken müssen! Suchend sah er sich um, dann bemerkte er ein Blitzen von Metall. Die Frau drehte ein Messer in der Hand - das Messer, das eigentlich in seinem Bauch stecken sollte.
Sie lächelte ihn an. "Ich hab' mal den Piekser rausgezogen", sagte sie in breitem Gassenjargon. "Muss doch wehtun, sowas."
Jack sah sie nachdenklich an. "Was meinst du damit", fragte er misstrauisch.
Die Frau stieß sich von der Wand ab und kam näher. "Na, so oft abzukratzen und dann wieder aufzuwachen", entgegnete sie und grinste ihn an.
Jack schwieg verblüfft. Gedanken jagten ihm durch den Kopf. Hatte sie ihn verfolgt? Was wollte sie von ihm? Dann fielen die einzelnen Teile des Puzzles an ihren Platz.
"Du folgst mir seit einiger Zeit, nicht wahr? Und du warst das auch, die ich gespürt habe, als die beiden Ganoven mich erschossen?! Die ich seit einiger Zeit spüre, wo ich auch bin?"
Sie nickte. "Richtig. Und ich spüre dich auch die ganze Zeit." Der Slang war verschwunden, sie sprach zwar noch mit Akzent, aber sonst normales Englisch. Doch das war es nicht, was Jack stutzen ließ.
"Das gleiche Gefühl? Aber wieso?" fragte er. Sie zuckte mit den Schultern.
"Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich in dem einen Moment noch zuhause war - dann wachte ich hier auf. Seither spüre ich dieses Band. Bisher führte es nirgendwo hin, aber seit du hier angekommen bist, zeigt es direkt auf dich." Sie sah ihn direkt an und hielt seinen Blick fest. Er konnte sich kaum losreißen, so intensiv war ihr Blick. Als wenn sie in seine Seele blicken wolle, dachte Jack. Er blinzelte und unterbrach so die Verbindung.
"Du behauptest also, es bestehe ein - wie nennst du es - ein Band zwischen uns?" fragte er misstrauisch.
"Genau", antwortete sie. "Irgendetwas muss damals passiert sein, dass uns beide betraf, uns verbunden hat." Jetzt war überhaupt kein Akzent mehr zu hören, sie sprach nun lupenreines Englisch, bemerkte Jack irritiert. Aber er war immer noch nicht überzeugt. Zu fantastisch klang das alles.

***

Sie spürte ganz deutlich, dass sie ihn immer noch nicht überzeugt hatte. Ziemlich ratlos erwog sie die verschiedenen Alternativen. Womit konnte sie ihn überzeugen? Mit Reden kam sie hier nicht weiter, das war ihr klar. Dann schaute sie nach unten. Sie hielt noch immer das Messer in der Hand. Julie holte tief Luft und versuchte, ihren jagenden Herzschlag zu beruhigen. Dann hob sie das Messer und schnitt sich die Kehle durch.

***

Als er zögerte, hob sie auf einmal das Messer. Er sprang auf sie zu, aber sie hatte es sich schon über den Hals gezogen. Jack fing sie auf, als sie umkippte. "Oh, nein, nein, nein!" Zuerst flüsterte er, doch jedes Nein sagte er lauter. Er sank auf die Knie, mit der Frau in den Armen, und versuchte verzweifelt, die Blutung zu stillen. Eine klaffende Wunde zog sich durch ihre Kehle, blutiger Schaum quoll daraus hervor. Sie röchelte noch kurz, dann wurde sie ihr Körper schlaff.
Er riss sich einen Fetzen aus seinem Hemd - das war ja sowieso hinüber, dachte er zusammenhanglos - und drückte ihn auf ihren Hals. Sie atmete nicht mehr. Panik stieg in ihm hoch. Das fehlte ihm noch. Jetzt brachten sich die Frauen schon seinetwegen um! Planlos wischte er mit dem Tuch über die Wunde. Da bemerkte er, dass gar kein Blut mehr floss. Irritiert starrte er auf ihre Kehle, wo eigentlich die Wunde sein sollte. Aber das war nichts, nur etwas Blut, das er noch nicht weggewischt hatte.
Sein Denken machte einfach Pause, er schaute nur abwechselnd auf ihren Hals und das blutige Tuch, das er in der Hand hielt. Erst langsam drangen Worte in sein Bewusstsein. Er drehte verständnislos den Kopf und sah in zwei bernsteinfarbene Katzenaugen.
"Jack, alles in Ordnung, du kannst mich jetzt loslassen", sagte sie lächelnd. Das Tuch fiel ihm aus der Hand, er sprang auf und machte einen Satz zurück. Sie schlug hart auf den Boden, was ihr einen Schmerzenslaut entlockte. Mühsam rappelte sie sich auf und rieb sich stöhnend den Hinterkopf. Sie sah ihn vorwurfsvoll an.
"Das hat wehgetan!" meinte sie wehleidig. Dann lächelte sie schon wieder. "Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Ich erwache eben nicht so melodramatisch wieder zum Leben wie du."
Jack stand immer noch da und starrte sie mit offenem Mund an. Also hatte der der Vorfall auf Station 5 noch jemanden verändert. Und das nicht auf der Station, sondern rund 200.000 Jahre früher in der Vergangenheit. Wie war das möglich? Was war da passiert?
„Wir sollten reden", brachte er schließlich heraus. „Aber nicht hier."
Sie nickte. „Ja. Und du solltest dich auch umkleiden." Vielsagend blickte sie auf sein zerfetztes und blutbesudeltes Hemd. Jack schaute an sich herunter, das hatte er ganz vergessen. Er zog den Mantel über dem Hemd zusammen und schloss ihn. „Gut. Ich habe ein Zimmer in der Nähe. Gehen wir dorthin, da sind wir ungestört."
Sie nickte wieder, dann streckte sie ihm die Hand hin. "Nenn' mich Julie, Julie Conroy."
Er schaute auf die Hand, die sie ihm hinstreckte und nahm sie. Förmlich schüttelten sie sich die Hände. Sie verbeugte sich etwas.
"Sehr erfreut, Captain Jack Harkness", sagte sie. "Es würde mich übrigens sehr interessieren zu erfahren, woher der Rang stammt." Auf einmal klang sie wie eine Dame aus der Upperclass, etwas näselnd - und ganz bestimmt so herablassend. Jack musste lachen. Zu groß war die Diskrepanz zwischen der ärmlichen Kleidung und dem Tonfall. Sie lächelte als Erwiderung ebenfalls.
Dann sagte er: „Also los." Sie gingen, Jack voraus.

***

Sie folgte ihm in das Haus und dann bis ganz nach oben unter das Dach, wo er ein Zimmer gemietet hatte. Klein und billig, vermutete sie. Und so war es auch. Ein schmales Bett, ein kleiner Tisch mit einem wackligen Stuhl davor, das war die ganze Einrichtung. Licht fiel durch eine kleine Dachluke. Das ganze Zimmer machte den Eindruck, als habe Jack nicht vor, lange zu bleiben. Gut so, dachte Julie. Wusste er etwa, wie er wieder in seine Zeit gelangen konnte? Sie hoffte es jedenfalls. Und sie hoffte, dass sie ihn dazu bringen konnte, sie mitzunehmen.
Jack bot ihr den Stuhl an, er selbst setzte sich auf das Bett ihr gegenüber. Das Zimmer war so klein, dass ihre Knie sich fast berührten. Julie setzte sich und nahm mit einem Seufzer die Mütze ab. Darunter kamen lange schwarze Haare zum Vorschein, zu einem Zopf geflochten, den sie sich um den Kopf gelegt hatte, damit er unter der Mütze nicht zu sehen war. Sie registrierte, dass Jack alles genau beobachtete.
„Keine Angst, ich habe keine Läuse", sagte sie ironisch. Jack schaute sie verblüfft an, ging aber nicht darauf ein. Stattdessen meinte er: „Du bist also auch nicht von hier, vermute ich mal. Was weißt du denn über diesen ‚Unfall’, der anscheinend uns beiden zugestoßen ist?"
Julie kamen auf einmal ihr doch Zweifel, wie weit sie diesem Mann trauen konnte. Seine Ausstrahlung zeigte zwar keine Hinweise auf Verschlagenheit, aber es war zu spüren, dass er nicht vollkommen offen ihr gegenüber war. Wieso sollte er auch? Sie kannten sich ja eigentlich erst seit etwa einer Stunde. Vielleicht sollte sie etwas vorsichtiger sein. Aber dann zuckte sie mit den Schultern. Was nutzte ihr alle Vorsicht, sie musste sein Vertrauen gewinnen. Sie brauchte seine Hilfe, wenn sie nicht bis in alle Ewigkeit hier festsitzen wollte.
Also fing sie an zu erzählen. Wie sie in Anfang des 17. Jh.s in einem Wald nahe Cardiff aufgewacht war, ohne Erinnerung. Wie sie von Dörflern aufgegriffen wurde, als sie durch die Gegend irrte. Wie der Priester des Dorfes sie aufgenommen hatte und ihr Lesen und Schreiben beibrachte. Wie immer mehr Fragmente ihrer Erinnerungen in ihrem Geist erschienen. Wie sie bald bemerkte, dass sie bei den Dörflern immer eine Fremde bleiben würde und sich schließlich dem fahrenden Volk anschloss.
"Ich muss eine Art Wissenschaftlerin gewesen sein. Alles andere sind nur sehr verschwommene Eindrücke und Bruchstücke. Auch mein Wissen deutet darauf hin. Es tauchen immer wieder Kenntnisse in meinem Kopf auf, die nicht aus dieser Epoche stammen können."
Dass sie damals nur aus Energie bestanden hatte, außerhalb von Raum und Zeit, erzählte sie Jack lieber nicht. Vielleicht später einmal. Oder vielleicht besser niemals … Menschen reagierten bei so etwas meist sehr irrational, wie sie schon schmerzhaft hatte feststellen müssen.
Sie blickte Jack an und prüfte gleichzeitig unauffällig seine Empfindungen. Auch so eine Fähigkeit, die sie anscheinend aus ihrer früheren Existenz herübergerettet hatte. Sie konnte die Gefühle der Menschen lesen, so gut, dass es fast als Gedankenlesen durchging.
Jedenfalls wiesen seine Emotionen darauf hin, dass er zwar immer noch Zweifel hatte, aber ihren Bericht auch nicht als die Hirngespinste einer Irren abtat.
Julie riss sich aus ihren Gedanken, zuckte mit den Schultern und erzählte weiter.
Wie sie allmählich entdeckte, dass sie über einige ungewöhnliche Fähigkeiten verfügte, durch die sie immer wieder in Schwierigkeiten geriet, bis sie gelernt hatte, sie zu kontrollieren und zu verbergen. Dass zu ihren Fähigkeiten auch die gehörte, das Rift und seine Aktivitäten zu spüren. Wie sie durch ihre Nachforschungen und Beobachtungen zu der Überzeugung kam, dass das Rift etwas mit der ganzen Sache zu tun habe. Von ihrer Theorie, dass es zwar nicht die Ursache für das alles war, aber dafür verantwortlich, dass sie hier und in welcher Zeit sie gelandet war. Und dass sie in der Nähe blieb und wartete, denn das Rift würde irgendwann die Antwort auf all diese Fragen geben.

***

Als die Frau – er sollte wohl allmählich anfangen, sie Julie zu nennen – erzählte, traute er seinen Ohren nicht. Über 250 Jahre wollte sie schon auf der Erde sein, unsterblich genau wie er. Natürlich, die kleine „Demonstration" mit der durchschnittenen Kehle bewies, dass sie kein gewöhnlicher Mensch war. Einen Taschenspielertrick konnte er ausschließen, die klaffende Wunde war zu tief gewesen, um vorgetäuscht zu sein. Und ihre Schilderungen der vergangenen Jahrhunderte klangen glaubwürdig. Aber wie konnte das sein? Für ihn waren gerade einmal ein paar Monate seit dem „Vorfall" vergangen. Sollte das Ereignis sie etwa in der Zeit zurückgeschleudert haben? Und warum waren gerade sie beide dadurch verbunden worden?
Dann sprach sie von Cardiff, seiner besonderen Lage und dem Rift. Ihre Beschreibungen der auch ihm bekannten Phänomene und Auswirkungen des Rifts zeugten mit jedem Wort von Kenntnissen, die weit über dieses Jahrhundert hinausreichten. Sie benutzte Begriffe, die in dieser Epoche so nicht existierten, weil die Phänomene noch gar nicht bekannt waren. Sie schien also tatsächlich aus einer anderen Zeit zu stammen.
Apropos ihre Sprache: Es war kurios, ihr zuzuhören. Sie sprach zwar überwiegend Englisch, aber immer wieder mischten sich Begriffe oder sogar ganze Sätze darunter, die er nicht verstand. Walisisch, vermutete er. Ab und zu fiel sie auch in diesen Gossenslang, und sogar eine Art Latein meinte Jack zu erkennen. Ein paar Mal musste er sie unterbrechen, damit sie es auf Englisch noch einmal wiederholte. Sie schaute ihn dann ganz verdutzt an, ihr war das offensichtlich gar nicht bewusst.
Während sie erzählte, beobachtete er sie. Sie berichtete ruhig, aber manchmal verklang ihre Stimme einfach. Ihr Blick schweifte ab, ging für Momente ins Leere, als sei sie plötzlich ganz woanders. Dann sie fing sich wieder und erzählte weiter.
Schließlich beendete sie ihren Bericht und sah ihn auffordernd an. Er zögerte. Natürlich wartete sie jetzt darauf, dass er seine Geschichte erzählte. Noch einmal kamen ihm Zweifel. Konnte er ihr wirklich trauen? Aber was sollte sie mit diesem Wissen anfangen? Und in ihren Augen sah er Hoffnung darauf, dass er das Rätsel aufklären könne. Er wusste jetzt schon, dass er sie enttäuschen musste. Er wusste ja genau so wenig wie Julie, was mit ihnen geschehen war. Aber er konnte ihr Hoffnung auf etwas anderes geben – dass der Doctor ihnen helfen würde.
Er begann zu erzählen. Wie er in der Raumstation aufwachte nach dem Kampf gegen die Daleks, als er eigentlich tot sein sollte. Wie er feststellte, dass nicht nur er wieder auferstanden war, sondern alle auf der Station, die getötet worden waren. Wie er erkannte, dass nur er unsterblich geworden war. Wie er es schaffte, auf die Erde – die Erde des 2. Jahrhunderttausends – zu gelangen.
Jack sah sie an. Nachdenklich erwiderte sie seinen Blick. Seiner Erzählung der Ereignisse auf Station 5 hatte sie völlig ruhig zugehört. Als ob Raumstationen und Zeitsprünge nichts Besonderes für sie seien.
Jack lächelte, als er weiter sprach. Darüber, wie er vom Jahr 200.000 mit Hilfe seines Vortexmanipulators hierher ins 19. Jh. gelangte, wenn auch nicht ganz freiwillig.
„Ich wollte eigentlich ins 20. oder 21. Jh.", sagte er, „aber erstens funktioniert das Gerät anscheinend nicht mehr so genau, wie es sollte, und zweitens vermute ich, dass auch bei mir das Rift dazwischengefunkt hat."
Doch mit ihrer Reaktion, als er den Vortexmanipulator erwähnte, hatte er nicht gerechnet. Ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck völliger Verblüffung.
„Die Time-Agency", rief sie aus, „Du bist ein Zeitagent?"
Das verschlug ihm nun die Sprache. Seine Gedanken rasten. Woher kannte sie die Time-Agency, die doch immer so stolz darauf gewesen war, dass niemand Außenstehender von ihrer Existenz wusste? Es sei denn, sie gehörte selbst dazu – oder hatte mit ihr zu tun gehabt.
Julie sah ihn scharf an, sie wartete offensichtlich auf eine Antwort. Und ihr Gesichtsausdruck sagte, dass sie von der Agency nicht besonders viel hielt. Also war es wahrscheinlich, dass sie schon mit ihr zu tun gehabt hatte. Und die Agency bzw. ihre Leute hatten offensichtlich keinen positiven Eindruck hinterlassen.
Endlich fand er die Sprache wieder. „Nein", sagte er gedehnt, um sich noch etwas mehr Zeit zu verschaffen. „Ich habe früher für sie gearbeitet. Danach habe ich mich selbstständig gemacht – sozusagen …"
„Und den Manipulator haben sie dir großzügigerweise überlassen?!" meinte sie sarkastisch.
Jetzt war Jack wieder auf gewohntem Terrain. Grinsend meinte er: „Natürlich nicht. Ich habe ihn sozusagen als Anerkennung geleisteter Dienste einbehalten." Daraufhin musste Julie lachen. Auch Jack musste grinsen, so ansteckend war dieses Lachen. Doch sie hörte gar nicht mehr auf. Langsam wurde ihm etwas unbehaglich.

***

Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen. Dieser letzte Satz war so typisch für den Mann, der ihr da gegenübersaß, wie sie ja aus eigener Beobachtung wusste. Immer, wenn sie sich halbwegs beruhigt hatte, musste sie wieder an diesen einen Satz denken und an Jacks Gesichtsausdruck dabei. Und dann fing sie erneut an zu lachen. Er schaute schon ganz beunruhigt, weil sie einfach nicht aufhörte. Schließlich schaffte sie es doch noch, sich wieder in den Griff zu bekommen.
Sie holte erst einmal tief Atem, dann erklärte sie ihm, was sie so erheitert hatte. „Du warst also bei der Time-Agency. Und als dir klar wurde, dass du wesentlich mehr verdienen konntest, wenn du auf eigene Rechnung arbeitest, hast du dich abgesetzt. Ohne auch nur ‚Auf Wiedersehen’ zu sagen. Und den so nützlichen Zeitmanipulator hast du natürlich vergessen zurückzugeben." Sie grinste ihn an, er grinste spitzbübisch zurück.
Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, sonst wäre sie schon wieder in Lachen ausgebrochen. Sie bedeckte Ihr Gesicht mit den Händen und holte ein paar Mal tief Luft. Als sie die Hände wieder sinken ließ, bemerkte sie Jacks forschenden Blick.
„Woher kennst du denn die Time-Agency?" fragte er. Julie antwortete nicht sofort.
Dann sagte sie: „Ich hatte schon mit ihr zu tun." Ihr entging nicht, dass Jack genau wusste, dass sie auswich.
„In deinem ‚früheren Leben’?" hakte er nach.
Sie nickte, dann wechselte sie schnell das Thema. „Irgendetwas ist also zwischen deinem Tod und deiner Auferstehung geschehen. Weißt du vielleicht, was?" Jack schüttelte den Kopf. „Nein, keine Ahnung. Deshalb bin ich ja hierher gekommen, um Antworten zu finden."
Sie sah ihn hoffnungsvoll an. "Und was ist mit deinem Vortexmanipulator? Kann er uns wenigstens in eine Zeit bringen, wo wir bessere Chancen haben, Antworten zu finden?"
Wieder schüttelte er den Kopf. "Meinst du, ich hätte es nicht versucht? Das Gerät ist bei meinem Sprung hierher ausgebrannt."
Julie war zutiefst enttäuscht. Sie hatte sich so viel von dieser Begegnung erhofft. Tränen stiegen ihr in die Augen. Um das zu verbergen, senkte sie den Kopf. Seine Gefühle verrieten, dass er die Wahrheit sagte. Sie saßen hier fest für wer weiß wie viele Jahre, wenn nicht sogar für immer.

***

Ihre Enttäuschung über seine Antwort war fast körperlich zu spüren. Julie ließ den Kopf hängen, sie sackte förmlich in sich zusammen. Aber Jack hatte noch gesehen, dass es in ihren Augen verdächtig glänzte. Das hatte er doch gerade vermeiden wollen. Er hatte es noch nie mit ansehen können, wenn Frauen weinten, dachte er.
Jack legte seine Hand auf ihre, die sie wie stützend auf ihren Oberschenkel gelegt hatte, genau wie die andere. Sie zog sie nicht weg, sondern drehte ihre so, dass sie seine fassen konnte. Sie blickte ihn an. Die Tränen waren verschwunden, aber er sah tiefe Verzweiflung in ihren Augen.
"So viele Jahre. Und ich hoffe immer noch, wieder nach Hause zu gelangen", sagte sie leise. Es klang, als rede sie eigentlich nur mit sich selbst.
Jack öffnete den Mund, um ihr vom Doctor zu erzählen, da entzog sie ihm ihre Hand und stand auf einmal auf. "Ich muss jetzt gehen", sagte sie und wandte sich zur Tür.
Er stand ebenfalls auf und hielt sie am Arm fest.
"Hey, hey", sagte er. "Wo willst du denn auf einmal hin?"
Sie drehte sich zu ihm um. Sie senkte den Kopf. "Ich bin müde", sagte sie. "Ich muss mich ausruhen." Sie entzog ihm ihren Arm, setzte ihre Mütze wieder auf und ging.
Jack ließ sie gehen. Er wollte erst über das nachdenken, was sie ihm erzählt hatte.

Am nächsten Morgen hatte er eine Entscheidung getroffen. Also machte er sich auf die Suche nach ihr. Es war nicht so einfach, sie zu finden, wie er gedacht hatte. Er konnte zwar eine grobe Richtung spüren, aber sie bewegte sich ebenfalls. Und da er diese Fähigkeit zum ersten Mal nutzte, irrte er mehr durch Cardiff, als dass er ihrer Spur konsequent folgte.
Nach etlichen Stunden, es war schon Mittag, führte ihn seine Expedition auf ein freies Gelände am Rande von Cardiff. Hier lebten Zigeuner und fahrendes Volk, die ihn misstrauisch beobachteten, als er durch das Lager ging. Er sah nur Zelte, elende Bretterhütten und bunt bemalte Wagen, in denen ganze Familien lebten. Die Kinder liefen ihm bald hinterher. Hier war er der Fremde, der auffiel.
Dann fand er Julie. Erst erkannte er sie nicht, denn sie sprach mit einem der anderen Schausteller und drehte ihm den Rücken zu. Außerdem trug sie nun einen äußerst farbenfrohen Mantel, unter dem ein langer Rock hervorschaute, und um den Kopf gewickelt ein buntes Tuch, wie einen Turban. Aber darunter baumelte der schwarze Zopf, den sie gestern um den Kopf gewunden hatte. Daran hätte er sie auch erkannt, wenn das Gefühl ihn nicht direkt zu ihr geführt hätte.
Als er näher kam, sagte sie, ohne sich umzudrehen: "Hallo Jack!" Ihr Gesprächspartner sah ihn misstrauisch an. Doch auf ein Zeichen von Julie ging er davon. Sie drehte sich nun zu Jack um und sah ihn an.

***

Sie war nicht überrascht, als er am nächsten Tag vor ihr stand. Warum auch? Sie war zwar gestern zutiefst enttäuscht fort gegangen, aber nach etwas Ruhe zum Überlegen hatte alles schon ganz anders ausgesehen.
Julie hatte noch in der Nacht die Zeitlinien überprüft. Auch so eine Fähigkeit, die sich aus ihrem vorigen Leben erhalten hatte. Nur war es für sie nun anstrengend und kompliziert geworden, so eine Überprüfung durchzuführen. Zu stark verzweigten sich die Linien schon nach kurzer Zeit mit jeder Entscheidung, die zu treffen war. Es blieb nur, aus einer fast unendlichen Anzahl von Möglichkeiten die wahrscheinlichste Ereigniskette heraus zu filtern. Ohne verlässliche Kenntnisse über die Person, deren Zeitlinie sie folgte, wäre so eine Überprüfung zwecklos gewesen. Sie verfluchte wieder einmal diesen menschlichen Körper, dieses Hirn mit seinem linearen Zeitempfinden, das sie so einschränkte.
Aber sie wollte ja nur wissen, wie wahrscheinlich es war, dass Jack diese Zeit bald verlassen würde. Und ob sich ihre Wege hier trennten. Dazu musste sie nur ihre eigene Linie für die nächste Zukunft prüfen. Erleichtert stellte sie fest, dass Jack nicht einfach so verschwinden würde. Sie würde ihn – wahrscheinlich schon am nächsten Tag – wieder treffen.
Also ging sie ihren üblichen Beschäftigungen nach. Aber sie war sich jederzeit bewusst, wo Jack sich aufhielt. Deshalb ging sie schon zeitig zum Lager der Gaukler. Sollte er ruhig glauben, dass sie im Schaustellerlager lebte.

Als er dort ankam, war sie gerade in eine Diskussion mit Charles, dem Leiter der Truppe, verwickelt. Er wollte sie unbedingt überreden, mit ihnen auf die nächste Reise zu gehen. Charles hatte große Pläne. Er wollte bis nach London mit seiner Truppe, mindestens drei Monate würden sie unterwegs sein.
Aber Julie wollte Cardiff nicht verlassen, nicht jetzt. Doch Charles ließ nicht locker. So war sie ganz froh, dass Jacks Eintreffen das Gespräch erst einmal beendete.
Jack wartete, bis Charles außer Hörweite war, dann sagte er: „Ich möchte dir ein Angebot machen." Julie lächelte ihm zu. „Lass’ uns in mein Zelt gehen, da sind wir ungestört", sagte sie. Also gingen sie schweigend nebeneinander durch das Lager bis zu einem buntbemalten Zelt. Die Bilder darauf warben für eine „Madame Zara, Wahrsagerin und Handleserin". Jack sah sie fragend an, sie lächelte verschmitzt.
„Ja, das bin ich", sagte sie nickend. „Irgendwie muss ich ja mein Geld verdienen." Sie lachte über seinen verblüfften Gesichtsausdruck. „Nun sei nicht so überrascht – immer noch besser als deine Art, sich den Lebensunterhalt zu sichern - vor allem nicht so gefährlich." Jack verzog das Gesicht, die Bemerkung passte ihm wohl nicht.
Julie schob den Vorhang zur Seite, der den Eingang verdeckte, und sie betraten das Zelt. Die Möblierung bestand aus einem Tisch mitten in dem kleinen Raum, mit zwei Stühlen davor und einem dahinter. Natürlich war auch eine Kristallkugel vorhanden. Sie zündete eine Petroleumlampe auf dem Tisch an.
Julie setzte sich auf den einzelnen Stuhl, Jack auf einen der anderen. Es dauerte etwas, bis Jack anfing zu sprechen. Julie schwieg, ließ ihm Zeit. Dann sagte er: „Ich habe nachgedacht. Wir sitzen beide fürs Erste hier fest. Also, warum tun wir uns nicht zusammen?" Er sah sie an. Julie lächelte und nickte.

***

Also schlossen sie eine Allianz. Und Jack erzählte ihr von seinem Plan, auf den Doctor zu warten, er wisse ganz sicher eine Lösung für ihr Problem.
Julie fragte daraufhin verständnislos, was denn ein Doktor für sie tun können, schließlich seien sie ja nicht krank.
Jack lachte laut los. Sie sah ihn erst erstaunt an, dann lächelte sie auf einmal, stützte das Kinn in ihre Hände und wartete, bis er aufhörte zu lachen. Ihr Gesichtsausdruck ließ ihn schnell wieder ruhig werden. In dem Schein der Lampe sah sie aus wie eine Katze, die gerade heimlich von der Sahne genascht hatte, schoss es Jack durch den Kopf. Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen grinsend an.
„So, so, der Doctor also", sagte sie gedehnt und lächelte.
„Sind wir jetzt bei der Wahrsagenummer?" fragte er ironisch. Sie lachte und ging auf sein Spiel ein. Ihre Augen blitzten.
"Soll ich ihnen aus der Hand lesen, Sir? Ich kann Ihnen Ihre Zukunft verraten." Ohne seine Antwort abzuwarten, griff sie nach seiner Hand, zog sie zu sich, drehte die Handfläche nach oben und beugte sich darüber. Sie fuhr mit einem Finger die Linien darin nach.
„Mal sehen, mit was für Leuten Sie sich herumtreiben, Sir. Mhhmm, erst die Agency, dann noch ein Timelord. Nicht gerade die beste Gesellschaft für einen feinen Herrn."
Plötzlich war Jack gar nicht mehr nach Spaßen zumute, ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er versuchte, Julie seine Hand zu entziehen, aber sie hielt sie fest. Sie sah ihn schräg von unten mit einem feinen Lächeln an. Dann ließ sie seine Hand los. Jack sah sie stirnrunzelnd an.
„Was hast du gesagt? Timelord? Woher kennst du diesen Begriff?" fragte er alarmiert.
Sie lächelte noch immer. „Als du gelacht hast, ist mir mein Fehler aufgefallen. Kein Arzt, kein Doktor– DER Doctor. Und es gibt nur ein Wesen, das sich so nennt. Jetzt wird mir auch einiges andere klar. Er hat etwas mit dem Unfall zu tun, das ist gewiss. Das Herz der TARDIS besitzt eine direkte Verbindung zum Time Vortex, es bezieht daraus seine Energie. Und eine Entladung des Time Vortex wäre in der Lage, so etwas, wie es uns zugestoßen ist, zu bewirken!"
Jack war sprachlos, er starrte Julie mit offenem Mund an. Das erste, was er herausbrachte, als er sich wieder gefangen hatte, war: „Woher weißt du das alles?"
Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Diese Sachen sind einfach irgendwann da. Manchmal reicht ein bestimmtes Wort und alles erscheint in meinem Kopf. Ich vermute, das sind auch Überreste aus meinem ‚früheren Leben’."
Jack sah sie zweifelnd an. Sie lächelte schief und hob entschuldigend die Hände.
„Zumindest haben wir einen Anhaltspunkt. Du hoffst also, der Doctor wird irgendwann hier erscheinen?"
Jack nickte. „Er ist schon einmal hier gewesen, um die TARDIS aufzutanken – am Rift. Da habe ich ihn getroffen. Er müsste also wieder hier auftauchen, dessen bin ich mir sicher. Allerdings war das im 20. Jh., genauer im 2. Weltkrieg. Und ich habe keine Ahnung, ob bzw. wann er vorher schon mal hier war."
Er blickte zu Julie, als erwarte er von ihr eine Antwort. Doch sie schien völlig weggetreten. Ihre Augen waren glasig, ihr leerer Gesichtsausdruck ließ ihn schaudern. Ihre Lippen bewegten sich, aber er hörte nichts. Jack beugte sich zu ihr herüber und schüttelte sie leicht an der Schulter. Ihr Kopf pendelte hin und her, sie reagierte nicht. Aber er meinte etwas von dem zu verstehen, das sie flüsterte: „viel ... hundert … Torchwood …."
Beunruhigt stand er auf und trat neben Julie. Er packte sie mit beiden Händen bei den Schultern und schüttelte sie energischer als vorher. Sie hob den Kopf und schaute ihn an. Er konnte sehen, wie das Bewusstsein in ihre Augen zurückkehrte. Erleichtert richtete er sich auf.
Sie strich sich mit der Hand über ihr Gesicht. Jack sah sie stirnrunzelnd an.
„Was war das denn?" fragte er ironisch, um seinen Schrecken zu überspielen. „Gehörte das mit zur Show?"
Julie schaute noch etwas verwirrt, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, Jack. Sieh’ mal, nicht alles beruht darauf, den Leuten einfach etwas zu erzählen. Ich kann tatsächlich so etwas wie die Zukunft sehen – natürlich nicht, indem ich aus der Hand lese."
Jack schaute sie ungläubig an. „Du willst mir allen Ernstes erzählen, dass du wahrsagen kannst?" Er schüttelte den Kopf. „Das kannst du den Leuten hier vielleicht weismachen."
Julie zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Glaub’s oder glaub’s nicht." Als sie aufstand, schwankte sie ein wenig. Jack hielt sie fest. „Langsam, langsam", sagte er.
Sie lachte schon wieder, hakte sich bei ihm ein und meinte: „Komm, lass’ uns etwas essen. Ich habe einen Bärenhunger!"
Jack lachte ebenfalls erleichtert, und ließ sich aus dem Zelt ziehen.

***

Die Macht, mit der sie die Vision überfiel, hatte sie erschreckt. Noch nie war es so plötzlich über sie gekommen wie dieses Mal. Sie hatte einfach keine "Visionen", sie war ja keine Hellseherin. Wenn sie die Zeitlinien verfolgte, waren die Erkenntnisse rein wissenschaftlich und nicht so verschwommen und bruchstückhaft wie jetzt.
Julie konnte sich nur mit Mühe Einzelheiten ins Gedächtnis rufen. Sie hatte nie versucht, so weit in die Zukunft zu schauen. Das war viel zu anstrengend und das Ergebnis viel zu zweifelhaft. Und die Vision hatte sie weit voraus geschickt – bis zur Ankunft des Doctors würde noch über ein Jahrhundert vergehen, das hatte sie erkannt.
Irgendwie hatte sie das Gefühl, diese Vision sei kein Ergebnis ihrer eigenen Fähigkeit gewesen, sondern von jemand anderem geschickt worden. Julie fielen zwar ein paar Wesen ein, die auf dieser Welt dazu in der Lage waren, sich aber äußerst selten zu solch einer Aktion hinreißen ließen. Sie waren normalerweise sehr zurückhaltend in dieser Hinsicht.
Also, welchem Zweck sollte das dienen, fragte sie sich ratlos. War sie überhaupt das Ziel oder jemand anderer? Sie schaute den Mann an ihrer Seite kurz aus den Augenwinkeln an. Sollte eines dieser Wesen ein Interesse daran haben, Jack zu warnen? Aber aus welchem Grund?
Denn sie hatte noch etwas anderes gesehen: Bis zur Ankunft des Doctors kamen turbulente, ja gefährliche Zeiten auf sie zu. Immer wieder war ein Name in all den Jahrzehnten aufgetaucht: Torchwood. Julie konnte nichts damit anfangen, sie kannte das Wort nur als Bezeichnung für einen tropischen Baum.
Sie schob die grüblerischen Gedanken entschlossen zur Seite. Im Moment konnte sie sowieso nichts machen. Und ihr Magen knurrte so laut, dass sie an nichts anderes mehr denken konnte als sich so schnell wie möglich etwas zu essen zu beschaffen.
Dass Jack ihr nicht glaubte, konnte sie ihm nach dieser „Vorstellung" nicht mal übel nehmen. Fast hätte sie gelacht, als sie sich an sein Mienenspiel erinnerte, nachdem sie wieder zu sich gekommen war. Ein leises Kichern konnte sie auch nicht unterdrücken. Sie bemerkte Jacks Seitenblick.
„Ach nichts", sagte sie lächelnd. Sie führte Jack zu einer Feuerstelle im Lager. Dort waren Tische und Bänke aufgestellt und ein großer Kessel hing über dem Feuer, aus dem es verführerisch duftete. Viele der Schausteller hatten sich hier versammelt, um gemeinsam zu essen.

***

Julie wurde von den an der Feuerstelle versammelten Leuten freundlich begrüßt, er allerdings mit misstrauischen Blicken bedacht. Er fühlte sich hier ziemlich unbehaglich, was er wie immer zu überspielen suchte, indem er in die Offensive ging. Er verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln und sagte laut: „Hallo alle zusammen, mein Name ist Jack Harkness. Erfreut Sie kennen zu lernen." Er löste sich von Julie und ging mit ausgestreckter Hand auf den Mann zu, den er als Anführer ausgemacht hatte. Es war der Mann, mit dem Julie gesprochen hatte, als er angekommen war.
Jack bemerkte nicht, dass Julie hinter ihm lächelnd, aber mit leicht verzweifeltem Gesichtsausdruck den Kopf schüttelte. Etliche Leute sahen sie irritiert an, aber sie gab ihnen mit Gesten zu verstehen, nichts zu tun.
Der Mann, den er für den Anführer hielt, schüttelte ihm also die Hand und stellte sich ebenfalls vor: „Charles McArthur, seien Sie gegrüßt." Er neigte leicht den Kopf. Jack nickte ebenfalls und sagte: „Ich nehme an, Sie sind der Chef dieser Truppe?" Ein Grinsen stahl sich in McArthurs Gesicht, dann konnte er sich nicht mehr halten und lachte laut. Auch die anderen Schausteller brachen in Gelächter aus. Jack blickte verdutzt von einem zum anderen.
Julie kam nun heran und stellte sich neben Jack. Sie hielt schon eine Schüssel mit Essen in der Hand. Auch sie lachte. „Ich will euch ja nicht unterbrechen", sagte sie fröhlich, „aber ich muss da wohl einiges aufklären." Sie nickte McArthur zu. „Charles mag zwar so aussehen …" McArthur grinste schon wieder, „aber er hat hier nicht das Sagen." Er zuckte mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck die Schultern, dann lachte er wieder. Auch einige der anderen Schausteller grinsten.
Julie drehte Jack etwas herum und zeigte auf die Frau, die an der Feuerstelle das Essen austeilte. „Suzannah ist hier die Chefin." Die Frau hob den Kopf, als sie ihren Namen hörte und nickte ihnen lächelnd zu. Jetzt lachten die anderen ganz unverhohlen über ihn. Also ging Jack wieder in die Offensive.
Er ging zu der Frau und verbeugte sich vor ihr. „Entschuldigen Sie meinen Fehler, Madam. Ich hätte es sofort sehen müssen, bei Ihrer Schönheit und Würde." Suzannah sah ihn an und lachte, aber man konnte erkennen, dass sie geschmeichelt war. Jack lächelte zufrieden. Situation gerettet. Bis er Julies Ellenbogen in der Seite fühlte. Er warf ihr einen Blick zu.
„Entschuldige, Suzannah, er ist neu hier …", sagte sie ironisch zu der Frau. Dann blickte sie ihn an: „Nun komm schon, Jack", sagte sie zu ihm und wedelte mit dem Löffel, „du hast dich für heute genug zum Narren gemacht. Außerdem will ich endlich essen, mein Essen wird schon kalt." Sie schaute ihn schelmisch an, ging zu einem der Tische und setzte sich. Jack wollte ihr folgen, aber Suzannah drückte ihn erst noch eine Schüssel mit Eintopf und einen Zinnlöffel in die Hand. „Lass’ es dir schmecken", sagte sie lächelnd. Jack setzte sich gegenüber von Julie an den Tisch und begann zu essen.
Der Eintopf war köstlich, es war sogar Fleisch darin. „Frag’ lieber nicht, woher das Fleisch stammt", hörte er Julie sagen. Verblüfft schaute er sie an. Sie grinste. „Daran hast du doch gerade gedacht, gib’ es zu."
Jack wurde flau, er schob die Schüssel von sich. Julie lachte.
„Nein, du kannst ruhig weiter essen. Es ist Kaninchen – ist uns zugelaufen." Jack lachte, als ihm aufging, was sie damit sagen wollte, und aß beruhigt weiter.

So führte Julie ihn in die Welt der Schausteller ein. Durch ihre Fürsprache wurde Jack bald akzeptiert und fand sogar Gefallen an diesem Leben. Es hatte seinen eigenen Reiz und war in mancher Hinsicht leichter und unkomplizierter als das in der "normalen" Cardiffer Gesellschaft.
Julie genoss bei den Schaustellern ein hohes Ansehen, wie Jack allmählich erfuhr. Sie hielt sich zwar im Hintergrund, aber ihr Wort hatte Gewicht und viele suchten ihren Rat.
Langsam dämmerte es Jack, dass sie nicht durch Zufall als Wahrsagerin arbeitete. Ihre Voraussagen trafen häufiger ein, als es hätte sein dürfen, wenn sie nur raten würde. Und sie hatte eine Art sechsten Sinn in Bezug auf Gefahren. Waren mal wieder die „Hüter des Gesetzes" im Anmarsch, warnte Julie das ganze Lager schon, bevor die Polizisten es erreichten, so dass diese nichts Verdächtiges fanden.
Dann kam Jack wieder das Erlebnis in ihrem Zelt in den Sinn, dass er so überzeugt als Show abgetan hatte. Sollte sie tatsächlich in die Zukunft sehen können? Aber nein, das konnte nicht sein, sagte er sich. Er erklärte es sich mit ihrer Empathie.
Julie half ihm auch, sich in dieser Epoche besser zurechtzufinden. Sie meinte, er führe sich manchmal auf wie ein Elefant im Porzellanladen, weil er die Gepflogenheiten dieser Zeit doch nicht so gut kannte, wie er geglaubt hatte. Spöttisch zog sie ihn damit auf, dass seine Kenntnisse wohl für eine Stippvisite der Time-Agency reichten, aber eben nicht, wenn er längere Zeit hier verbringen müsse.
Aber er wollte auf seine "Unternehmungen" nicht verzichten, er musste ja schließlich von irgendwas leben. Dabei wurde Julie ihm bald eine große Hilfe. Er merkte schnell, dass manches leichter lief, wenn eine hübsche Frau anwesend war. Und sie half ihm oft, grobe Schnitzer zu vermeiden. Außerdem "verdienten" sie so wesentlich mehr.
Allerdings lehnte es Julie kategorisch ab, einen Anteil davon anzunehmen. Sie behauptete, sie sei auf das Geld nicht angewiesen, er brauche es dringender. Aber über die Geschenke, die er anfing ihr stattdessen zu machen, freute sie sich.
Jack entwickelte einen Ehrgeiz darin, besondere Objekte für sie aufzuspüren. Zu seinem Erstaunen konnte er ihr mit Schmuck keine Freude machen. Aber er bemerkte bald, dass sie eine Schwäche für Kuriositäten aus fernen Ländern hatte. So etwas zu finden stellte für ihn in der Hafenstadt Cardiff keine große Schwierigkeit dar.
Doch manchmal war Julie einfach verschwunden, teilweise sogar für Tage. Jack wusste durch das Band, dass sie sich nicht weit entfernte. Als er sie darauf ansprach, sah sie ihn ganz erstaunt an. Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass er sich Sorgen machen könnte. Danach nahm sie ihn einmal mit zu den Orten, die sie dann aufsuchte. Es waren die Stellen, an denen sich Risse bildeten, ausgehend von dem Rift unter Cardiff. Bald begleitet Jack sie häufiger auf diesen Exkursionen.
Julie gab die Hoffnung nicht auf, dass etwas, das durch einen der Risse gelangte, ihnen helfen könne. Sie wollte nicht einfach nur auf den Doctor warten. Ab und zu nahm sie eines der Artefakte mit, die sie dort fand. Sie schien mit schlafwandlerischer Sicherheit zu erkennen, welche das Aufsammeln lohnten. Aber die meisten waren schon zerstört oder beschädigt. Eben Abfall, wie ihn das Rift zuhauf hier ablud.
Wenn Lebewesen durch die Risse gelangten, zog Julie sich zurück. Viele überlebten die ersten Minuten auf der Erde schon nicht, andere starben in den nächsten Stunden. Nur wenige kamen mit den Umweltbedingungen zurecht, und noch weniger konnten sich so anpassen oder verbergen, dass sie längere Zeit überlebten. Mit keinem dieser Wesen nahm sie Kontakt auf, obwohl Jack ihr das immer wieder vorschlug.

Es bestand von Anfang an eine Sympathie zwischen ihnen, die Jack nicht nur auf die ihn immer noch etwas unheimliche Verbindung schieben konnte.
Jack hätte auch nichts dagegen gehabt, wenn daraus mehr geworden wäre. Meistens war der Umgang mit ihr kameradschaftlich, sie arbeiteten zusammen. Aber dann war da etwas, das Julie sagte, oder wie sie ihn anblickte. Sie hatte, anders als in dieser Epoche üblich, keine Scheu vor Kontakt, berührte ihn so oft, küsste ihn - manchmal hatte er den Eindruck, sie flirte mit ihm. Aber dieser Augenblick verging, und dann war er sich nicht mal mehr sicher, ob es tatsächlich so gewesen war oder er sich das nur einbildete. Wenn er auf ihre Küsse anders als freundschaftlich reagierte, entzog sie sich ihm. Nicht abwehrend oder ängstlich, eher bedauernd, wie es Jack schien. Aber er traute sich, ganz gegen seine sonstige Natur, nicht, weiter zu gehen. Er war sich nicht sicher, wie tief sie den Moralvorstellungen dieser Epoche verhaftet war, und wollte ihre Partnerschaft nicht aufs Spiel setzen.
Es kam ihm fast wie ein Spiel vor – oder wie ein Tanz.
Manchmal machte es ihn fast rasend, aber er konnte seine sexuellen Spannungen auch anderswo abreagieren. Gelegenheiten fand er in Cardiff genug.
So kreisten sie umeinander wie zwei Planeten mit unterschiedlichen Umlaufbahnen, die aber durch die Anziehungskraft aneinander gebunden waren. So beschrieb Jack es. Julie lachte, als er es ihr erzählte. Ihr gefiel der Gedanke anscheinend.

***

Sie hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit über 250 Jahren wieder vollständig zu sein – beinahe jedenfalls. Es war nicht genau das, was sie immer noch so schmerzlich vermisste, kam ihn aber schon recht nahe. Sie war nicht mehr allein.
Jack brachte sie zum Lachen, bei ihm musste sie sich nicht verstellen. Zum ersten Mal machte es ihr nichts mehr aus, hier auf der Erde festzusitzen. Ja, allmählich begann es ihr sogar Spaß zu machen.
Allerdings gab es einige „Startschwierigkeiten". Julie war es nicht gewohnt, mit jemandem zusammen zu arbeiten. Zu lange hatte sie sich nur auf sich selbst verlassen können und sich auch nur um sich selbst kümmern müssen. So kam es ihr gar nicht in den Sinn, dass er sie suchen könnte, wenn sie mal wieder zu einem ihrer Streifzüge aufbrach und niemand wusste, wo sie war. Als er sie darauf ansprach, bekam sie auch prompt ein schlechtes Gewissen. Zum Ausgleich nahm sie ihn beim nächsten Mal mit.
Jack war erstaunt, als er erfuhr, wohin ihre „Ausflüge" sie führten. Er war noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass das Rift ihnen irgendwie nützlich sein könnte. Aber dann war auch er sehr daran interessiert. Vor allem, als ihm klar wurde, dass sie einige der Geräte, die sie manchmal mitnahm, gut gebrauchen konnten. Julie trug immer ein bis zwei mit sich herum, die klein genug waren. Jack bezeichnete sie als „Alien-Spielzeuge", merkte aber schnell, dass sie oft nützlich waren – als Waffen oder Werkzeuge.
Sie freute sich jedes Mal, wenn er sie auf ihren Streifzügen begleitete, obwohl es dabei auch Meinungsverschiedenheiten gab. Jack konnte nicht verstehen, warum sie mit den Lebewesen, die manchmal durch die Risse gelangten, nie Kontakt aufnahm. Sie sah nur die Gefahr, die von diesen Wesen ausging. Er versprach sich davon Informationen, die ihnen vielleicht helfen könnten. Aber auf ihre Frage, wie sie sich denn mit ihnen verständigen sollten, wusste er auch keine Antwort.
Und er hatte Mitleid. Jack wollte die Gestrandeten durch die Risse wieder zurückschicken. Etwas, dass ihr nie in den Sinn gekommen war. Julie wusste, dass das nicht möglich war. Niemand konnte sagen, wohin die Risse von der Erde aus führten – an welchen Ort und in welche Zeit. Aber Jack gab sich damit nicht zufrieden, so wie er immer unzufrieden war, wenn er nichts tun konnte.
Julie lächelte. Sie hatte schon lange den Verdacht, dass Jack es einfach nicht ertragen konnte, nichts zu tun. Er konnte einfach nicht abwarten. Das war ein Grund dafür, dass er dauernd in Schwierigkeiten geriet. Deshalb hatte sie ja auch damit begonnen, ihn bei seinen „Verabredungen" zu begleiten.
Hatte sie vorher immer ängstlich darauf geachtet, bloß nicht aufzufallen, wurde sie jetzt mutiger. Sie ergänzten sich ideal: Etwas von Jacks Unbekümmertheit färbte auf Julie ab, und sie bremste ihn, wenn er mal wieder zu forsch vorpreschen wollte oder seine große Klappe mit ihm durchging. Lange konnte sie ihm sowieso nicht böse sein. Dazu genoss sie seine Gesellschaft viel zu sehr.
Längst war es keine bloße Zweckgemeinschaft mehr, nicht für sie und nicht für Jack. Sie spürte den Reiz, den Jack auf sie ausübte. Dass Jack ebenso empfand, bekam sie ja direkt mit. Oft flirtete sie auch mit ihm oder gab ihm spontan einen Kuss. Sie konnte sozusagen ihre Hände nicht von ihm lassen.
Aber sobald sie spürte, dass er darauf reagierte, zog ihr Verstand die Notbremse. Niemals wieder würde sie jemandem die Chance bieten, sie als sein Eigentum zu betrachten. In Bezug auf Jack fiel ihr das allerdings immer schwerer.
Und sie machte sich Sorgen. Er gab seine kleinen "Unternehmungen" nicht auf, obwohl sie ihn immer wieder darum bat. Denn sie konnte das Gefühl der Gefahr aus ihrer Vision nicht aus ihrem Kopf verbannen. Doch er hörte nicht auf ihre Warnungen.

***

Die Gaukler waren verschwunden! Damit hatte er nicht gerechnet. Das Lager war verlassen, nur die Feuerstellen und die hellen Flecke, wo Zelte gestanden hatten, waren noch zu erkennen. Jack blieb fast das Herz stehen. Hatte Julie Cardiff jetzt endgültig verlassen, einfach so? Er wollte sich nach einer durchzechten Nacht mit ihr treffen, ein bisschen angeben und mit ihr seinen neuesten Gewinn feiern. Also war er wie gewohnt zu dem Schaustellerlager gegangen. Und dann das!
Er horchte in sich hinein, suchte nach dem Band. Er hatte diesmal darauf verzichtet, ihm zu Julie zu folgen, wie er es meistens machte, sondern war einfach davon ausgegangen, dass sie zu dieser frühen Stunde hier sein musste. Die Verbindung zeigte ihm an, dass sie Cardiff nicht verlassen hatte. Jack atmete auf. Aber gleichzeitig fragte er sich, wo sie untergekommen war, jetzt, wo das Lager fort war.
Also folgte er dem Band. Sein „Kompass" führte ihn in eine Gegend, in der er noch nie gewesen war, knapp außerhalb der Stadtgrenze von Cardiff, schon inmitten von Feldern und Gärten. Vor einem Haus aus rotem Ziegel blieb er stehen. Das Gefühl sagte ihm, dass Julie sich darin befand, aber er verstand es nicht. Dieser zweistöckige Bau sah aus wie der Sitz eines vermögenden Bürgers.
Wohnte hier vielleicht ihr Liebhaber? schoss es Jack durch den Kopf. Lagen sie womöglich noch zusammen im Bett?
Er stellte fest, dass der Gedanke ihm einen Stich versetzte. Und gleichzeitig ärgerte er sich über sich selbst. Du bist doch wohl nicht eifersüchtig? fragte er sich selbst. Oder war er wütend, weil sie es vor ihm geheim gehalten hatte? Jack schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war er noch leicht benebelt von den Unmengen Schwarzgebranntem, den er in der letzten Nacht in sich hineingeschüttet hatte, redete er sich ein. Das war bei manchen seiner „Geschäfte" einfach unumgänglich.
Alkohol machte ihm eigentlich nichts aus, seit er unsterblich geworden war. Und dass er beinahe nüchtern blieb, während alle anderen immer betrunkener wurden, war ein unschätzbarer Vorteil. Aber die Leber brauchte einfach ihre Zeit, um die enorme Menge Alkohol zu verarbeiten.
Jack suchte sich ein trockenes Plätzchen, von dem aus er den Hauseingang bequem im Auge behalten konnte, und richtete sich auf eine längere Wartezeit ein. Bis die Bewohner des Hauses erwachten, würde er auch wieder vollkommen nüchtern sein.
Aber so lange, wie er gedacht hatte, dauerte es gar nicht. Es war gerade hell geworden, da trat Julie aus der Tür und kam schnurstracks auf ihn zu.
"Hallo, Jack", sagte sie und lächelte. Sie stand in eine Decke gewickelt vor ihm, darunter lugten eine dünne Hose und Pantoffeln hervor. Jack stand auf. "Störe ich dich bei irgendetwas?" fragte er provozierend. Aber sie reagierte nicht so wie er angenommen hatte. ihr Lächeln wurde eher noch breiter. "Komm' doch herein", sagte sie und machte eine Geste auf das Haus hin. Dann drehte sie sich einfach um und ging darauf zu. Jack kam sich etwas blöd vor. Wenn das das Haus ihres Liebhabers war, würde sie ihn dann so einfach hereinbitten? Natürlich nicht. Er gab sich einen Ruck und folgte ihr.
Julie wartete an der Tür auf ihn. Als er zu ihr aufschloss, stieß sie die Tür auf. "Willkommen in meinem Heim", sagte sie theatralisch und grinste ihn an. Jack sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie gab ihm einen kleinen Stoß. "Los, rein mit dir!"
Sie führte ihn durch das Haus. Jack folgte ihr schweigend, doch sein Erstaunen wurde immer größer.
Ein altes Ehepaar kümmerte sich darum. Es bewohnte die untere Etage, Julie die Zimmer im Obergeschoss, wie sie Jack erklärte. Den alten Leuten hatte sie weisgemacht, dass sie Händlerin sei und Antiquitäten und Exotica kaufte und verkaufte. Das reichte ihnen auch als Begründung, warum Julie manchmal für längere Zeit nicht auftauchte. Außerdem wohnte das Ehepaar dort mietfrei und sie zahlte ihnen sogar eine Art Gehalt – ungewöhnlich für diese Epoche. Deshalb stellten sie auch keine Fragen. Und direkte Nachbarn gab es nicht.
Einer der Räume war vollgestopft mit Bücher und Unterlagen über alle möglichen wissenschaftlichen Themen, von Astronomie bis Zoologie. Staunend betrachtete Jack Karten und Bücher, die teilweise schon Jahrhunderte alt waren. Dazwischen standen und lagen Fossilien, Mineralien, aber auch Elfenbeinstatuetten aus Indien, wertvolles Porzellan, sogar mittelalterliche Heiligenfiguren und manches andere. Geschmeichelt entdeckte Jack auch die Objekte, die er ihr geschenkt hatte.
Ein anderer Raum diente als Salon, der dritte war das Schlafzimmer. Dort trennte sich Julie auch endlich von ihrer Decke und zog sich eine wattierte Jacke über ihren seidenen Anzug. Dann ging die Führung weiter.
Das vierte und größte Zimmer war wie eine Mischung zwischen Labor und Werkstatt eingerichtet. Jack identifizierte einige Gegenstände als Messgeräte und andere Laborutensilien. Hier hatte sie auch die Artefakte untergebracht, die sie auf ihren Streifzügen zu den Rissen aufsammelte. Sie untersuchte sie, um hinter ihre Funktion zu kommen.
Jetzt schwieg Jack, weil es ihm die Sprache verschlagen hatte.
Schließlich kamen sie wieder in den Salon. Dort stand nun ein Tablett mit einer Kanne Tee und zwei Tassen, dazu Kuchen und Bisquits, sogar ein Schälchen mit süßem Rahm. Jack spürte auf einmal wieder, dass er seit gestern Mittag nichts mehr gegessen hatte. Sein Magen fing prompt laut an zu knurren.
Julie lächelte. "Iss' erst einmal etwas", sagte sie und setzte sich. Auch Jack setzte sich hin. Sie goss Tee ein und schob ihm den Teller mit dem Gebäck hin. Jack griff zu, bestrich eines der Bisquits mit dem Rahm und biss mit Genuss hinein. Fast hätte er gestöhnt. Das Gebäck war noch warm und der Rahm köstlich süß. Julie lachte laut über seinen verzückten Gesichtsausdruck.
Immer noch lächelnd fragte sie: "Und, welche Frage soll ich dir zuerst beantworten?"
Jack schluckte den Bissen hinunter, dann meinte er vorwurfsvoll: "Wieso? Weil du mir die ganze Zeit weisgemacht hast, du wärest eine von den Schaustellern? Heimatlos, arm wie eine Kirchenmaus?"
Julie besaß wenigstens den Anstand, ein bisschen schuldbewusst auszusehen, dachte Jack ironisch. Insgeheim war er ärgerlich auf sich selbst, weil sie es geschafft hatte, ihn so an der Nase herumzuführen. Obwohl, das Essen war einfach himmlisch ...
"Die Bisquits und den Kuchen hat Mrs. Elliot gebacken", riss ihn Julie aus seinen Gedanken.
Sie erklärte ihm, in den ganzen Jahren habe sie es zu einem kleinen Vermögen gebracht - wie, sagte sie nicht. Und Jack fragte auch nicht danach. Julie erzählte, dass sie das Haus schon über hundert Jahre besäße. Offiziell hatte sie es von ihrer Mutter geerbt und diese wiederum von ihrer Mutter. So war es ihr möglich, das Haus zu halten, ohne Verdacht zu erregen.

Sie trafen sich nun oft in Julies Haus. Jack wusste, dort wurde er immer fürstlich bewirtet und fand auch Unterschlupf, wenn er mal wieder kurzzeitig verschwinden musste. Außerdem war es hier wesentlich bequemer als in seiner kleinen Kammer in Cardiff.
Und die alte Mrs. Elliot hatte anscheinend einen Narren an ihm gefressen, sie wuselte immer wie eine Glucke um ihn herum, wenn er da war. Genauso wie um Julie, die sie dann manchmal schon genervt wegschickte. Mrs. Elliot guckte zwar meistens etwas befremdet, wenn sie sah, wie Julie und er miteinander umgingen. Gleichzeitig versuchte sie aber immer wieder, ihn mit Julie zu verkuppeln. Offenbar war sie der festen Überzeugung, sie beide würden das ideale Paar abgeben, dachte Jack lächelnd.
Oft saßen sie mit Büchern in der Bibliothek oder werkelten an einem neuen Artefakt, das Julie bei ihren Streifzügen gefunden hatte. Jack war verblüfft, als ihm klar wurde, dass sie fast jedes Gerät wieder instand setzen konnte. Er bildete sich ja ein, ein gewisses Talent für Technik zu besitzen. Bei Julie lief es anders ab. Oft lösten die Gegenstände wieder einen Erinnerungsschub aus und sie wusste auf einmal, um was es sich handelte und wie man sie benutzte. Jack konnte darüber nur staunend den Kopf schütteln.
Sie brauchten beide wesentlich weniger Schlaf als normale Menschen – auch eine Folge ihrer Unsterblichkeit, vermutete Julie. Sie schliefen, wenn sie müde waren. Jack musste lächeln. Bei Julie hieß das, dass sie manchmal einfach mitten in einer Tätigkeit oder im Gespräch einschlief. Jack merkte es oft erst, wenn sie nicht auf eine Frage antwortete. Blickte er dann zu ihr, saß sie schlafend im Sessel oder den Kopf auf die auf dem Tisch liegenden Arme gelegt. Manchmal erwachte sie, wenn er sie ansprach, manchmal schlief sie aber auch so fest, dass er sie ins Bett brachte, wo sie einfach weiterschlief.
Er selbst schlief oft auf der Liege im Salon, weil er sich nicht die Mühe machte, zu seinem Zimmer in der Stadt zu gehen. Außerdem wurde er dann von Julie mit einem Kuss geweckt und es gab ein fürstliches Frühstück von Mrs. Elliot.
Es war ein angenehmes Leben, er könnte sich fast daran gewöhnen, dachte Jack. Allerdings viel zu langweilig für seinen Geschmack - aber dafür hatte er ja seine Unternehmungen in Cardiff.

Doch nach einiger Zeit wurde er unruhig. Er fand keinerlei Hinweise auf den Doctor und die Zeit verstrich. Er wurde immer ungeduldiger und waghalsiger, war bald ständig in Schlägereien in den übelsten Vierteln Cardiffs verwickelt, als könne er so einen Fortschritt, einen Hinweis, einfach irgendetwas erzwingen.
Julie Warnungen, ihre Bedenken, dass er sie so in Gefahr brachte, schlug er in den Wind. Schließlich waren sie unsterblich, was konnte schon passieren. Ihre Einwände, dass er damit unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zog und dass es Schlimmeres gab, als immer wieder zu sterben, wischte er als Hirngespinste zur Seite. Allmählich hörte sie auf, ihn zu begleiten. Und er ließ sich immer seltener bei ihr sehen.
Er trank nun oft unmäßig, als wolle er den Rausch mit aller Macht erzwingen, den er doch nie erreichen konnte. Nie mehr.
Manchmal, wenn er wieder einmal erwachte, erkannte er, wie unvernünftig er sich verhielt. Dann wurde ihm klar, dass er aus reiner Verzweiflung handelte. Es war unerträglich für ihn, einfach zu warten, hier festzusitzen, ohne zu wissen, wie lange noch. Manchmal suchte er dann Julies Nähe, aber er spürte ganz deutlich, dass sie nun Abstand von ihm hielt. Das und sein schlechtes Gewissen machten ihn gereizt und aggressiv. Sie versuchte noch ein paar Mal, mit ihm zu reden, ihn zur Einsicht zu bringen. Aber das wollte er nicht hören. Dann stritten sie sich. Also blieb er irgendwann ganz fern.

***

Als Jack herausfand, dass sie gar nicht bei den Schaustellern lebte, sondern im Gegenteil ein Haus und sogar Vermögen besaß, fürchtete Julie zuerst, er würde ihr übel nehmen, dass sie das vor ihm verheimlicht hatte. Sie hatte nach einigen durchwachten Nächten tief und fest geschlafen, sonst hätte sie wie üblich bemerkt, dass Jack auf dem Weg zu ihr war. Aber so konnte er sie hier überraschen.
Doch er verlor zu ihrem Erstaunen nach der ersten Verärgerung kein Wort mehr darüber. Sie war verblüfft, das passte so gar nicht zu ihren Erfahrungen mit anderen Menschen. Mehrmals überprüfte sie seine Emotionen, aber er hegte tatsächlich keinen Groll deswegen.
Sie war froh darüber, aber sie grübelte auch, warum er sich in dieser Hinsicht so von anderen Menschen unterschied. Natürlich war er ein kleiner Gauner und Hasardeur. Anscheinend erwartete er einfach, dass auch andere ihre kleinen Geheimnisse hatten, weil er ebenfalls nie mit offenen Karten spielte.
Julie musste lächeln. Auch in einer anderen Sache reagierte er anders als sie erwartet hatte. Jack betrachtete sie nicht als sein Eigentum, nur weil sie Sex miteinander hatten. Das war es nämlich, was sie befürchtet hatte. Doch seine Haltung ihr gegenüber veränderte sich nicht.
Als es dazu kam, dass sie miteinander schliefen, geschah es eher zufällig. Sie war mal wieder völlig übermüdet vom Schlaf überrascht worden. Jack brachte sie wie so oft ins Bett und diesmal hielt sie ihn einfach fest und zog ihn zu sich. Er hat sich auch nicht gerade gewehrt, dachte Julie ironisch.
Sie könnte sich damit herausreden, dass ihr Verstand ausnahmsweise durch die Müdigkeit lahmgelegt gewesen wäre, aber das wäre nur eine billige Entschuldigung gewesen. Vielmehr war sie wohl der Grenzen, die sie sich selbst gesetzt hatte, überdrüssig geworden. Für höchstens eine Nacht, nie in ihrem Haus, keine Namen, keine Verpflichtungen - so hatte sie es bisher gehalten.
Vielleicht spielte auch die Beunruhigung, die sie wegen ihrer Vision immer noch empfand, eine Rolle. Sie hatte das Gefühl, ihn beschützen zu müssen, weil sie der festen Überzeugung war, er sei in Gefahr. Sie beide seien in Gefahr. Und dass der Begriff ‚Torchwood’ etwas damit zu tun hatte, von dem sie immer noch versuchte herauszubekommen, was dahinter steckte.
Sie hatte zwar noch ein paar Mal versucht, ihn vom Wahrheitsgehalt ihrer Vision zu überzeugen, aber er hörte gar nicht zu. Er schien immer noch zu glauben, das wäre einer ihrer Taschenspielertricks, die sie bei ihren Vorstellungen mit den Gauklern benutzte, und sie wolle ihn damit nur auf den Arm nehmen.
Zu Julies Besorgnis trug auch bei, dass Jack sich nach einiger Zeit zu verändern begann. Sie spürte, dass er sich allmählich langweilte, es passierte für seinen Geschmack zu wenig. Er riskierte immer mehr bei seiner Suche nach dem Doctor, betrank sich, wurde streitsüchtig. Ihre Warnungen, dass er sich und wahrscheinlich sie beide so unnötig in Gefahr brachte, wischte er einfach beiseite. Schließlich seien sie unsterblich, was könne schon passieren, war seine Standardentgegnung.
Julies Schaudern bemerkte er nicht. Erinnerungen an Flammen, Schreie und unendliche Schmerzen schossen ihr durch den Kopf. Sie wusste, was geschehen konnte. Es gab schlimmere Dinge als zu sterben. Die Erinnerung daran schnürte ihr die Kehle zu, sie bekam keine Luft mehr.
All das bekam Jack nicht mit. Er entfernte sich immer weiter von ihr. Natürlich spürte sie, dass er verzweifelt war. Das Warten auf seinen Doctor dauerte ihm schon viel zu lange. Julie wagte es nicht, ihm zu sagen, dass er noch wesentlich länger auf ihn warten müsse. Wenn er sich nach wenigen Monaten schon so aufführte, was würde erst geschehen, wenn er wüsste, dass es noch über ein Jahrhundert dauern würde?
Also zog sie sich zurück, wie sie es immer getan hatte. Sie ging ihm irgendwann regelrecht aus dem Weg, so schwer ihr das auch fiel. Über das Band blieben sie ja verbunden. Julie konnte inzwischen nicht nur spüren, wo er sich aufhielt, sondern auch, in welcher Verfassung er war. Aber sie konnte sich davon nicht ablenken lassen. Also schirmte sie sich ab. Das hatte sie in den zweieinhalb Jahrhunderten gelernt. Sonst wären jederzeit die Emotionen der Menschen auf sie eingeprasselt. Und das konnte niemand aushalten ohne verrückt zu werden.
Als Charles mit seiner Truppe von der Tournee zurückkam, war sie regelrecht erleichtert über die Ablenkung. Sie verbrachte wieder viel Zeit bei den Schaustellern, ließ sich die Ereignisse in allen Einzelheiten erzählen. Charles war nicht bis London gekommen, sie hatten nicht einmal Wales verlassen. Aber er sprach immer noch mit leuchtenden Augen davon. Bei nächsten Mal würden sie bis London ziehen, ganz bestimmt! Manchmal gelang es ihr dabei sogar, für kurze Zeit ihre Sorgen zu vergessen. Ein paar Mal ertappte sie sich bei dem Wunsch, doch mit ihnen gegangen zu sein. Oder bald wieder einmal bei solch einer Tour mitmachen zu können. Beinahe sehnsüchtig dachte sie an vergangene Reisen zurück.
Dann lachte sie sich selbst wieder aus, weil sie diese Erlebnisse nun so verklärte. Das Leben bei den Gauklern war noch nie ein Zuckerschlecken gewesen. Und so sehr sie es sich wünschte, sie konnte Cardiff – und Jack –jetzt nicht verlassen. Sie musste wachsam für sie beide sein.
Aber es war wie verhext. Sie fand nirgendwo eine Spur. Niemand in Cardiff schien jemals etwas von diesem Torchwood gehört zu haben. Doch etwas anderes begann sie zu beunruhigen.

Als sie mal wieder an einem Ort ankam, wo sie Riftaktivität gespürt hatte, war ihr schon jemand zuvor gekommen. Zwei Frauen standen neben einem Alien, das am Boden lag. Julie ging hastig in Deckung. Von dort beobachtete sie, wie eine der Frauen das Wesen mit der Schuhspitze anstieß. Es bewegte sich nicht, nur der Kopf rollte haltlos zur Seite. Offenbar war es tot. Das Wesen war humanoid, jedenfalls hatte es zwei Arme und Beine. Sein Gesicht glich allerdings eher einer verzerrten Kreuzung zwischen Bulldogge und Mensch. Es hatte eine kurze, gedrungene Schnauze, in der ein gefährlich wirkendes Gebiss zu sehen war, mit vier langen Reißzähnen, die wie die Hauer eines Ebers vorstanden.
Eine der Frauen sagte etwas zu der anderen. Julie war zu weit entfernt, um zu es zu verstehen, so sehr sie sich auch anstrengte. Dann drehten sich die Frauen um und gingen davon, direkt auf sie zu. Julie machte sich unsichtbar.
Die größere und jüngere war dunkelhaarig und trug ein Kostüm aus dunklem schwerem Stoff, strapazierfähig, aber edel. Sie wirkte mit ihrem hochgesteckten Haar und dem kecken Hütchen darauf wie eine Lady. Die andere war etwas kleiner, mit feinem blondem Haar, das genauso aufwendig hochgesteckt war. Sie trug ein ebenfalls teuer aussehendes Tweedkostüm, aber mit einer Knickerbockerhose und kniehohen Stiefeln. Sie sah so aus, als wolle sie gleich losreiten - fehlte nur noch die Gerte, dachte Julie. Aber was machten diese beiden feinen Damen hier?
Als sie beide an ihrem Versteck vorbeigingen, konnte sie etwas von ihrer Unterhaltung aufschnappen. "Guter Schuss", meinte die Blonde anerkennend. "Danke", antwortete die Brünette. "Es wird aber auch immer schlimmer mit diesem Ungeziefer." Ihre Stimme war voller Verachtung. Julie bekam eine Gänsehaut. Nachdem die beiden Frauen gegangen waren, näherte sich Julie vorsichtig dem Wesen. Es war tatsächlich tot, das Einschussloch in seiner Stirn war eindeutig.
Julie beeilte sich, den beiden Frauen zu folgen. Sie hatten es offenbar nicht eilig, sondern schlenderten gelassen dahin. Aber dann stiegen sie in eine Kutsche, die auf sie gewartet hatte. Julie konnte der Kutsche nicht lange folgen und verlor sie aus den Augen.
Sie begegnete den beiden Frauen nicht noch einmal. Aber die Spuren, die sie fand, deuteten darauf hin, dass sie oft vor ihr an neuen Rissen waren. Manchmal stieß Julie nun auf erschossene Aliens, wenn sie den Ort eines Risses erreichte, auf absichtlich zerstörte Geräte oder sogar nur auf Anzeichen, dass etwas durch den Riss gekommen war, aber nicht mehr vorhanden.
Julie hatte auch kein Verlangen danach, den Frauen zu begegnen. Sie hatte ihre Gefühle überprüft bei ihrer Begegnung. Und was sie gespürt hatte, ließ ihr jetzt noch erschauern. Da war nur kalte Verachtung und Misstrauen gegen alles gewesen, was sich von „normalen" Menschen unterschied. Also ging Julie ihnen aus dem Weg. Sie suchte auch immer seltener die Rissstellen auf, blieb lieber in ihrem Labor oder auf dem Jahrmarkt.

***

Eigentlich war es ja jedes Mal so als würde er über Glasscherben gezogen, wenn er wieder zum Leben erwachte, dachte Jack. Aber diesmal steckte die abgebrochene Flasche, der er seinen letzten Tod zu verdanken hatte, tatsächlich noch in seinem Bauch.
Er holte tief Luft, um sich gegen die Schmerzen zu wappnen, zog die Flasche aus der Wunde und warf sie zur Seite. Verdammt, schon wieder ein Hemd ruiniert, dachte er, als er den riesigen Blutfleck sah. Die Wunde war sehr tief. Und es tat höllisch weh, obwohl die Heilung rasend schnell voranschritt.
Als er aufblickte, bemerkte er zwei Frauen - die eine blond, die andere brünett, beide in feiner Kleidung, die so gar nicht in dieses verrufene Viertel passte -, die in einiger Entfernung standen und ihn mit unbewegten Gesichtern beobachteten. Die Blonde trug sogar Hosen. Hosen? In dieser Epoche? Plötzlich fingen sämtliche Alarmglocken in seinem Kopf an zu schrillen.
Erschrocken fragte er sich, wie lange die beiden schon wohl da standen. Hatten sie vielleicht gesehen, wie er gestorben war? Sein Erwachen hatten sie auf jeden Fall miterlebt.
Seine Angst überspielte er mit grobem, regelrecht ordinärem Gehabe. „Körper aus Stahl, berührt ihn ruhig mal", röhrte er. „Jemand interessiert?" Den Gossenslang hatte er mittlerweile fast perfekt drauf.
Die beiden Frauen reagierten nicht. Jack stemmte sich stöhnend hoch, er hatte immer noch Schmerzen. Das Schweigen machte ihn nervös, also redete er einfach weiter, was ihm gerade durch den Kopf ging. Er fand, er müsse eine Erklärung anbieten, die Frauen ablenken.
„Wirtshausschlägerei, ist ein bisschen außer Kontrolle geraten." Er deutete mit einer lässigen Handbewegung auf sein zerrissenes, blutiges Hemd. „Nur eine Fleischwunde." Dann legte er den Arm über die Wunde und beugte sich stöhnend vor. „Ich kann mich einfach nicht ... an diesen Kater gewöhnen." Er blickte vorsichtig zu den beiden Frauen, ob sie ihm seine Geschichte abkauften.
Die beiden kamen langsam und immer noch schweigend auf ihn zu. Die brünette mit aufreizendem Hüftschwung, die Hände in die Hüften gestützt, mit einem spöttischen Lächeln, die blonde zeigte keine Regung. Jack wurde es heiß vor Angst. Die beiden wirkten erschreckend bedrohlich, obwohl - oder gerade weil - sie noch kein Wort gesagt hatten. Also plapperte er weiter, nur um die Stille zu durchbrechen.
„Captain Jack Harkness. Wie lange haben Sie da schon gestanden? Sie sind wohl eher die schweigsamen Typen. Das ist in Ordnung. Ich hatte mal ein Rendezvous mit einem Kerl ohne Mund. Er war überraschend kreativ." Jack grinste breit. Er merkte selbst, wie gekünstelt das Ganze rüberkam, aber er konnte gar nicht anders als seine Rolle als Prolet weiterzuspielen.
Nun standen die beiden Frauen direkt vor ihm. Noch immer schweigend schlug die Brünette Jack in den Bauch, genau auf die gerade verheilte Wunde. Jack schlug reflexartig die Arme um den Leib und knickte vor Schmerzen zusammen. In diesem Moment hieb sie ihm das Knie brutal ins Gesicht. Sie traf Jack genau auf die Nase, ihm wurde schwarz vor Augen und er kippte nach hinten. Kaum lag er am Boden, sprang die blonde Frau auf ihn und setzte sich auf seine Brust. Beide Knie befanden sich rechts und links neben seinem Kopf. So und mit ihrem Gewicht nagelte sie ihn am Boden fest. Jack schaute genau in ihren Schritt.
"Also, Sie hätten bloß fragen müssen. Sollen wir uns ein Zimmer nehmen?" Er grinste anzüglich. Innerlich fragte er sich allerdings, welcher Teufel ihn gerade ritt. Aber er konnte nicht aufhören damit.
Und wieder reagierte keine der Frauen, außer dass die Brünette triumphierend lächelte. Dafür zog die Blonde ein Tuch heraus und stopfte es ihm in den Mund. Jack versuchte noch, sich zu wehren, aber mit der Frau auf seiner Brust hatte er keine Chance. Als sie auch noch seine Nase bedeckte, bekam er keine Luft mehr, und alles wurde schwarz.

Jack erwachte, als ihm ein Schwall eiskalten Wassers ins Gesicht klatschte. Nach Luft schnappend schüttelte er den Kopf wie ein nasser Hund. Das Wasser rann ihm aus den Haaren über das Gesicht und den Hals hinunter in das Hemd. Er wollte eine Hand heben, um sich das Wasser aus dem Gesicht zu wischen, aber das gelang ihm nicht. Seine Hände waren an den Stuhl gefesselt, auf dem er saß.
Die beiden Frauen standen vor ihm, die brünette hielt noch den Eimer in der Hand, aus dem sie ihn mit Wasser begossen hatte. Die blonde stand an einem Tisch, auf dem sich einige Geräte und Papiere befanden. Beide beobachteten ihn aufmerksam, als sei er ein Versuchsobjekt.
Jack schaute sich um. Sie befanden sich in einer Art Korridor, die unverputzten Ziegelwände an beiden Seiten wurden in regelmäßigen Abständen von Gittertüren unterbrochen. Es sah aus wie ein Gefängnistrakt. Er bemerkte, dass sein Mantel verschwunden war, aber den Rest seiner Kleidung hatte er wenigstens noch an.
Dann wandte er sich wieder den beiden Frauen zu. Er grinste, als er sich auf seine Rolle besann. „Als ich davon gesprochen habe, sich ein Zimmer zu nehmen, dachte ich eigentlich an eines mit einem Bett", sagte er ironisch.
Als Antwort traf ihn ein zweiter Schwall Wasser ins Gesicht. Jack prustete und schüttelte sich, dass die Tropfen zu allen Seiten flogen.
Die blonde Frau kam auf ihn zu, sie hielt etwas in der Hand, von dem Kabel zu einem der Geräte auf dem Tisch führten. Vor ihm blieb sie stehen und riss mit einer Bewegung sein Hemd auf. Dann legte sie zwei Metallscheiben auf seine Brust. An diesen waren die Kabel befestigt, die Jack bemerkt hatte. Ihm dämmerte, was nun kommen würde. Trotzdem konnte er den Mund nicht halten.
„Es gab eine Zeit, da bedeuteten Elektroden an den Brustwarzen den Beginn einer tollen Nacht", sagte er anzüglich. Die Frau sah ihn nur an, drehte sich um und ging wieder zurück zu dem Tisch. Sie griff zu dem Gerät, an dem die Kabel hingen. An der anderen Seite konnte Jack eine Kurbel erkennen wie an einem Grammophon. Er spannte die Muskeln an, er wusste, was gleich geschehen würde. Die Frau begann, die Kurbel langsam zu drehen.
Elektrizität schoss durch Jacks Körper, weiß glühender Schmerz. Seine Muskeln verkrampften sich, sein ganzer Körper zuckte unkontrolliert. Er schrie gellend, dann verkrampften sich auch seine Kiefermuskeln. Jack spürte, wie er sich die Zunge durchbiss. Blut schoss ihm in den Rachen und seine Lungen, als er krampfhaft versuchte zu atmen. Dann wurde er bewusstlos.
Die Frau schaltete die Maschine aus. Ihr Gesicht zeigte eine unzufriedene Miene.
„Das war die volle Leistung und er atmet immer noch."
Jack kam wieder zu Bewusstsein. Etwas Blut rann ihm noch aus den Mundwinkeln, aber seine Zunge konnte er schon wieder gebrauchen. Als er die enttäuschten und ratlosen Gesichter der Frauen sah, lachte er spöttisch.
„Ein interessantes Maschinchen haben Sie da. Ihr Ladies seid wohl eurer Zeit voraus." Er schaute sich noch einmal demonstrativ um. „Also, wo zur Hölle bin ich hier?"
Wieder keine Antwort. Redeten die beiden eigentlich nur miteinander, oder was war hier los? dachte er frustriert. Die brünette Frau drehte sich um. Als sie sich wieder Jack zuwandte, hielt sie einen langläufigen Revolver in der rechten Hand. Sie richtete die Waffe auf ihn.
Erschrocken sagte er: „Legen Sie das weg, bevor noch jemand ..." Ihr Schuss traf ihn mitten in die Brust und wieder wurde alles schwarz.
Nach ein paar Sekunden erwachte er schon wieder, wie üblich mit dem tiefen Atemzug, der sich fast wie ein Schrei anhörte.
Die Brünette verdrehte genervt die Augen. „Warum bist du immer noch nicht tot?" fragte sie ihn. Meine Güte, sie spricht mit mir, dachte Jack sarkastisch. Das war ja mal ein Fortschritt.
Aber laut sagte er: „Das versuche ich ja selbst herauszufinden."
Wieder keine Antwort, nur Blicke. Das wird allmählich zur Gewohnheit, dachte Jack. Dann sagte die blonde Frau - sie schien hier der Chef zu sein: "Wir haben dich beobachtet. Du wurdest in den letzten sechs Monaten vierzehn Mal umgebracht."
"Oh, es fühlte sich an, als seien es mehr gewesen", antwortete Jack bissig.
Ihre nächsten Worte versetzten ihn in Panik. "Wer ist der Doctor?" fragte sie unvermittelt.
Fieberhaft versuchte Jack seine Gedanken zu ordnen, die ihm planlos durch den Kopf rasten. Er musste erst einmal Zeit zu gewinnen. "Keine Ahnung", sagte er betont ahnungslos. Woher wussten sie vom Doctor? Aber diese Frage wurde schnell beantwortet.
Die brünette Frau nahm einige Papiere von dem Tisch und las mit abfälligem Tonfall daraus vor.
"Der Doctor kann mich heilen." "Wenn der Doctor auftaucht, wird er alles wieder ins Reine bringen." „Warte bis ich den Doctor treffe. Zuerst werde ich ihn küssen und dann bringe ich ihn um." Das sind alles Zitate aus deinen Unterhaltungen mit Fremden, in verschiedenen Kneipen, niedergeschrieben, seit wir auf dich aufmerksam geworden sind."
Jack wurde heiß und kalt. Wieso war er nur so unvorsichtig gewesen? Sie beobachtet ihn schon seit sechs Monaten! Was hatten sie noch gesehen? Wussten sie von Julie, hatten sie sie auch observiert? War sie vielleicht schon in einer dieser Zellen? Kurz überprüfte er das Band. Julie war eine halbe Stadt entfernt, registrierte er aufatmend. Sie hatte sich geraume Zeit nicht mehr gesehen. Hoffentlich kam sie nicht gerade jetzt auf die Idee, ihn zu suchen.
Um sich nichts anmerken zu lassen, suchte er wieder Zuflucht bei seinen flapsigen Sprüchen. "Wissen Sie, niemand mag Klugscheißer."
Ein vernichtender Blick der Blonden traf ihn, dann sagte die andere Frau: "Sag’ uns, wer er ist, und wir lassen dich gehen."
Jack entspannte sich ein bisschen. Offenbar waren sie nur an dem Doctor interessiert. "Warum wollen Sie das wissen?" fragte er.
Die blonde richtete sich auf und sagte mit unverkennbarem Stolz in der Stimme: "Wir sind Torchwood Cardiff."
Jacks Augen weiteten sich erstaunt. Irgendwo in seinem Kopf klingelte etwas. Wieso kam ihm der Begriff vertraut vor? Er meinte, dieses Wort schon mal gehört zu haben. Und er hatte das unbestimmte Gefühl von Gefahr. Aber er konnte den Gedanken nicht festhalten.
Die Frau sprach weiter: "Das Torchwood-Institut ist gegründet worden, um solche Bedrohungen wie den Doctor und andere Phantasmagorien zu bekämpfen."
Jack konnte nicht anders, er musste lachen. "Der Doctor ist doch keine Bedrohung! Er ist derjenige, der euch vor diesen Phantasmadingsbums beschützen wird." Er lachte wieder.
Die Blicke der beiden Frauen verfinsterten sich. Jack verging das Lachen, als die Blonde ihre Hand demonstrativ auf die Kurbel des kleinen Generators legte. Er musste schlucken.
Ihre Stimme klang drohend: "Sage uns einfach, wo er sich aufhält."
Das klang gar nicht gut, dachte Jack. Seine Muskeln verkrampften sich schon allein bei der Drohung in ihrer so beiläufigen Geste. Da war ihm Erschießen doch lieber als diese Stromstöße. Das Sterben dauerte dabei einfach zu lange. Ein kurzer sauberer Schuss war wesentlich weniger schmerzhaft.
Hastig rief er: "Das weiß ich nicht!" Er zerrte an den Fesseln an seinen Handgelenken. Aber da war nichts zu machen, sie lockerten sich nicht ein bisschen. "Er hat mich im Stich gelassen. Ich kam hierher um ihn zu finden. Er tankt auf an dem Rift, das ihr hier habt. Ich hoffte, wenn ich lange genug hierbliebe, würden wir uns finden." Er spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. Auf den Doctor, der an allem Schuld war. Auf seine eigene Hilflosigkeit. "Also, kann ich jetzt gehen?!" Er bemerkte, dass das ziemlich angrifflustig klang.
Die brünette antwortete im gleichen Tonfall: „Nein!"
Das fachte die Wut in ihm weiter an. Was sollte das Ganze? War das für die beiden nur ein Spiel? „Ihr könnt mich nicht hier festhalten!" protestierte er.
Die beiden sahen ihn verächtlich an. Die blonde meinte trocken: „Oh doch, das können wir. Es sei denn …" und die brünette wie ein Echo: „Ja. Es sei denn …" Sie lächelte sogar dabei.
Dieses Lächeln erstickte die Wut wirkungsvoller als jedes Wort. Es war kein freundliches Lächeln, sondern wie das eines Kindes, mit dem es eine gefangene Fliege betrachtete, bevor es ihr die Flügel ausriss. Jacks Mund wurde plötzlich ganz trocken. Nur mühsam brachte er die Frage heraus, auf die die beiden Frauen augenscheinlich warteten: „Es sei denn was?"
Die blonde machte ein Gesicht wie eine Lehrerin, die einen besonders begriffsstutzigen Schüler vor sich hatte. „Es gibt andere Möglichkeiten. Mit dem Institut", sagte sie. „Du könntest für uns arbeiten."
Jack traute seinen Ohren nicht. Er mochte es gar nicht, so erpresst zu werden. Und worin sollte diese Arbeit wohl bestehen? Foltern und erschießen? dachte er sarkastisch. Andererseits – stimmte er zu, böte ihm das die Chance, hier erst einmal raus zu kommen. Dann konnte er sich ja immer noch überlegen, ob er sich an so einen einseitigen Vertrag gebunden fühlte. Aber er stimmte nicht sofort zu, um seinen Plan nicht dadurch zu gefährden, dass die beiden Frauen misstrauisch wurden.
Also schüttelte er den Kopf. „Warum sollte ich für Torchwood arbeiten? Ihr habt mich gefoltert, erschossen…"
„Ach, komm’ schon", sagte die Brünette verständnislos, „du kannst ja nicht sterben, also, was macht es schon?" Jack wollte ihr schon eine passende Antwort geben, aber die Blonde kam ihm zuvor. „Wir werden dich bezahlen."
Jack traute seinen Ohren nicht. Das war nun doch eine unerwartete Entwicklung. "Was, keine Drohungen mehr, keine Stromstöße?" fragte er ironisch.
Sie nickte knapp, die Hände vor der Brust verschränkt. "Du brauchst Geld, wir bezahlen gut. Also?"
Jack fand, jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, einzulenken. Er schaute noch kurz zu Boden, als müsse er über das Angebot nachdenken. Dann sah er die beiden Frauen an. "Was soll ich tun?" fragte er.
Die brünette lächelte siegessicher. "Es geht um eine vermisste Person", sagte sie.
Die blonde erklärte ihm dann, dass er ein Alien aufspüren sollte. Sie nannten es Blowfish. Es war zwar humanoid, aber mit einem Kopf, der wie ein exotischer Fisch aussah. Ein notorischer Unruhestifter und Halunke. Es versteckte sich nicht, sondern bewegte sich provozierend offen in der Cardiffer Gesellschaft. Moment mal, schoss es Jack durch den Kopf, die Beschreibung passte auch ganz gut auf ihn selbst.
Während die Blonde ihm seinen Auftrag erläuterte, entfernte die Brünette seine Fesseln. Sie reichte ihm ein Handtuch und seinen Mantel. Als er sich wieder einigermaßen zurechtgemacht hatte, führten die beiden ihn hinaus.
Zu seinem Erstaunen musste Jack feststellen, dass der Komplex sich unter der Erde befand und sie ganz in der Nähe des Hafens wieder an die Oberfläche kamen.

***

Die Schmerzen trafen sie völlig unvorbereitet und zerschlugen ihre Barrieren, als seien sie aus Glas. Sie war plötzlich blind, hatte keine Gewalt mehr über ihre Beine. Fast ohnmächtig sackte sie zusammen, konnte sich gerade noch mit den Händen und Knien abfangen, sonst wäre sie auf den Boden aufgeschlagen. Es war, als stieße jemand glühende Nadeln durch ihren Körper, ihren Schädel. Dann fühlte sie nichts mehr, sie war wie taub, die Kraft wich aus ihren Armen. Haltlos sank sie vollends zu Boden. Wieder schoss der Schmerz wie geschmolzenes Blei durch ihren Körper.
Sie schrie, jedenfalls dachte sie es, doch sie hörte nichts, fühlte nichts außer diesem unbeschreiblichen Schmerz. Als er endlich verschwand, lag sie einfach nur da, zu einer Kugel zusammengerollt, die Arme um den Kopf geschlungen. Sie musste sich sogar darauf konzentrieren, einfach nur zu atmen.
Ihre Sinne kehrten langsam zurück. Sie fühlte Hände, die sie hielten, sie hochhoben, hörte angsterfüllte Stimmen, sah in vertraute, besorgte Gesichter. Natürlich, sie war mit Suzannah und einigen anderen Frauen damit beschäftigt gewesen, ihre Kostüme auszubessern, schoss es ihr durch den Kopf. Sie musste ihnen einen schönen Schrecken eingejagt haben.
Mühsam richtete sie sich auf, befreite sich von den Händen, die sie immer noch hielten. Schwindel überfiel sie, als sie versuchte, aufzustehen. Suzannah stützte sie geistesgegenwärtig, sonst wäre sie wieder gestürzt.
Und dann dachte sie: JACK!! Sie richtete sich kerzengerade auf, der Schwindel war vergessen. Der Schmerz war nicht ihr eigener gewesen, er hatte sie durch das Band erreicht. Es war Jack, der das erleiden musste. Warum hatte sie auch gerade jetzt an ihn denken, ihn über die Verbindung suchen müssen? Sie fühlte einen harten Klumpen in ihrer Magengegend. Was war geschehen? fragte sie sich besorgt. Hatte er sich jetzt endgültig in die Schwierigkeiten gebracht, vor denen sie ihn so vergeblich gewarnt hatte? Sie musste zu ihm, auf der Stelle.
Julie löste sich aus Suzannahs Griff und drehte sich zu ihr um. „Suzannah, ich muss gehen, sofort." Suzannah versuchte, sie zurückzuhalten, aber als sie in Julies Gesicht blickte, verstummte sie. Doch ganz so einfach ließ sie Julie nicht gehen.
„Du kannst kaum laufen, John wird dich begleiten", sagte sie energisch. Julie wollte protestieren, aber sie schnitt ihr mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab. „Keine Widerrede. Ich sehe dir doch an, dass es gefährlich werden kann. Und ihr werdet reiten."
Kurze Zeit später war Julie mit ihrem unfreiwilligen Begleiter auf dem Weg. Sie ritten auf zwei der struppigen Ponies, die sonst die Wagen der Schausteller zogen. Julie war immer noch etwas ärgerlich über Suzannahs Machtwort. Allein wäre sie viel schneller vorangekommen. Aber es würde ihr nicht schwerfallen, den Mann loszuwerden. John war zwar mit prächtigen Muskeln ausgestattet, aber dafür im Kopf nicht besonders helle. Er würde sich ihr nicht widersetzen.
Das Band führte sie geradewegs zum Hafen von Cardiff. In dem Gedränge und den engen Gassen wurde es unmöglich zu reiten. Sie mussten absteigen. Julie sah endlich ihre Chance, John loszuwerden.
Sie wandte sie an ihn: "John, wir kommen mit den Pferden nicht weiter." Sie tat kurz so, als müsse sie nachdenken. Dann sagte sie bestimmt: "Wir können die Pferde nicht mitnehmen, aber auch nicht einfach hierlassen. John, du bringst sie zurück, ich gehe allein weiter." John wollte protestieren, aber Julie kam ihm zuvor. "Du willst doch nicht riskieren, dass die Pferde gestohlen werden, oder? Suzannah würde sehr böse auf dich sein!"
Kleinlaut zog John den Kopf ein und ging, die Ponies hinter sich herziehend. Er tat Julie fast ein wenig leid. Aber sie musste ihn unbedingt aus dem Weg haben. Er behinderte sie nur bei ihrer Suche. Sie konnte nicht auch noch auf ihn aufpassen. Also wandte sie sich ab und ging weiter.
Auf einem kleinen Platz inmitten armseliger Häuschen hinter dem Hafen hielt Julie an. Ratlos sah sie sich um. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie eigentlich fast neben Jack stehen müsste, aber alles, was sie sah, war ein - wenn auch ziemlich beengter - freier Raum. Dann spürte sie, dass er sich wieder fortbewegte. Außerdem schien er sehr beunruhigt sein. Julie folgte ihm vorsichtig.
Natürlich bemerkte er, dass sie in der Nähe war und ihm folgte. Sie meinte einen Moment sogar Panik bei ihm zu spüren. Wollte er sie warnen? Also wurde sie noch vorsichtiger.

***

Als er die unterirdische Basis mit seinem Auftrag verließ, spürte er zu seiner Besorgnis, dass Julie nun ganz in der Nähe war. Wieso musste sie gerade jetzt wieder auftauchen, dachte er leicht verzweifelt. Wie sollte er ihr zu verstehen geben, dass sie sich in dieser Situation nicht blicken lassen durfte? Er wusste nicht, ob er nicht die ganze Zeit beobachtet wurde. Inzwischen traute er diesem Torchwood-Institut so ziemlich alles zu.
Ihm fiel nichts anderes ein, als intensiv an Gefahr zu denken. Vielleicht, so hoffte er, fing sie es irgendwie auf. Und tatsächlich. Als er sich auf den Weg machte, spürte er, dass sie ihm zwar folgte, aber Abstand hielt. Mehr konnte er wohl nicht erwarten. Er würde versuchen, ihr irgendwie eine Nachricht zukommen lassen, sie zu warnen.
Fast hätte er geseufzt. Gerade jetzt hätte er ihre Hilfe dringend gebraucht und gerade jetzt durften sie nicht zusammen gesehen werden. Hoffentlich kam sie nicht auf dumme Gedanken, weil er sie so geflissentlich ignorierte.
Er musste lächeln, als ihm sein Denkfehler klar wurde. So würde er handeln, aber nicht Julie. Sie war die Vernünftige in ihrer Partnerschaft, die Rationale. Er war es, der sich durch seine verdammte Sorglosigkeit in Schwierigkeiten gebracht hatte. Ihr wäre das nie passiert. Allmählich wurde ihm klar, was es bedeutete, zweieinhalb Jahrhunderte hier festzusitzen, ohne verrückt zu werden.
Jack lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er hatte Julies Warnungen immer als Paranoia abgetan. Jetzt bekam er eine Ahnung davon, warum man sich vielleicht doch weniger auffällig verhalten sollte. Deshalb hatte er ja auch den Auftrag bekommen. Dieser Blowfish versetzte die ganze Zeit in Aufruhr, allein durch seine Anwesenheit. Eigentlich sollte es nicht schwierig sein ihn zu finden.
Aber so leicht wurde es dann doch nicht. Als es dunkel wurde, hatte er immer noch keine heiße Spur. Der Blowfish war zwar eine auffällige Erscheinung, aber heute schien ihn noch niemand gesehen zu haben. Erschöpft ließ sich Jack am späten Abend in einer der kleinen Straßenschänken auf eine Bank sinken. Er musste erst mal Atem schöpfen nach der ganzen fruchtlosen Rennerei. Er bestellte einen großen Krug Bier, nach Stärkerem stand ihm heute nicht der Sinn. Julie war den ganzen Tag in seiner Nähe gewesen, aber er hatte sie nicht gesehen. Offenbar hatte sie seine Warnung verstanden.
Als der Krug gebracht wurde, trank er den ersten Becher in einem Zug leer, so ausgetrocknet fühlte sich seine Kehle an. Müde lehnte er sich mit dem Rücken an die Mauer hinter ihm und schloss die Augen. Jack hatte Mühe nicht einzuschlafen.
Als er die leise Stimme fast genau neben seinem Ohr hörte, zuckte er heftig zusammen. Aber er hatte sich sofort wieder in der Gewalt. Es war Julie. John ließ die Augen geschlossen, Rücken und Kopf an die Mauer gelehnt, als ruhe er sich aus.
„Jack", hörte er sie flüstern, „was ist los?"
Er ließ langsam den Kopf zur Seite sinken und öffnete die Augen einen Spalt. Nun konnte er etwas um die Ecke schauen, die die Wand auf dieser Seite bildete, und von wo aus Julies Stimme gekommen war. Im ersten Moment sah er nichts bzw. es war so, als habe er dort einen blinden Fleck. Dann konnte er Julie in ihrer Männerkleidung erkennen, die dort stand.
Jack versuchte zu sprechen, ohne die Lippen allzu deutlich zu bewegen, und so leise wie möglich.
„Ich hasse es, wenn du das tust", konnte er sich nicht verkneifen.
„Jack!" zischte es empört um die Ecke, „das ist jetzt nicht der Zeitpunkt für Scherze."
„Du hast ja Recht. Julie, diesmal sitze ich wirklich in der Scheiße."
„Das habe ich bemerkt", meinte sie trocken. „Was ist passiert?"
„Keine Zeit für Erklärungen, ich weiß nicht, ob ich beobachtet werde. Sie wissen, dass ich unsterblich bin und nach dem Doctor suche", murmelte er hastig.
Es blieb still, dann flüsterte Julie: "Nein, hier beobachtet dich niemand. Alles nur normale Leute."
Jack atmete auf, aber er veränderte seine Stellung nicht und sprach weiter nur sehr leise. „Gut. Aber es ist besser, wenn wir vorsichtig sind. Sie sind gefährlich."
„Wer sind ‚sie’?" fragte Julie.
„Zwei Frauen, sie nennen sich ‚Torchwood’."
Er hörte, wie sie scharf die Luft einsog, dann war alles still. „Julie?", fragte er beunruhigt, als die Stille andauerte.
„Haben sie wirklich ‚Torchwood’ gesagt?" Ihre Stimme war so leise, dass er sie kaum verstehen konnte, und seltsam tonlos. "Zwei Frauen, sagst du? Eine brünette, noch sehr jung, und eine blonde, kleinere, etwas ältere?"
"Ja, genau", flüsterte er überrascht, "kennst du sie?"
"Nein, nicht direkt", flüsterte sie zurück. "Ich habe sie einmal gesehen, an einem Riss. Sie haben das Wesen erschossen, das hindurch kam."
Jacks Mund formte lautlos ein „O", dann sagte er: „Ich habe ja gesagt, sie sind gefährlich. Sie verfügen über Technologie, die nicht in dieses Jahrhundert gehört, und sollen angeblich das Empire vor außerirdischen Bedrohungen schützen. Den Doctor zählen sie auch dazu."
Er brach ab, als ein Mann vorbeilief, dann sprach er weiter: „Ich sollte ihnen verraten, wo der Doctor sich aufhält. Als sie endlich merkten, dass ich es auch nicht weiß, haben sie mich für einen Auftrag angeheuert. Ich soll einen Blowfish fangen, der sich hier in Cardiff herumtreibt."
„Ich kenne ihn", hörte er Julie flüstern. „Ein kleiner Gauner, der meins und deins nicht auseinander halten kann; eigentlich harmlos." Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie: „Am besten spielst du das Spiel mit – fürs Erste. Wir müssen unbedingt mehr über dieses Torchwood erfahren. Ich werde den Blowfish finden, das sollte nicht schwer sein, und dir seinen Standort mitteilen. Bringe ihn zu ihnen. Dann sehen wir weiter."
Jack musste lächeln. „Zu Befehl, General", sagte er. Beinahe hätte er auch noch salutiert. Er konnte sich gerade noch zurückhalten.
Einen Moment war es still hinter der Mauer. Er spürte einen leichten Schlag an der Schulter. Dann hörte er: „Gut, ich werde es mal anders formulieren." Ihre Stimme troff vor Ironie. „Liebster Jack, ich bin der Meinung, wir sollten die Gelegenheit nutzen, mehr über diese Organisation zu erfahren. Was meinst du dazu?"
Er lachte lautlos in sich hinein. Damit konnte er sie immer auf die Palme bringen.
„Ich muss jetzt gehen", hörte er sie sagen. „Ich kann meine Tarnung nicht länger aufrechterhalten." Ihre Stimme zitterte ein wenig.
Jack spürte eine sanfte Berührung an der Wange, dann ging Julie. Aus den Augenwinkeln sah er ihr nach, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwand. Er dachte daran, dass er sie noch nie gefragt hatte, wie das mit ihrer Unsichtbarkeit funktionierte, und nahm sich vor, das bei nächster Gelegenheit nachzuholen. Die Spannung fiel von ihm ab, jetzt spürte er die Strapazen der vergangenen Stunden. Bleierne Müdigkeit überkam ihn. Seufzend stemmte er sich hoch. Er würde sich erst mal eine Mütze voll Schlaf gönnen. Julie würde den Blowfish schon finden, da hatte er keine Zweifel.

***

Julie hatte das Gefühl, ihr Körper bestünde aus Gummi. Sie zitterte und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Die ganze Zeit die Leute davon abzuhalten sie zu sehen, hatte ihre Kräfte aufgezehrt. In einer dunklen Gasse, nicht weit von der Schänke entfernt, in der sie Jack getroffen hatte, setzte sie sich einfach auf den Boden. Sie legte den Kopf auf ihre hochgezogenen Knie und schloss die Augen. Nur einen kurzen Moment, dachte sie erschöpft, dann geht es wieder.
Als sie die Augen wieder öffnete, wusste sie gleich, dass mehrere Stunden vergangen waren. Sie war eingeschlafen, verdammt! haderte sie mit sich selbst. Schwerfällig stand sie auf. Es bereitete ihr Mühe, ihren Verstand ebenfalls wach zu bekommen. Sie war immer noch sehr müde. Sie musste erst einmal dafür sorgen, dass sie wieder zu Kräften kam. An einer kleinen Garküche stahl sie sich eine Portion Krapfen und verschlang sie hastig in einer ruhigen Ecke. Schon besser, dachte sie, als sie sich das Öl von den Fingern leckte. Als nächsten besorgte sie sich noch ein Hühnerbein, indem sie es einem späten Zecher, der an seinen Tisch eingeschlafen war, vom Teller stibitzte. Stehlen war für Julie noch nie ein Problem gewesen. Nach Jahrhunderten der Übung brauchte sie dafür nicht einmal auf ihr besonderes Talent zurückzugreifen.
Nachdem sie ihre Reserven aufgefüllt hatte, fiel ihr auch das Denken wieder leichter. Bei einem Krug Bier, den sie diesmal bezahlt hatte, rekapitulierte sie noch einmal die Geschehnisse der letzten Stunden. Jack war von Torchwood gefangen worden – und Torchwood waren die beiden Frauen, denen sie in letzter Zeit immer so geflissentlich aus dem Weg gegangen war. Sie hätte sich am liebsten geohrfeigt. Da suchte sie seit Monaten nach der Bedeutung für diesen vermaledeiten Begriff und die Lösung spazierte ihr die ganze Zeit vor der Nase herum!
Julie schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Zweck, sich jetzt Vorwürfe zu machen. Jack hatte die Chance, weit mehr Informationen zu sammeln als sie es jemals durch Beobachtungen geschafft hätte. Dafür mussten sie nur den Blowfish ausliefern.
Es würde gefährlich werden – natürlich. Aber Julie hatte nicht vor, Jack allein wieder zu Torchwood gehen zu lassen. Sie würde ihm folgen. So bekam sie auch gleich die Gelegenheit, deren Stützpunkt auszukundschaften. Und sollte er in Gefahr geraten, konnte sie ihm beistehen. Die Frauen würden nicht damit rechnen, dass jemand mit ihm kam.
Und der Blowfish? Julie zuckte mit den Schultern. Sie ahnte, was ihm bei den beiden Frauen blühen würde. Eher unwahrscheinlich, dass sie ihn einfach nur einsperrten.
Aber erst einmal musste sie ihn finden. Julie suchte mit ihrer Empathie nach ihm. Die Ausstrahlungen Außerirdischer waren so anders als die der Menschen, dass es leicht war, sie zu erkennen. Nur war ihre „Reichweite" nicht besonders groß. Wenn sich die Emotionen zu vieler Personen überlagerten, konnte sie keinen Einzelnen mehr herausfiltern. Also lief sie durch Cardiff, immer darauf bedacht, den Einen zu finden, dessen Ausstrahlung so anders war.
Es wurde schon hell, als sie ihn endlich fand. Nachdem sie sich die Merkmale seiner Aura eingeprägt hatte, suchte sie Jack. Der Blowfish würde ihr nicht mehr entwischen.
Sie fand Jack in der Nähe seiner Wohnung, er genehmigte sich in einer Garküche gerade ein Frühstück. Er war so damit beschäftigt, dass er vor Schreck mit einem Satz aufsprang, als sie ihn ansprach.
„Ich hasse es, wenn du das tust!" meinte er vorwurfsvoll und legte eine Hand auf die linke Seite seiner Brust, als stünde er kurz vor einem Herzanfall. „Musst du dich denn so anschleichen?". Julie sah ihn gespielt unschuldig an, dann lachte sie. Jack grinste sie an, aber bei Julies nächsten Worten wurde er schlagartig wieder ernst.
„Ich habe den Blowfish gefunden", sagte sie und bedeutete ihm ihr zu folgen. Sie ging los und Jack beeilte sich zu ihr aufzuschließen.
„Sollten wir nicht etwas vorsichtiger sein?" fragte er leise. Julie schüttelte lächelnd den Kopf.
„Keine Sorge, wir werden nicht beobachtet. Ich habe alles überprüft, niemand folgt uns. Was sollte schon daran verdächtig sein, dass du einen Laufburschen angeheuert hast? Und übrigens, Kameraüberwachung gibt es in Cardiff noch nicht."
Jack schaute sie verblüfft an. Sie lachte und sagte: „Dein Torchwood verfügt vielleicht über Geräte, die ihrer Zeit voraus sind, aber auch sie können nicht ganz Cardiff überwachen!"
Jack murmelte: „Das ist nicht MEIN Torchwood …"
Julie schaute ihn kurz aus den Augenwinkeln an und grinste, dann wurde sie wieder ernst. „Aber du hast recht. Es ist besser vorsichtig zu sein. Ich werde dich zum Blowfish führen, aber mich dann zurückziehen. Alles andere liegt dann bei dir." Dass sie vorhatte ihm zu folgen, erwähnte sie nicht.
Vielleicht bemerkte er es gar nicht, dachte Julie. Jacks Umgang mit dem Band war wesentlich oberflächlicher als bei ihr. Wenn er sich nicht darauf konzentrierte, spürte er die Verbindung gar nicht. Und wenn er es mitbekam, würde es zu spät sein. War er erst einmal in der Basis, konnte er nichts mehr unternehmen, ohne sie beide zu verraten. Und so impulsiv ist nicht einmal Jack, dachte Julie.
Als sie den Blowfish erreichten, zog Julie sich wie vereinbart zurück. Jack würde keine Probleme mit ihm haben, diese Spezies log und stahl, aber sie waren keine guten Kämpfer. Julie bezog inzwischen Posten in der Nähe der Stelle, wo sie die Torchwood-Basis vermutete – also da, wo Jack am letzten Tag im Hafenviertel aufgetaucht war.
Und tatsächlich – Jack war so mit seinem Gefangenen beschäftigt, der sich gegen die Fesseln sträubte, dass er sie nicht bemerkte. Die beiden verschwanden in einem Schuppen. Julie folgte ihnen und sah gerade noch, wie Jack den Blowfish durch eine getarnte Tür an der Rückseite des Schuppens zerrte. Dort wurden sie schon von der brünetten Frau erwartet, die triumphierend lächelte.
Julie wartete, bis die Tür sich wieder geschlossen und das Trio etwas Vorsprung hatte. Dann trat sie zu der Tür, die sich jetzt nicht mehr von der Wand abhob. Aber das stellte kein Problem für sie da. Julie zog eines ihrer kleinen Alien-Spielzeuge aus der Tasche und fuhr damit über die Stelle, an der die Tür sich befand, bis das Gerät leise piepte. Sie hielt das Gerät einen Moment ruhig. Ein leises Klicken war zu hören, dann genügte ein leichter Druck, um die Tür zu öffnen.
Julie prüfte vorsichtig, ob die drei schon weit genug voraus waren, um ihnen ungesehen folgen zu können. Dann schlüpfte sie durch die Tür. Dahinter lag ein langer Gang aus rotem Ziegel. Und er wurde von elektrischem Licht erhellt! Julie sah sich kurz um, aber der Gang führte nur schräg nach unten, es gab keine Nischen oder Türen, soweit sie sehen konnte. Sie bewegte sich langsam weiter, die geistigen Fühler ausgestreckt, um den Kontakt mit Jack nicht zu verlieren und vor unliebsamen Überraschungen gewarnt zu sein.
Über eine steile Treppe gelangte sie schließlich zu einem kleinen Raum. Geradeaus sah Julie eine große, massiv aussehende metallene Doppeltür. Sie spürte dahinter eine weitere Präsenz. Wahrscheinlich die andere Frau, vermutete sie. Aber Jack mit seinem Gefangenen und die Brünette hatten sich nach rechts gewandt, wo Stufen noch weiter nach unten führten. Julie folgte ihnen. Am Ende der Treppe verlief ein Korridor nach beiden Seiten, geradeaus befand sich eine weitere Metalltür, die einen Spalt geöffnet war. Sie spürte, dass sich die drei hinter der Tür befanden, sie konnte sie sogar sprechen hören.
Julie riskierte einen Blick durch den Türspalt. Sie sah in einen Korridor, in dessen Wände in regelmäßigen Abständen Gitter eingelassen waren – ein Gefängnistrakt. Die Frau und Jack standen an einer der geöffneten Zellen, in die Jack gerade den Blowfish hineinstieß. Der protestierte lauthals. Offenbar erkannte er immer noch nicht den Ernst der Lage, dachte Julie. Im Gegensatz zu Jack. Sie spürte seine Beunruhigung. Er schien zumindest einen Verdacht zu haben, was dem Fischwesen blühen könnte, denn er versuchte mit der Frau zu verhandeln.
„Er ist nur ein Kind. Schickt ihn dahin zurück, wo er hergekommen ist", hörte Julie ihn sagen. Sie schüttelte leicht den Kopf. Glaubte er immer noch daran? Die Antwort der Frau entsprach ihren Gedanken.
„Wenn wir das nur könnten. Das Rift ist eine Einbahnstraße", sagte sie. Es klang sogar ein bisschen bedauernd.
Aber Jack gab sich damit nicht zufrieden. „Was tut ihr dann? Die Außerirdischen beobachten und bestimmen? Und dann sperrt ihr sie irgendwo ein", fragte er.
Die Frau antwortete nicht, sondern griff mit der rechten Hand zwischen die Falten ihres voluminösen Rocks. Als sie die Hand wieder hervorzog, hielt sie eine langläufige Pistole darin. Julie sog scharf die Luft ein. Jack konnte die Waffe noch nicht sehen, weil die Frau sie in der von ihm abgewandten Hand hielt.
Mit einer schnellen, flüssigen Bewegung hob die Frau die Pistole und schoss dem Blowfish mitten in die Stirn. Er schleuderte gegen die Rückwand der Zelle und blieb tot am Boden liegen.
Jack griff zwar noch nach der Waffe, aber er war viel zu langsam. Hart packte er die Frau und drückte ihr die Arme an den Körper.
Entsetzt fragte er, warum sie das getan habe. Ihre lakonische Antwort lautete: „Er war eine Bedrohung für das Empire."
Bitter meinte er: „So wie ich?"
Die Frau befreite sich aus seinem Griff, der nun nicht mehr besonders fest war. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihm mit unbewegter Miene ins Gesicht. „Nein, du bist nun unser Verbündeter."
Jack wandte sich kurz von ihr ab, als könne er ihren Anblick nicht mehr ertragen. Dann gingen die beiden auf die Tür zu, an der Julie stand. Diese ging in Deckung. Kurz prüfte sie, ob einer der beiden sie gesehen hatte. Nein, keine Gefahr. Die Frau kam gar nicht auf die Idee, dass sie beobachtet werden könnte, so sehr vertraute sie auf ihre eigene Überlegenheit. Und Jack - Julie spürte ein so starkes Gefühl der Resignation und Ohnmacht, dass es alles andere überlagerte. Die beiden gingen an Julies Versteck vorüber. Fast hätte sie die Hand nach Jack ausgestreckt, so niedergeschlagen sah er aus. Sie konnte sich gerade noch zurückhalten. Doch Jack schien etwas gespürt zu haben. Er hob den Kopf und sah genau in ihre Richtung. Seine Augen erfassten sie nicht, aber Jack schüttelte fast unmerklich den Kopf und folgte der Frau wieder.
Julie streckte vorsichtig ihre geistigen Fühler aus. Ja, Jack spürte schon, dass sie in der Nähe war, und es schien ihn wieder etwas aufzurichten. Sie wartete noch einen Moment, dann folgte sie den beiden.
Sie gingen wieder die Treppe hinauf. Oben angekommen wandte die Frau sich nach links und öffnete die große Doppeltür, an der sie auf dem Hinweg schon vorbeigekommen waren.
Julie erhaschte einen kurzen Blick darauf, was dahinter lag. Es schien eine große Halle zu sein, mit sehr hoher Decke. Als die Tür sich geschlossen hatte, löste sie sich aus dem Schatten der Treppe und untersuchte sie. Sie würde sich einen anderen Weg in die Halle suchen müssen, durch diese Tür konnte sie nicht ungesehen gelangen. Aber sie hatte ja sowieso vorgehabt, diesen unterirdischen Komplex weiter zu erkunden. Julie prüfte kurz die Emotionen der beiden Frauen. Nein, im Moment drohte keine Gefahr. Sie hatten ja auch bekommen, was sie wollten. Also wandte sie sich nach links, in den Gang hinein, der dort verlief.

***

Die brünette Frau führte ihn durch die große Halle. Jack sah sich aufmerksam um. Sie war sehr hoch, es schien es ihm, als müsse die Decke direkt unter dem Straßenpflaster liegen. Alles machte einen halbfertigen Eindruck, überall standen und lagen Baumaterialien herum. Auf einem Vorsprung, der sich etwa in normaler Deckenhöhe rund um die Halle zog, war eine Hebevorrichtung befestigt, die wie ein Kranarm aussah. Jack sah Ziegelstapel, Treppen, die ins Leere führten, Fenster ohne Glas. Sie stiegen eine Treppe hoch, die in einen kleinen Raum führte, der über ein auffälliges rundes Fenster, glaslos wie die anderen, verfügte.
In dem Raum, der wie ein Büro eingerichtet war, saß die Blonde hinter einem großen, klobigen Schreibtisch. Sie sah auf, als sie die beiden kommen hörte, und bat Jack hinein. Die Brünette ging.
Er sah sich um, als er eintrat. Das Zimmer war recht klein, verfügte aber über einen großen Kamin, in dem ein helles Feuer brannte. Das, einige Schränke und ein paar Farne als Topfpflanzen machten es fast gemütlich.
Die Frau wies auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. „Bitte, setze dich", sagte sie zu Jack. Er kam näher und ließ sich in den Stuhl sinken. Ein Gegenstand auf dem Schreibtisch erregte seine Aufmerksamkeit. Links von der Frau stand ein Telefon, zwar mit Wählscheibe, aber definitiv ein Telefon. Doch im Moment konnte ihn gar nichts mehr überraschen.
Jack richtete seinen Blick wieder auf die Frau. Sie war gerade dabei, von einem Stapel in ihrer Hand einige Banknoten abzuzählen. Als sie fertig war, schob sie sie zusammen und legte sie vor Jack auf den Schreibtisch. Aber er machte keine Anstalten, sie zu nehmen.
Die Frau hob die Hand und hielt sie über das Geld. „Wenn du es nicht haben willst ...", meinte sie bedeutungsvoll.
Nun beugte Jack sich doch vor und nahm das Geld. Aber es wirkte zögerlich, als wolle er es nicht wirklich. Die Blonde lächelte triumphierend.
Jack beachtete sie nicht. Er war immer noch mit seinen Gedanken bei dem Tod des Blowfish und fragte sich, worauf er sich hier eingelassen hatte. Diese Organisation machte einen zunehmend bedrohlichen Eindruck auf ihn. Die beiden Frauen waren skrupellos und dazu offensichtlich noch paranoid, eine äußerst gefährliche Mischung. Gegen solche Leute konnte man nicht gewinnen. Entweder tötete man sie oder man musste so viele Meilen wie nur möglich zwischen sich und sie bekommen – am besten verließ man das Land. Keine besonders attraktiven Möglichkeiten, dachte Jack resigniert.
Noch ganz in Gedanken beobachtete er, wie die Frau ein gefaltetes Blatt mit einem Stempel darauf aus einer ihrer Taschen zog und ihm hinhielt.
„Dein nächster Auftrag", sagte sie.
Doch Jack hatte eine Entscheidung getroffen. „Nein. Ich bin fertig mit euch", sagte er entschieden und stand auf. Er drehte sich zur Tür um zu gehen, aber die Stimme der Frau ließ ihn innehalten.
„Deine Freiheit steht in unserem Ermessen", sagte sie. Jack drehte sich wieder um und sah sie forschend an. In diesem Moment betrat die Brünette wieder das Büro. Sie blieb an der Tür stehen, bemerkte Jack aus den Augenwinkeln. Blitzschnell versuchte er seine Chancen zu ermitteln.
Gegen beide konnte er nicht gewinnen. Zu schnell war die Brünette mit der Pistole, außerdem stand sie schräg hinter ihm. Nie im Leben hätte er sie erreicht, bevor sie schießen konnte. Und die Blonde konnte er auch nicht als Schutz benutzen. Sie saß immer noch hinter dem Schreibtisch. Er hätte sich eine Kugel eingefangen, bevor er hinter ihr gewesen wäre. Also sagte er nichts und wartete erst mal ab.
Die blonde Frau sprach als erste: „Arbeite für uns, dann dienst du dem Empire. Wenn nicht, wirst du zu einer Bedrohung."
„Und du hast gesehen, wie wir mit Bedrohungen umgehen", ergänzte die Brünette.
Jack sah von einer zur anderen, er war immer noch damit beschäftigt, eine Lösung zu finden, bei der er unbeschadet davonkommen konnte. Die nächsten Worte der Frau hinter dem Schreibtisch überraschten ihn.
„Das ist gutes Geld, Captain. Wie sonst willst du hier deinen Lebensunterhalt bestreiten", sagte sie. Sollte das jetzt Zuckerbrot sein, nach der Peitsche von gerade eben? Er traf eine Entscheidung. Er würde nicht nachgeben. Jack horchte kurz in sich hinein. Julie war ganz in der Nähe, offenbar bewegte sie sich durch die Basis. Sollte er gleich erschossen werden, würde sie ihm zu Hilfe kommen. Gemeinsam konnten sie immer noch entkommen. Und dann mussten sie Cardiff eben für einige Zeit verlassen. Sie konnten warten.
Er ging zurück zum Schreibtisch und nahm das Blatt Papier. Der Stempel zeigte ein großes T in einem Hexagon. Anscheinend das Emblem dieser „Organisation", dachte Jack ironisch. Die Blonde lächelte wieder dieses triumphierende Lächeln. Jack überkam auf einmal das starke Verlangen, es ihr aus dem Gesicht zu schlagen. Aber er verbarg seine Gelüste hinter einem Grinsen.
Lässig hielt er das Blatt zwischen Zeige- und Mittelfinger hoch und schnippte es mit einer kurzen Bewegung auf den Schreibtisch, genau vor die Frau. Dann drehte er sich um und ging. Jacks Rückenmuskeln verkrampften sich in Erwartung eines Schusses, aber nichts geschah.
Stattdessen sagte die Blonde: „Mal sehen, wie du morgen darüber denkst."
Jack atmete auf, als er das Büro verlassen hatte. Er hörte noch, wie die Brünette sagte: „Ein hübscher Kerl. Aber du bist hübscher." Er bekam eine Gänsehaut und machte, dass er rauskam.
Auf dem Weg durch den Gang, der zum Ausgang führte, spürte er Julie nach. Sie bewegte sich noch immer in der Nähe. Jack vermutete, dass der unterirdische Komplex weitaus größer war als das, was er bisher gesehen hatte. Und sie schien ihn komplett auskundschaften zu wollen. Jack wagte es nicht, sie zu suchen. Außerdem wollte er nur noch raus aus diesem Bauwerk. Er hatte das Gefühl, er werde immer noch beobachtet. Langsam wurde er auch schon paranoid, schalt er sich in Gedanken. Aber das beruhigte ihn kein bisschen.
Erst als die Tür des Schuppens, in dem die geheime Tür lag, hinter ihm zufiel, entspannte er sich. Aber das war sofort wieder vorbei, als ihm einfiel, dass Julie immer noch dort drinnen war. Er stürzte hastig zurück in das Gebäude und untersuchte die Tür. Es gab keinen Griff, die Tür fügte sich fast unsichtbar in die Wand ein. Jack fuhr mit den Händen über das Türblatt und auch die angrenzenden Bereiche. Vielleicht gab es eine Art Kontaktfeld? Aber alles Abtasten half nichts, die Tür ließ sich nicht wieder öffnen.
Er konnte nicht mehr zurück, dieser Weg war nun versperrt. Was sollte er machen, wenn sie doch in Gefahr geriet? Wie konnte er nur so dumm sein? War es ihm gerade noch nicht schnell genug gegangen, die Basis zu verlassen, wollte er nun unbedingt wieder hinein.
Eine Zeitlang suchte er die Umgebung nach einer anderen Möglichkeit ab, wieder hinein zu gelangen. Es musste doch einen weiteren Zugang geben, dachte er immer wieder. Wie sonst wurden die ganzen Baumaterialien hinunter geschafft?
Aber er fand keinen. Momentan schien dort auch nicht gearbeitet zu werden. Er hatte keine Arbeiter gesehen. Und es war ganz still in dem Komplex gewesen, kein Baulärm, nichts.
Irgendwann gab er auf und setzte sich in eine der Hafenschänken. Er entschied sich für diejenige, die ganz in der Nähe der Basis lag, und ließ sich auf einer der Bänke nieder, die wenigstens eine Mauer als Lehne hatten. Die Bank bestand nämlich nur aus einer rohen Holzplanke, die ziemlich unsicher auf zwei Ziegelsteinstapeln balancierte. Der Tisch war ein kleines Fass, auf das ein Brett gelegt worden war. Ebenfalls eine recht wacklige Angelegenheit.
Dort wartete er bei einem Krug Bier darauf, dass Julie wieder auftauchte. Die Stunden verstrichen und Jack stieg auf härtere Getränke um. Er spürte zwar nicht, dass sie in Gefahr war, aber allein die Zeit, die verging, ohne dass sie erschien, beunruhigte ihn zunehmend.
Der Schnaps schmeckte ekelhaft, aber zumindest bescherte er Jack einen kleinen Schwips und beruhigte ihn etwas. Mehr würde er sowieso nicht erreichen.
Das Mädchen, das an seinen Tisch trat, bemerkte er nicht sofort. Es war inzwischen dunkel geworden und die dünnen Kerzen auf den Tischen kamen gegen die Dunkelheit kaum an. Jack nahm sie erst wahr, als sie ihn ansprach.
„Soll ich Ihnen die Karten legen?" fragte sie. Sie war vielleicht vierzehn Jahre alt, wirkte aber durch ihr anämisches Aussehen und die ärmliche Kleidung viel jünger. Alles in Allem eine klägliche Erscheinung, wie man sie in den Armenvierteln Cardiffs zuhauf antrat.
Jack schüttelte den Kopf und hob seinen Becher, um sich einen weiteren Zug zu genehmigen.
„Nein, danke", sagte er.
Das Mädchen begann unbeeindruckt, die Becher und Flaschen vom Tisch zu schieben. Jack schaute ihr teilnahmslos zu. Dann setzte sie sich ihm gegenüber auf ein Fässchen, das als Hocker diente, und begann ihre Karten auszulegen.
Jack machte noch einmal einen halbherzigen Versuch, sie loszuwerden. Dafür hatte er jetzt gar keine Zeit. Wenn er sich solche Spielereien ansehen wollte, konnte er das bei den Gauklern haben – Julie kannte da auch einige interessante Tricks, dachte er leicht verärgert.
Aber das Mädchen ignorierte ihn und legte drei Karten auf den Tisch. Jack schaute sich die Karten genauer an. Sie waren zwar ziemlich abgegriffen, aber sehr detailliert bemalt, fast schon kleine Kunstwerke. Auf der ersten war ein Turm zu sehen, in den ein Blitz einschlug. Zwei Figuren stürzten kopfüber herunter. Die zweite Karte zeigte einen Ritter in voller Rüstung, mit gezogenem Schwert, das Schild auf den Boden gestützt. Die dritte Karte war mit einem von drei Schwertern durchbohrten Herz bemalt.
Die Stimme des Mädchens riss ihn aus seinen Gedanken. "Er wird kommen. Der, nach dem du suchst", sagte sie. Jack schaute sie erstaunt und auch etwas erschrocken an, doch sie war schon dabei, die nächsten drei Karten aufzudecken.
Die erste zeigte einen Kelch, aus dem zwei Wasserströme rannen; eine Taube schwebte darüber. Auf der zweiten war ein Mond zu sehen, der von zwei Hunden angebellt wurde. Und das Bild der letzten zeigte eine nur mit einem Tuch bekleidete Frau mit einem Stab in jeder Hand, über der die Zahl 'XXI' stand.
"Aber das Jahrhundert wird sich zweimal wenden, bevor ihr euch wieder findet."
Ein kalter Schauer rieselte Jack über den Rücken. Über einhundert Jahre, dachte er freudlos. Dann durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Die Vision von Julie, damals in ihrem Zelt. Das, was er von ihrem Gestammel verstanden hatte: Einhundert - einhundert Jahre.
Woher wusste das Mädchen davon? Er hatte ihr bestimmt keine Hinweise gegeben. Oder doch? Er war bei seiner Suche nach dem Doctor ja nicht gerade vorsichtig gewesen, dachte er sarkastisch. So war schließlich auch Torchwood auf ihn aufmerksam geworden. Aber eine leichte Unsicherheit blieb. Das zeigte er dem Mädchen natürlich nicht und lachte spöttisch.
„Meinst du das ernst?" Sie schaute ihn an und bei diesem Blick blieb Jack das Lachen im Halse stecken. Es drückte Missbilligung aus und Verärgerung darüber, dass er ihren Prophezeihungen nicht glaubte. So sah Julie ihn auch immer an, wenn er mal wieder Witze machte über etwas, womit es ihr ernst war.
Nachdenklich senkte Jack den Kopf, sein Blick fiel auf die Karten, die immer noch auf dem primitiven Tischchen lagen. Jack stutzte. Die Karten lagen aus seiner Sicht auf dem Kopf, aber die mit dem Ritter erregte seine Aufmerksamkeit. Er nahm die Karte in die Hand und betrachtete sie genauer. Erstaunt erkannte er, dass das Gesicht des Ritters dem seinen ähnelte. Nachdenklich drehte er die Karte in seinen Fingern und legte sie dann wieder auf den Tisch.
Er sah das Mädchen an. „Du meinst, ich muss hundert Jahre auf ihn warten?" fragte er resigniert. „Dann hatte Julie doch recht …"
Das Mädchen sah ihn nur und sagte nichts. Dann schweifte ihr Blick ab zu etwas, das anscheinend rechts hinter ihm zu sehen war. Sie neigte den Kopf ein wenig, als grüße sie jemanden dort.
„Mylady", sagte sie ernst.
Jack blickte erstaunt über ihr Gehabe über seine Schulter nach hinten. Und dort sah er Julie, auf die er die ganze Zeit gewartet hatte. Er lächelte, aber Julie sah nur zu dem Mädchen und nickte ihr zu. „Klotho", sagte sie ebenso ernst.
Als habe sie ihr damit noch viel mehr gesagt, stand das Mädchen wortlos auf, nahm ihre Karten und ging davon. Jack schaute ihr verblüfft nach, dann sah er fragend zu Julie.
Julie blickte ihn an und lächelte. „Hallo Jack", sagte sie nur. Sie trat zu ihm und umarmte ihn. Er legte seine Arme ebenfalls um sie. Irgendwie hatte er das Gefühl, das sei jetzt notwendig.
Eine Zeitlang standen sie einfach nur so da. Sie mussten ein seltsames Bild abgeben für die anderen Gäste, aber ein schneller Blick zeigte ihm, dass niemand ihnen Beachtung schenkte. Die meisten Zecher waren sowieso zu betrunken dazu.
Dann schob er Julie auf Armeslänge von sich und sah sie an. Sie war staubig, mit Dreckstreifen im Gesicht, als sei sie bei Torchwood auch noch in den hintersten Winkel gekrochen. Was wahrscheinlich auch der Fall war, dachte Jack.
„Wo warst du so lange? Und was war das denn gerade", fragte er sie.
Julie lachte. „Welche Frage soll ich dir zuerst beantworten?" meinte sie.
Jack tat so, als dächte er ernsthaft darüber nach. Dann sagte er: „Wer war das Mädchen? Ihr kennt euch?"
Julie nickte. „Das war Klotho. Du hattest gerade eine Begegnung mit dem Schicksal."
Jack sah sie verständnislos an. „Die Kleine war ganz geschickt mit den Karten, das stimmt. Aber so gut auch wieder nicht."
Julie schüttelte den Kopf und lachte. „Das meinte ich nicht. Sie ist eine Inkarnation des Schicksals, eine der drei Spinnerinnen. Die alten Griechen nannten sie Klotho, Lachesis und Athropos."
Jack schaute sie fassungslos an und ließ sich auf die Bank sinken. Julie setzte sich neben ihn und lehnte den Kopf an die Wand.
Jack sah sie sprachlos an, als ihm aufging, was sie damit sagen wollte. So saßen sie schweigend nebeneinander, dann murmelte Julie: "Das gibt es auch nur auf diesem Planeten. Götter und Mächte materialisieren sich, weil die Menschen an ihre Existenz glauben ..." Jack sah sie erstaunt an, aber sie schien es nicht zu bemerken.

***

Das Erscheinen von Klotho hatte sie überrascht. Damit hatte sie nicht gerechnet. Julie hatte die Karten gesehen – Tarotkarten, damit arbeitete Klotho gerne. Sie waren Sinnbilder für das, was sie voraussagte, nichts weiter. Aber sie lenkten die Menschen ab und gaben ihr die Tarnung, die sie benötigte. Julie benutzte sie selbst manchmal.
„Was hat sie dir gesagt?" fragte sie Jack neugierig. Der musste einen Moment überlegen, zu sehr beschäftigte ihn noch Julies Erklärung, das Mädchen sei gar kein Mädchen gewesen, sondern eine Göttin oder so etwas Ähnliches.
Dann sagte er: „Sie sagte, der Doctor würde kommen. Aber erst im 21.Jahrhundert." Seine Stimme war immer leiser geworden, jetzt verstummte er ganz. Julie konnte sehen, wie sein Blick sich nach innen wandte, als er darüber nachgrübelte.
Dann wurde sein Blick wieder klar und fokussierte sich auf sie. „Julie", sagte er, „das Gleiche hast du damals gesagt, weißt du noch, in deinem Zelt. Hundert Jahre. Und ich habe die ganze Zeit geglaubt, du wolltest nur eine Show abziehen", schloss er bitter.
Julie berührte seine Hand. „Mach’ dir nichts draus. Ich bin gewohnt, dass man mir meine Vorhersagen nicht glaubt. Und die Vision hat auch mich erschreckt." Sie lächelte kurz, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Ihr war ein Verdacht gekommen - war ihre Vision auch das Werk Klothos gewesen? Oder einer ihrer Schwestern? Möglich wäre es. Diese Wesen verfolgten ihre eigenen Pläne. „Aber das ist auch nicht so wichtig. Mir wäre lieber gewesen, du hättest auf meine Warnungen gehört, was Torchwood betrifft."
Jack fragte auch sofort: „Richtig, was hast du so lange dort gemacht?" Genau, wie sie es beabsichtigt hatte.
„Mich ein bisschen umgesehen", antwortete sie lächelnd.
„Aha", sagte Jack nur und sah sie auffordernd an.
„Der ganze Komplex ist noch in der Bauphase, aber die Ausmaße sind schon erkennbar", berichtete Julie. „Jack, ich habe Baupläne gefunden, das Ganze wird riesig! Und sie setzen außerirdische Technologie ein. Ich habe eine Halle gesehen, die mit Kryofächern ausgestattet ist – noch nicht in Betrieb, aber der Zweck ist schon deutlich erkennbar. Überall werden Kabel verlegt, sie verfügen sogar über ein eigenes kleines Kraftwerk für die Stromerzeugung. Ich habe auch viele andere Unterlagen gefunden. Sie wissen von dem Rift und was es bewirkt. Deshalb wird der Stützpunkt überhaupt hier in Cardiff gebaut. Es gibt dort Akten von allen möglichen außerirdischen Spezies und Geräten, die sie beobachtet und untersucht haben. Und ich glaube, du weißt, was ‚untersucht’ bedeutet."
Sie schüttelte den Kopf und sah Jack eindringlich an. „Der Hauptsitz ist London, das hier in Cardiff ist nur eine Nebenstelle. Jack, es gibt auch eine Akte über den Doctor. Der Doctor wird von ihnen als Bedrohung eingestuft, vielleicht als gefährlichste von allen!"
Jack sah sie alarmiert an. Sie konnte seine Besorgnis auch ohne Empathie erkennen, ihr selbst erging es nicht anders.
Jack sagte: „Verdammt, und ich habe geglaubt, wir machen uns einfach aus dem Staub. Ein paar Monate oder auch Jahre weit weg von hier und alles hätte sich erledigt."
Julie sah ihn nachdenklich an. „Wo sollten wir hin? Das Empire ist groß und sein Arm reicht noch weiter – ganz zu schweigen von den Befugnissen Torchwoods. Wo wären wir sicher, dass sie uns nicht finden können?"
Jack zuckte ratlos mit den Schultern. Beide schwiegen in Gedanken versunken. Dann sagte Julie: „Ich wundere mich, dass sie dich überhaupt haben laufen lassen."
Sie konnte richtig sehen, wie er aus seinen Grübeleien heraus auftauchen musste. „Haben sie auch nicht – jedenfalls nicht richtig", antwortete Jack ernst. Einen Moment schwieg er wieder, als müsse er sich das Geschehene wieder ins Gedächtnis rufen. Sein Blick richtete sich auf nichts Bestimmtes, dann sagte er: „Sie wollten, dass ich weiter für sie arbeite. Sie haben mir sogar Geld dafür angeboten. Aber ich habe abgelehnt. In dem Moment habe ich wirklich damit gerechnet, dass sie mich wieder erschießen und ich mich kurz darauf in einer der Zellen wiederfinde." Er schaute Julie an und grinste. „Aber ich dachte mir, dass du mich da schon wieder rausholst."
Sie musste lachen. Gottlob, der alte Jack war ja doch noch da. Sie hatte schon befürchtet, das Ganze hätte ihm seine sorglose Art gründlich ausgetrieben. Spontan umarmte sie ihn und gab ihm einen Kuss.
Erstaunt fragte er: „Wofür war das denn?" Julie lachte wieder und sagte: „Ich bin nur froh, dass du doch nicht völlig todernst geworden bist." Jack brach in lautes Gelächter aus und Julie stimmte ein.
Sie konnten sich gar nicht mehr beruhigen, die anderen Leute schauten sie schon beunruhigt an. Die ganze Anspannung der letzten Stunden entlud sich in diesem Gelächter, das ihnen die Tränen in die Augen trieb und sie schließlich nur noch nach Luft schnappen ließ. Aber so hörten sie wenigstens auf zu lachen.
Als sie sich einigermaßen beruhigt hatten, bemerkte Jack: „Ich glaube, wir sollten hier verschwinden. Wir erregen allmählich unerwünschte Aufmerksamkeit."
Sie sah sich um, dann nickte sie lächelnd. Beide standen gleichzeitig auf und gingen. Auf dem Weg zu Jacks Unterkunft sprachen sie kein Wort. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
In Jacks Zimmer sahen sie sich an, immer noch schweigend. Julie wartete einfach, bis Jack anfing zu sprechen.
„Was sollen wir tun?" fragte er.
Aber sie wusste, dass er sich schon längst entschieden hatte. Julie legte ihre Hand auf seine Brust und lächelte. „Sag’ du es mir."
Jack legte seine Hand auf ihre und lächelte ebenfalls. „Ich werde den Job annehmen."
Julie nickte nur. Sie setzten sich beide auf Jacks Bett. Jetzt ging es darum, die Details auszuarbeiten. Jacks Zusammenarbeit mit Torchwood würde ihnen eine gewisse Kontrolle über dessen Aktivitäten verschaffen. Davon versuchten sie sich jedenfalls gegenseitig zu überzeugen. Aber sie wussten beide, dass sie sich auf ein gewagtes Spiel einließen.
Jack fragte auch, ob sie nicht mit ihrer Wahrsagerei ein bisschen in die Zukunft blicken könne. Julie senkte den Kopf und schaute ihn dann schräg von unten an. „Ach, auf einmal glaubt der Herr an meine Fähigkeiten", sagte sie spöttisch.
Jack verzog das Gesicht, als habe er etwas Schlechtes gegessen. „Das muss ich ja wohl", sagte er in einem Ton, als bereite es ihm Schmerzen, so etwas zuzugeben. „So viele Zufälle kann es nicht geben. Vor allem nach der Sache mit diesem Mädchen, das das Schicksal ist." Er grinste schon wieder. Julie schlug nach ihm und meinte gespielt hochnäsig: „Das wird ja auch langsam Zeit. Wie konntest du überhaupt an meinen Fähigkeiten zweifeln?!" Jack hielt ihre Hand, mit der sie nach ihn geschlagen hatte, fest. Jetzt küsste er sie auf die Innenseite des Handgelenks. „Entschuldigt vielmals, Mylady", sagte er scherzhaft.
Julie nächste Worte waren wieder ernst. „Ich mag diesen Titel nicht, Jack." Sie entzog ihm ihre Hand. „Er steht mir nicht zu, nicht mehr." Sie schwieg einen Moment, in dem Jack sie nachdenklich ansah. Julie senkte den Blick, plötzlich verlegen. Schnell wechselte sie das Thema. „Ich habe schon versucht die Zukunft zu sehen, auf dem Weg hierher", sagte sie niedergeschlagen. „Aber ich bekomme kein klares Bild, es ist alles sehr verworren. Die Zeitlinien differieren so stark, dass ich keine vernünftige Aussage treffen kann." Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber wir werden uns auf uns selbst verlassen und improvisieren müssen, wenn es notwendig wird."
Als Jack vorschlug, dass sie doch zusammen als Team für Torchwood arbeiten könnten, ohne dieses Versteckspiel, riss Julie entsetzt die Augen auf und protestierte heftig. Jack schaute sie perplex an. Sie spürte, dass er gar nicht wusste, was ihre heftige Reaktion ausgelöst hatte, und bekam prompt ein schlechtes Gewissen.
Spontan traf sie eine Entscheidung. Aber es fiel ihr schwer, diese auch in die Tat umzusetzen. Zu lange hatte sie dieses Geheimnis verborgen, jetzt wusste sie nicht, wie sie darüber sprechen sollte. Jack hatte genug aus seinem Leben erzählt, dass sie wusste, er war bestimmt nicht xenophob, ganz im Gegenteil. Aber trotzdem hatte sie Angst davor, wie seine Reaktion ausfallen würde.
Jack spürte ihre Unsicherheit und nahm ihre Hand. Sie verschränkten die Finger ineinander und Julie lächelte. Manchmal hatte sie den Verdacht, er sei auch Empath. Nur ein schwacher, aber das würde einiges erklären.
Sie holte tief Atem. „Mein wahrer Name ist Rhuhileina Coarneru", begann sie. Sie sah Jack an, er nickte ihr beruhigend zu. Trotzdem verkrampften sich ihre Finger, die Jacks Hand hielten. „Jack, ich bin kein Mensch", stieß sie hastig hervor, bevor sie es sich anders überlegen konnte. „Ich habe jetzt zwar einen menschlichen Körper, aber darin fand ich mich erst nach dem Unfall wieder. Meine Erinnerungen sind zwar bei weitem noch nicht vollständig, aber eines weiß ich: Eigentlich bestehe ich nur aus Energie. Ich - Wir sind Wächter. Für uns existieren alle Zeitlinien gleichzeitig, alles läuft parallel ab. Und wir wachen darüber, dass die Linien nicht zerstört werden. Das ist nicht einfach, die Zeitlinien sind verwirrend, und zu viele pfuschen daran herum - Time-Agency, ein gewisser Timelord ..." Julie verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen, als müsse sie sich für etwas entschuldigen.
„Ich - wir sind Individuen, aber auch eins. Wenn man alles miteinander teilt, immer die Gegenwart der anderen spürt, wie ein einziger großer Organismus, ist man nie allein. Es ist Geborgenheit, Sicherheit, Familie. Und nun bin ich seit fast drei Jahrhunderten schon in diesem Körper gefangen, in einer Zeit, isoliert von anderen, wie blind und taub. Ich fühle mich immer einsam. Selbst unter tausend Menschen. Es ist schon besser geworden, seit du da bist. Aber es wird wohl nie ganz vergehen."
Ihre Stimme war immer leiser geworden, ihre Augen starrten in die Ferne. Jack legte auch noch seine andere Hand auf die ihre. Die Berührung schien sie wieder in die Gegenwart zu holen. Sie schaute ihn an.
"Ich führte gerade Beobachtungen durch, mit dem Vortex, als unser Unfall geschah. Jack, ich weiß nicht, wie menschlich dieser Körper ist. Ich weiß nicht einmal, ob mein Bewusstsein diesen Körper übernommen hat oder er damals erst erschaffen wurde. Und ich habe keine Lust herauszufinden, ob Torchwood in der Lage ist das herauszufinden." Sie lächelte, aber es wirkte mechanisch. „Soweit ich bisher feststellen konnte, scheint alles da zu sein, wo es hingehört. Aber ich will nicht das Risiko eingehen, von Torchwood als Studienobjekt eingestuft zu werden."
Sie sah Jack eindringlich an, wartete ängstlich auf seine Reaktion. Er lächelte und legte die Arme um sie. Julie lehnte sich an ihn, das Gesicht und die Hände auf seine Brust gelegt.
„Mein kleines Alien", sagte er leise. Es klang gleichzeitig spöttisch und liebevoll. „Ich habe so etwas schon vermutet. Manches, was du gesagt hast, war so distanziert, als wenn du alles nur von außen beobachtest, als Fremde. Und deine Fähigkeiten gehen weit über das hinaus, was menschlich ist. Aber das andere ist so hundertprozentig menschlich – sich über so etwas Sorgen zu machen…"
Julie musste unwillkürlich lächeln. Sie spürte, wie Jack ihr die Mütze abnahm und die Haarnadeln herauszog, die ihren Zopf festhielten. Der Zopf fiel ihr auf den Rücken, Jacks Hände flochten ihn auf und fuhren durch ihr Haar. Er liebte es, damit zu spielen. Und ihr gefiel, wenn er es tat. Sie legte ihre Arme um seinen Körper und schmiegte sich noch enger an ihn.
Dann wurde ihr wieder der Ernst der Lage bewusst. Sie schob sich etwas von ihm fort, hob den Kopf und sah Jack an. Er war immer noch ganz versunken darin, mit den Händen durch ihr Haar zu fahren.
„Jack", sagte sie ernst, „es mag irrational klingen. Aber ich habe schon erfahren müssen, was Menschen mit Leuten anstellen, die anders sind." Ein Schauer überfuhr sie so heftig, dass sie zu zittern anfing.
Jack sah sie, plötzlich besorgt, an. „Was ist?" fragte er.
Aber Julie hatte sich schon wieder gefangen. „Schon mal verbrannt worden?" fragte sie ironisch. „Ist kein schöner Tod. Dauert vor allem verdammt lange …"
Jacks Blick zeigte erst Entsetzen, dann Verlegenheit und schließlich Verständnis. Er nahm sie wieder in die Arme und ließ sich mit ihr auf das Bett sinken.

Später lagen sie engumschlungen in Jacks schmalem Bett. Natürlich auch, weil die schmale Pritsche gar nichts anderes zuließ, wenn zwei Personen darauf Platz haben wollten. Aber auch, weil beide wussten, dass ihnen am nächsten Morgen ein Abschied bevorstand.
Kein Abschied voneinander, dachte Julie, das nicht. Aber ihr bisheriges Leben war vorbei, sobald Jack die Torchwood-Basis betrat.
Ein Sprichwort fiel ihr ein, angeblich ein Fluch: Mögest du interessante Zeiten erleben. Das stand ihnen jetzt auch bevor, dachte Julie sarkastisch. Schöne Aussichten!Sie hatte ihr Gesicht in Jacks Halsbeuge geschmiegt und versuchte, an nichts mehr zu denken. Sie sollte etwas schlafen. Die Energie würde sie morgen brauchen. Sie sollte auch müde sein nach den fast akrobatischen Leistungen, die dieses Bett ihnen abverlangt hatte. Julie lächelte. Ihr fiel einfach nicht mehr ein, dachte sie träge, warum sie eigentlich unbedingt auf dem Bett hatten bleiben wollen.
Aber an Schlaf war nicht zu denken. Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf, immer rund und rund.

***

Auch Jack konnte nicht schlafen, weil die Gedanken an morgen ihn wach hielten. Er spürte, wie sich Julie immer wieder bewegte. Sie lagen so eng aneinander, dass er auch noch die kleinste Bewegung, jedes Muskelzucken von ihr mitbekam.
Ironisch dachte er, dass er sich demnächst wohl ein größeres Bett anschaffen sollte. Die Besuche in Julies Haus waren erst einmal gestrichen. Auch darüber hatten sie vorhin diskutiert, welche Vorsichtsmaßnahmen sie ergreifen sollten und mussten, damit Torchwood nicht auf ihre Partnerschaft aufmerksam wurde.
Ihre heftige Ablehnung seines Vorschlags, sie könne doch genau wie er für das Institut arbeiten, hatte ihn überrascht. Er traute Torchwood zwar auch nicht, aber ihr Misstrauen kam ihn übertrieben vor. Bis sie erwähnte, dass sie schon einmal verbrannt worden war. Ihn schauderte, als er sich das ausmalte. Die Elektroschocks, mit denen ihn die Blonde malträtiert hatte, waren schon quälend genug gewesen. Aber verbrannt zu werden … Seine Muskeln verkrampften sich unwillkürlich. Eine lebhafte Phantasie zu besitzen, hatte auch negative Seiten.
Er spürte wieder, wie Julie sich bewegte. Sie streichelte sanft über seinen Rücken und küsste ihn ganz leicht in die Kuhle zwischen Schulter und Hals. Jack lächelte und entspannte sich. Er küsste sie zärtlich auf den Nacken, fuhr mit der freien Hand durch ihr Haar und dann weiter ihren Rücken hinunter. Auch ihre Hände bewegten sich auf seinen Rücken hinunter, bis sie auf seinen Pobacken ruhten. Jack drehte sich auf den Rücken und zog Julie mit, so dass sie halb auf ihm lag. Sie küsste ihn auf den Mund. Jack spürte ihre Zunge und öffnete die Lippen. Sie folgte der Einladung.
Nicht die schlechteste Idee, die Zeit zu verbringen, dachte Jack, das verjagt wenigstens die trüben Gedanken.

Irgendwann schlief er doch noch ein. Bei Sonnenaufgang erwachte Jack. Ihm war kalt. Er fand auch schnell den Grund dafür heraus: Die Decke war vom Bett gerutscht und Julie lag nicht mehr neben ihm. Er konnte nicht lange geschlafen haben. Plötzlich besorgt, richtete er sich ruckartig auf. Sie war doch nicht etwa klammheimlich verschwunden?
Als sie ihn ansprach, zuckte er zusammen. Hastig drehte er sich um. Julie stand hinter ihm an der Dachluke, durch die das erste Licht fiel. Sie stand, wieder bekleidet, seitlich zum Fenster, den linken Arm auf den Rahmen gelegt, als habe sie gerade noch hinausgesehen. Aber jetzt sah sie ihn an, mit einen leicht spöttischen Lächeln auf den Lippen.
„Ich hasse es, wenn du das tust", sagte er.
Julie Lächeln wurde stärker. „Du könntest dir auch allmählich mal einen anderen Spruch einfallen lassen", meinte sie. „Und ich werde schon nicht verschwinden."
Jack schaute sie verblüfft an. „Kannst du jetzt auch noch Gedanken lesen?" fragte er.
Julie kam auf ihn zu und setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das habe ich noch nie gekonnt", sagte sie, „aber dein Gesicht hat alles so deutlich ausgedrückt, da brauche ich keine Telepathie."
Jack sah sie schweigend an, dann fragte er: „Hast du schon lange dort am Fenster gestanden?"
Sie nickte und sah zu der Luke, durch die nun Sonnenstrahlen fielen. „Ich konnte nicht schlafen, wollte dich aber nicht wecken. Also habe ich den Himmel beobachtet. Die Sterne sind so klar und deutlich hier, es erstaunt mich immer wieder. Kein künstliches Licht, das den Blick verstellt. Du kannst sogar schwache Sterne ganz deutlich erkennen. Und jede Farbnuance am Himmel, wenn der Morgen anbricht und das Schwarz ganz allmählich in Blau übergeht." Einen Moment schwieg sie, dann hörte Jack, wie sie leise sagte: "Die Sonne scheint. Es wird ein schöner Tag ..." Jack sah sie an, sie starrte immer noch zum Fenster. Er beugte sich zu ihr und griff nach ihrer Hand.
Julie sah ihn an, ihr Blick klärte sich langsam wieder. Dann lächelte sie ihn an und stand auf.
"Wir sollten uns auf den Weg machen." Ihr Lächeln wurde breiter. "Aber vorher solltest du dir etwas anziehen."
Jack seufzte. "Also los. Ziehen wir's durch."
Es lief alles wie abgesprochen. Jack ging anscheinend allein zur Torchwood-Basis. Julie folgte ihm als seine Lebensversicherung. Und sie würde ihm die Geheimtür öffnen, wenn es notwendig sein sollte.
Aber das brauchte sie gar nicht. Jack wurde in dem Schuppen schon erwartet. Die Brünette stand in der geöffneten Tür und lächelte ihn an, als habe sie nichts anderes erwartet. Jack folgte ihr durch die große Halle zu dem kleinen Büro, wo die Blonde auf sie wartete.
"Da bist du ja wieder", sagte sie spöttisch. Jack biss die Zähne zusammen. Diesmal wollte er sich nicht aus der Reserve locken lassen, obwohl die Wut wieder in ihm hochstieg. Sie hielt ihm den Zettel hin, den er gestern abgewiesen hatte.
Wortlos nahm Jack ihn, das Gesicht starr vor Anstrengung, sich nichts anmerken zu lassen.
Diesmal ginge es um eine Gruppe von außerirdischen Wesen, erklärte sie ihm. Kreaturen, die im Untergrund hausten, menschenähnlich, aber mit schrecklich verzerrten Gesichtern und gefährlichem Raubtiergebiss.
Sie ließen sich nur nachts an der Oberfläche sehen, dann gingen sie auf Raubzüge. Und immer wieder töteten sie Menschen. Die Blonde vermutete, dass inzwischen einige von ihnen auf den Geschmack gekommen seien und sich von Menschenfleisch ernährten. Jack sollte sie aufspüren und erst einmal mehr Informationen über diese Spezies sammeln.
Sie gab ihm auch eine Pistole, ausreichend Munition und ein anderes Gerät, das eindeutig außerirdischen Ursprungs war. Damit könne er die "Weevils", wie sie die Wesen nannte, aufspüren.
Jack war überrascht. Vertrauten sie ihm schon so weit, dass sie ihm ohne Bedenken solch ein Gerät und eine Waffe überließen? Oder war das nur ein weiterer Test?
Wortlos nickte er und wollte schon gehen, da sagte die Blonde: "Nicht sehr gesprächig heute, wie? Hast du deine Zunge verschluckt?" Jack schoss ihr einen bösen Blick zu, sagte aber immer noch nichts. Die Frau schaute ihn abschätzend an, dann sagte sie: "Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Emily Holroyd, ich leite diese Abteilung."
Unwillkürlich nickte Jack. "Das ist mir nicht entgangen", sagte er ironisch.
Emily Holroyd sah ihn streng an. "Du hast ja deine Sprache wiedergefunden", meinte sie gespielt erstaunt. Sie deutete auf die Brünette, die nun neben ihr stand. "Und das ist meine Kollegin, Miss Alice Guppy."
Jack zog die Augenbrauen hoch. "Kollegin, so, so ..." sagte er anzüglich.
Die beiden Frauen tauschten einen ärgerlichen Blick. Im gleichen Moment verfluchte er seine schnelle Zunge. Er sollte doch erst nachdenken, bevor er etwas sagte. Aber irgendwie gelang es ihm nie, sich auch daran zu halten.
Doch die beiden Frauen entschieden sich, seine Bemerkung zu ignorieren. Emily Holroyd sagte nur: „Wir erwarten deinen Bericht in spätestens einer Woche." Dann war er entlassen.
Alice Guppy begleitete ihn noch bis zum Ausgang und zeigte ihm dort, wie man die Geheimtür von außen öffnete. Er konnte also jetzt jederzeit die Basis betreten, dachte Jack erstaunt. Dann regte sich Misstrauen bei ihm. Konnten sie wirklich so sorglos sein? Oder gab es doch irgendwelche Sicherheitssysteme, mit denen die Basis überwacht wurde?
Er traf sich mit Julie am Hafen. Diesen Treffpunkt hatten sie ausgemacht, weil es in dem ständigen Gedränge, das hier herrschte, so gut wie unmöglich war, sie zu beobachten. Natürlich war sie die ganze Zeit in der Nähe gewesen. Jack erzählte ihr von seinem neuen Auftrag und wie sich die beiden Frauen verhalten hatten. Auch von seinem Verdacht sprach er, dass sie viel zu sorglos waren im Umgang mit ihm. Oder litt er allmählich unter Verfolgungswahn? Sah er überall Gefahr, wo es gar keine gab? Julie wusste darauf keine Antwort. Sie habe keine Anzeichen für Lügen bei den Frauen gefunden, auch nicht dafür, dass sie bewusst Informationen zurückhielten, nur eine fast unheimliche Selbstsicherheit.
Seinen Bedenken, dass es doch eine raffinierte Überwachung in der Basis gebe, widersprach sie. Keine Kameras, keine Mikrofone, sagte sie bestimmt. Auch keine Hinweise auf entsprechende außerirdische Technologie. Torchwood Cardiff ging entweder davon aus, dass Jack keinen Schaden anrichten würde oder konnte, oder den Frauen war so ein Gedanke einfach noch nie in den Sinn gekommen.

Bald war Jack sicher, dass Torchwood nicht daran dachte, ihn ständig zu überwachen. Er arbeitete für sie, das schien ihnen zu genügen. Was er sonst noch machte, interessierte sie nicht. Diese Aufträge nahmen ihn nicht wirklich in Beschlag. Und sie zahlten wirklich gut.
Julies Beobachtungen bestätigten sein Gefühl. Misstrauisch, wie sie war, überprüfte sie ständig die Umgebung, wenn sie sich trafen. Aber sie fand nie Anzeichen dafür, dass Jack überwacht wurde.
Die ersten Wochen wirkte sie regelrecht gehetzt. Jack hatte den Verdacht, dass sie einen großen Teil ihrer Zeit damit zubrachte, die Torchwood-Basis auszuforschen. Er verstand nicht, was sie dort noch suchte. Inzwischen müsste sie doch alles gesehen und jede Akte mindestens einmal gelesen haben. Sie schien geradezu davon besessen, so wie sie früher vom Rift besessen gewesen war.
Julies Argwohn Torchwood gegenüber konnte allerdings nichts, was passierte - oder gerade nicht passierte - und auch nichts, was Jack sagte, aus der Welt schaffen. Er redete wirklich mit Engelszungen auf sie ein, was das betraf, aber ihre Einstellung änderte sich kein bisschen.
Allmählich wurde aber auch Julie ruhiger. Oder sie zeigte ihr Misstrauen nur nicht mehr so deutlich, dachte Jack.

***

Was sie wirklich machte, wenn sie mal wieder unterwegs war, wollte sie Jack einfach nicht anvertrauen. Er verstand sowieso nicht, warum sie sich immer noch so intensiv mit Torchwood beschäftigte. Wenn sie ihm erzählen würde, was sie dort tatsächlich trieb, hätte er ihr wohl nicht geglaubt.

Denn sie baute an der Basis mit. Natürlich nicht offen. Aber sie war ständig dort und beobachtete die Bauarbeiten. Manchmal nahm sie dann einige Modifikationen vor, entweder eigenhändig oder indem sie die Baupläne „bearbeitete“. Sie lächelte in sich hinein. Es war so einfach, eine versteckte Tür, einen Gang zusätzlich hier und da oder geheime Öffnungsmechanismen einzuzeichnen. Ihre technischen Kenntnisse, vor allem die aus ihrem „früheren Leben“ machten es leicht für sie.

Die Bauarbeiter verließen sich blind auf die Pläne, sie verstanden sowieso nicht, was sie da errichteten. Und die Pläne waren aus London gekommen, Holroyd und Guppie verstanden sie ebenso wenig wie die Arbeiter. Sie hatten nichts damit zu tun, außer die Arbeiten zu beaufsichtigen.

Julie war sich sicher, dass diese heimlichen Änderungen einmal lebensrettend sein würden. Sie wusste nicht, woher diese Gewissheit kam, ob aus ihrer Zeitsicht oder aus der Vision. Doch sie stellte sie nicht in Frage und tat, was nötig war.

Aber das genügte ihr noch nicht.

***

Ihr Leben normalisierte sich also wieder, so schien es - bis Julie verschwand.
Jack fand den Zettel auf seinem Bett, als er von einem Auftrag für Torchwood zurückkehrte, der ihn einige Tage beschäftigt hatte. Inzwischen wohnte er schon längere Zeit recht komfortabel. Sein nun - dank Torchwood - sehr gutes Einkommen ermöglichte es ihm, eine angemessene Wohnung in einem ansehnlichen Cardiffer Stadthaus zu mieten. Besser als die ärmliche Bude früher war es auf jeden Fall.

Das Blatt enthielt nur wenige Zeilen:

Liebster Jack,
Charles hat mich gebeten, ihn auf die nächste Tournee zu begleiten, und ich habe sein Angebot angenommen.
Er will nach Osten, wir werden wohl sechs Monate unterwegs sein.

Julie

Nachdenklich hielt Jack den Brief in der Hand. Er prüfte das Band. Ja, sie war schon ziemlich weit entfernt, sie mussten vor mindestens zwei Tagen aufgebrochen sein. Irgendwie fühlte Jack sich verraten. Wieso hatte sie diesen Weg gewählt, war heimlich aufgebrochen, ohne ein einziges Wort? Wenigstens hatte sie ihm diesmal eine Nachricht hinterlassen, dachte er ironisch.
Dann fiel ihm etwas ein. Er schaute noch einmal auf den Brief. Da stand es, schwarz auf weiß: nach Osten. Und Charles hatte wahrscheinlich auch wieder London, seine Traumstadt, auf der Liste. Die Stadt, in der sich die Torchwood-Zentrale befand.
Verdammt, Julie, was planst du da, dachte Jack verärgert und besorgt. Alles drängte ihn, ihr zu folgen. Wenn sie wirklich vorhatte, was er vermutete, ließ sie sich auf ein äußerst gefährliches Spiel ein. Aber deshalb war sie ja heimlich aufgebrochen, damit er es ihr nicht ausreden konnte oder ihr folgte.
Jack seufzte. Das hatte er wohl seinem schlechten Einfluss zuzuschreiben, dachte er und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. Es war inzwischen mehr als ein Jahr seit ihrer ersten Begegnung vergangen. Und diese Zeit hatte sie beide verändert. Julie hätte, bevor sie sich begegnet waren, so ein halsbrecherisches Unternehmen nicht einmal in Betracht gezogen. Und er hätte sich früher nie um eine andere Person solche Sorgen gemacht. Sie waren doch unsterblich, was konnte schon passieren.
Aber er vermisste sie jetzt schon. So weit war es schon mit ihm gekommen, dachte er ironisch. Jack setzte sich auf das Bett. Also gut, du bekommst deinen Willen, Julie. Durch das Band konnte er ja spüren, wie es ihr ging. Er konnte ihr immer noch folgen, sollte das nötig werden.
Es waren doch nur ein paar Monate, sagte er sich. Ein Wimpernschlag, wenn die Ewigkeit vor einem lag.