TORCHWOOD

Ein Spiel um Tod und Leben

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Teil 2 - Rochade mit zwei Unbekannten

Als Julie erwachte, war sie seltsam orientierungslos. Etwas hielt ihre Arme fest, in der Dunkelheit kämpfte sie dagegen an. Panik stieg in ihr hoch, bis sie bemerkte, dass sie ihre Augen noch geschlossen hielt. Sie öffnete sie und sah helle Wände und Decke. Ein Leuchtkörper an der Decke verbreitete mattes Licht. Sie lag auf etwas, jemand hatte ihr die dicke Jacke ausgezogen und sogar eine Decke über sie gebreitet. Das war es, was sie behindert hatte, denn dieser Jemand hatte die Ränder fürsorglich unter ihrem Körper festgesteckt.
Tief atmete sie ein, um ihren Herzschlag zu beruhigen. Dann schob sie die Decke weg, setzte sich auf und sah sich um. Ein kurzer Schwindel erfasste sie. Sie hatte das Gefühl, durch einen dünnen Schleier schauen zu müssen und konnte die Augen nur mit Mühe fokussieren. Nach einem Augenblick verschwand das Gefühl der Desorientierung aber wieder.
Der Raum war klein, ohne Fenster, nur eine Tür zeichnete sich in einer der Wände ab. Sie saß auf einer Art Feldbett. Sonst gab es keine Möbel.
Der Raum erinnerte sie an ihre Zelle in dem tibetanischen Kloster. Genauso karg, aber wenigstens nicht so kalt. Wie viel Zeit war wohl vergangen? Lange konnte es nicht her sein, dass sie sich so von John hatte übertölpeln lassen. Ohnmachten hielten bei ihr ja nie lange an.
Als sie aufstand, war auch das Schwindelgefühl für einen Moment wieder da. Wahrscheinlich die Nachwirkungen eines Betäubungsmittels, vermutete sie. John hatte ihr also eine Betäubung verpasst, damit sie nicht zu schnell aufwachte. Julie ging zur Tür und versuchte sie zu öffnen. Sie war verschlossen, wie nicht anders zu erwarten.
Julie wühlte in ihren Taschen, suchte nach ihren kleinen „Spielzeugen". Doch sie fand nichts, selbst die versteckten Taschen waren leer. John war wirklich gründlich gewesen. Seufzend setzte Julie sich wieder auf die Liege. Natürlich, versuche nie, einen Betrüger zu betrügen, dachte sie sarkastisch.
Sie stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel, legte den Kopf in ihre Hände und schloss die Augen. Mit dem Geist griff sie hinaus, versuchte herauszufinden, was außerhalb dieses Raumes vor sich ging, ob dort Personen waren.
In der näheren Umgebung fand sie niemanden, erst in einiger Entfernung – über sich - spürte sie Ausstrahlungen, menschliche und auch andere. Dort hielten sich viele Leute auf, aber John war nicht darunter. Dieser Ort schien sich unter der Erde zu befinden, und zwar ziemlich tief. Hier würde sie niemand hören, und dass jemand zufällig vorbeikam, war auch mehr als unwahrscheinlich. John hatte anscheinend an alles gedacht.
Resignierend legte sie sich wieder hin und schloss die Augen. Was blieb ihr anderes übrig als zu warten? Julie atmete ganz bewusst tief ein und aus, um ruhig zu werden. Allmählich glitt sie in einen leichten Trancezustand. Gleichzeitig hielt sie einen Teil ihres Geistes offen, um John rechtzeitig zu spüren, wenn er sich näherte. Noch einmal würde er sie nicht übertölpeln.
Es würde schwer werden, die Zukunft verlässlich zu erkennen, denn dazu kannte sie John nicht gut genug. Und über seinen geheimnisvollen Auftraggeber wusste sie so gut wie gar nichts.
Eine Zeitlang verfolgte sie den verschiedenen Zeitlinien, aber schließlich brach sie ihre Bemühungen ab. Es hatte keinen Zweck. Zu stark und zu rasch unterschieden sich die einzelnen Varianten voneinander. Sie sollte sich ihre Energie für andere Zwecke aufsparen. Das Wichtigste war nun herauszufinden, wer hinter all dem steckte. Und das würde sie nur über John. Vielleicht konnte sie etwas ruhen, Kraft schöpfen, bis er wieder kam.

***

Sie war sofort hellwach, als sie spürte, dass John auf dem Weg zu ihr war. Automatisch schaute sie auf ihre Armbanduhr, um gleich darauf den Kopf zu schütteln. Die Uhr ging nicht mehr, sie hatte wohl den Übergang durch den Riss nicht überstanden. Sie nahm sie ab und steckte sie achtlos in die Tasche. Aber auch so schätzte Julie, dass Stunden vergangen waren.
Sie stand auf und stellte sich mit dem Rücken so dicht wie möglich an die Wand neben der Tür. Die Tür würde nach außen schwingen, aber wenn John nicht so vorsichtig war, erst alles zu sichern, bevor er eintrat, hatte sie vielleicht eine winzige Chance. Sie hörte das leise Klicken des Schlosses und drückte sich noch enger an die Wand.
Aber Fortuna war ihr heute nicht gewogen. John schob vorsichtig den Kopf hinein und schaute auch noch als Erstes zu der Seite, an der sie stand. "Netter Versuch", sagte er nur trocken, als er ganz eintrat, "aber versuche nie, einen Betrüger ..." "Zu betrügen", ergänzte Julie und nickte resigniert.
Sie trat weiter in den Raum und sah ihn an. Er hatte sich umgezogen. Statt der dicken Winterjacke trug er jetzt wieder die altertümliche rote Uniformjacke mit den Tressen. Auch Hose und Stiefel hatte er gewechselt. Und er trug wieder seine Waffen. War er etwa noch einmal zurückgegangen, um sie zu holen? Sie schüttelte leicht den Kopf. Sie durfte sich nicht ablenken lassen, obwohl es ihr seltsam schwerfiel. Es gab Wichtigeres im Moment.
"Und, was hast du nun mit mir vor?" fragte sie. "Oh, schlechte Formulierung", dachte Julie sofort, als sie Johns Grinsen sah. Und natürlich kam auch die passende Antwort. "Mir würde da schon einiges einfallen", sagte er. Julie rollte mit den Augen.
Seine nächsten Worte waren wieder ernst. "Ich glaube, ich bin dir eine Erklärung schuldig." Sie nickte heftig. "Dann komm", sagte er und hielt ihr auffordernd die linke Hand hin.
Ihr Misstrauen musste ihr wohl am Gesicht abzulesen gewesen sein, denn John breitete mit unschuldigendem Ausdruck die Arme aus, die Handflächen nach oben gekehrt. "Du bist nicht meine Gefangene. Aber ohne mich kommst du hier nicht weg. Wir befinden uns im 51. Jh. auf einem Planeten, der weit entfernt von der Erde ist." Er zuckte mit den Schultern und lächelte. „Also bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als mitzukommen." John drehte sich um und ging.
Julie stand einfach nur da. War das die Ursache für das Schwindelgefühl und ihre Benommenheit? Dreitausend Jahre und ein paar Milliarden Kilometer sollten ihr eigentlich nichts ausmachen, auch wenn das Band zu Jack dadurch gedehnt wurde. Es hatte schon ganz andere Belastungen ausgehalten. Aber vieles hatte sich inzwischen geändert.
Das könnte ein Problem werden. Doch John durfte sie unter keinen Umständen zeigen, dass ihre körperlichen und auch geistigen Fähigkeiten möglicherweise eingeschränkt waren.
In der Tür blieb er noch einmal stehen und sagte über die Schulter hinweg: „Oder hast du etwa keinen Hunger? Ich schon. Und ich kenne hier ein phantastisches kourianisches Restaurant." Er sah sie mit hochgezogenen Brauen an, machte eine kleine auffordernde Kopfbewegung und hielt ihr wieder die Hand hin.
Wie auf Kommando bemerkte Julie, dass ihr Magen knurrte. Sogar ihr eigener Körper war heute anscheinend nicht auf ihrer Seite. Sie musste über diesen völlig abwegigen Gedanken lachen. Was soll's, momentan konnte sie jedes Quäntchen Energie dringend brauchen. Also lächelte sie John an und legte ihre Rechte in seine Hand. „Dann lass uns kourianisch essen, auch wenn ich keinen Schimmer habe, was das ist. Aber du zahlst!"
John strahlte sie an und zog sie mit sich durch die Tür. Vor ihnen lag ein langer Flur mit vielen weiteren Türen in regelmäßigen Abständen. Er legte den Arm um ihre Taille und ging raschen Schrittes los. „Natürlich. Oh, du wirst staunen. Die kourianische Küche ist eine der besten in der ganzen Milchstraße..."
Er verhielt sich, als habe er sie nicht erst vor kurzem mit dem Tode bedroht, dann entführt und eingesperrt, sondern sei mit einer Freundin auf dem Weg zu einem netten Abend. Auch seine Ausstrahlung entsprach dem. Keine Spur von Verstellung oder Vorsicht. Es war, als wäre das nie geschehen und sie beide die besten Kumpel. Julie wurde nicht schlau aus ihm. John wirkte auf sie, als bestünde er aus zwei völlig verschiedenen Personen, zwischen denen er ganz nach Bedarf hin- und herwechselte.
Sie folgten dem Flur nicht weit. In der Wand zeichnete sich eine Lifttür ab, die sich sofort öffnete, als sie davor stehen blieben. Sie traten in die Kabine. John sagte nur ein Wort, das sie nicht verstand, und der Lift setzte sich in Bewegung. Nach wenigen Sekunden öffnete die Tür sich schon wieder und sie standen praktisch direkt auf einer belebten Straße.
Zusammen traten sie hinaus und Julie brach fast augenblicklich der Schweiß aus. Sie trug ja immer noch ihre Kleidung aus Tibet und hier war es ziemlich warm. „Kein Wunder bei zwei Sonnen", dachte sie nach einem kurzen Blick nach oben. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihre Jacke vergessen hatte. Aber die würde sie hier bestimmt nicht brauchen.
Sie schaute sich um. Das Tageslicht war gleißend hell und sie musste die Augen zusammenkneifen, um nicht geblendet zu werden von den spiegelnden Scheiben der Läden, die die Straße säumten. Passanten aller Art gingen hier ihren Angelegenheiten nach, es war ein buntes Treiben. Neugierig betrachtete Julie alles. Es wirkte auf den ersten Blick wie eine Einkaufsstraße auf der Erde – auf den ersten Blick. Die ausgestellten Waren konnte sie nur zum Teil identifizieren. Ab und zu erkannte sie einige Wörter auf Schildern und Plakaten, aber das meiste war in ihr unbekannten Sprachen und Schriften geschrieben.
John beobachtete sie grinsend, als sei ihm eine besondere Überraschung gelungen. Schließlich tippte er sie kurz an. „Du kannst dir später alles genauer ansehen", sagte er, „aber jetzt lass’ uns endlich was essen. Ich sterbe vor Hunger!" Er winkelte den Arm auf und Julie hakte sich bei ihm unter. Während sie dahinspazierten, plauderte er weiter. „Und hinterher besorgen wir dir etwas Anständiges zum Anziehen!"
Sie blieb stehen, so dass auch John anhalten musste. Er sah sie fragend an. „Essen ist in Ordnung", sagte Julie ernst, „aber dann gibt es erst einmal Wichtigeres als neue Kleidung!" John zögerte, doch schließlich nickte er. Julie spürte, dass er es am liebsten noch weiter hinausgezögert hätte. Fast bekam sie Mitleid mit ihm. Aber sie würde ihm nicht nachgeben, sie hatten schon zu viel Zeit vertändelt. Sie wollte jetzt Antworten.
"Gehen wir", sagte sie. Wieder nickte er. "Wir sind gleich da, es ist nicht weit", sagte er und zog sie mit.

***

Sie erreichten das Restaurant tatsächlich schon nach wenigen Minuten. Ein unauffälliges Gebäude, eingezwängt zwischen zwei Läden. Sie traten ein und Julie sah sich neugierig um. Das Restaurant war nicht das, was sie erwartet hatte. Kein futuristisches Design, keine Roboter als Kellner, sondern einfache Tische mit ganz normalen Stühlen und nur Menschen - jedenfalls sahen sie wie welche aus.
Der Kellner am Empfang sah einem Menschen wirklich verblüffend ähnlich. Die Illusion wäre perfekt gewesen, hätten die unverschämt blauen Augen des Mannes nicht waagerecht geschlitzte Pupillen aufgewiesen. Er sprach sie an und John antwortete ihm in einer Sprache, die Julie nicht verstand. Sie schaute sich immer noch um.
John riss sie aus ihren Gedanken. "Hier entlang, Julie", sagte er und zog sie auch schon weiter in den Raum hinein. Der Kellner führte sie zu einem Tisch in einer kleinen Nische.
Dort blieb er stehen und fragte: "Ist dieser Tisch zu ihrer Zufriedenheit?" Julie nickte ihm zu. "Ja, vielen Dank, das ist perfekt." Er nickte, legte die Speisekarten auf den Tisch und entfernte sich. Jetzt erst bemerkte Julie, dass John sie mit offenem Mund und entgeistertem Gesichtsausdruck anstarrte. Stirnrunzelnd schaute sie ihn an. "Was ist? Ist mir plötzlich ein drittes Auge gewachsen?"
John schüttelte den Kopf und klappte den Mund wieder zu. Er räusperte sich, dann sagte er, immer noch staunend: "Du hast ihn verstanden und in der gleichen Sprache geantwortet." Julie hatte schon eine unwirsche Antwort auf der Zunge, da wurde ihr bewusst, dass der Kellner kein Englisch gesprochen hatte. So bekam sie nur ein ziemlich kläglich klingendes "Oh" heraus. Sie setzte sich, um etwas Zeit zu gewinnen.
Das war wohl eine dieser spontanen Erinnerungen aus ihrem "früheren Leben" gewesen. Aber normalerweise bemerkte Julie es, wenn solch verschüttetes Wissen an die Oberfläche kam. Es war, als öffne sich eine Tür oder eher eine Schleuse, durch die die neuen alten Kenntnisse in ihren Verstand strömten. Aber diesmal hatte sie nichts gespürt. Sie musste wirklich etwas vorsichtiger sein. Fieberhaft suchte sie nach einer plausiblen Erklärung für John.
Der saß ihr inzwischen gegenüber und sah sie aufmerksam an. Er wartete offenbar schon darauf. Julie setzte eine spöttische Miene auf. Angriff war die beste Verteidigung, nicht wahr?
"Hattest du denn angenommen, ich verstehe ihn nicht? Du enttäuscht mich", sagte sie herablassend. John schaute sie misstrauisch an. Darauf fiel er anscheinend nicht herein. Julie überlegte, was sie noch sagen konnte. Das Erscheinen des Kellners rettete sie.
"Haben die Herrschaften gewählt?" John und Julie sahen erst ihn, dann sich gegenseitig ratlos an. Dann sagte John, jetzt wieder ganz der Gentleman: "Die Dame ist mit der kourianischen Küche nicht vertraut. Ich werde etwas auswählen. Ist dir das recht, Julie?" Sie warf einen kurzen Blick auf die vor ihr liegende Speisekarte, aber das neue Sprachwissen schien die Schrift nicht mit einzuschließen. Sie konnte kein einziges Wort lesen. Also nickte sie John zu. Der wandte sich wieder an den Kellner und bestellte ein Menü, ohne in die Karte zu schauen. Julie lächelte. Ja, dachte sie amüsiert, in fleischlichen Genüssen kannte er sich aus, egal welcher Art.
Sie hatte sich gerade entschieden, nicht erst das Essen abzuwarten, sondern sofort Antworten zu fordern, da kam der Kellner schon zurück. Hinter ihm schwebte eine Art großes Tablett, auf dem etliche Schüsseln standen. Also doch etwas futuristisches, dachte Julie lächelnd. Aber als der Keller auftischte, wurden ihre Augen immer größer. Der Tisch war fast zu klein für all die Gerichte.
John grinste sie an. "Das ist schon ein was Anderes als das Frühstück heute morgen, nicht wahr?" Julie sah ihn erst verständnislos an, aber dann wurde ihr bewusst, dass er das Frühstück im Kloster meinte. War das wirklich erst so kurze Zeit her? Wieder meldete sich ihr Magen vernehmlich, so laut, dass John sie spöttisch ansah. Julie zuckte lächelnd mit den Schultern und hielt ihm ihren Teller hin. „Dann sei mal so gut und gib mir etwas von allem", sagte sie. Sie musste jetzt erst einmal essen, alles andere konnte noch warten. John lachte und häufte ihr den Teller so voll, dass sie ihn stoppen musste.
Als sie dann den ersten Bissen nahm, hätte sie fast gestöhnt. Es war wirklich köstlich, obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie da aß. Aber das war ihr im Moment auch egal. Es war ihr auch egal, dass John sie lächelnd beobachtete, wie sie die ersten Mundvoll gierig verschlang. Nachdem der erste Hunger gestillt war, nahm sie sich mehr Zeit, genoss jeden Bissen, die exotischen Gerüche und den Geschmack nach fremden Zutaten.
Nach einiger Zeit lehnte Julie sich zurück, satt und zufrieden. „Das muss man dir lassen, John", sagte sie anerkennend, „beim Essen kennst du dich aus. Das war das Beste, was ich jemals gegessen habe!" John grinste sie an, er freute sich wirklich über ihr Lob, hatte aber schon wieder anderes im Sinn. Julie musste lächeln und wechselte schnell das Thema. „Aber jetzt bist du mir eine Erklärung schuldig." Johns Grinsen verschwand schlagartig. Er holte tief Luft.
„Es ist Gray", sagte er, als würde das alles erklären. Julie schaute ihn erst verständnislos an, dann fiel der Groschen. Die Bemerkung von John, als er nach seinen „Besuch" in Cardiff wieder in dem Riss verschwand. „Gray", wiederholte sie. „Jacks Bruder. Du sagtest, du hättest ihn gefunden."
John nickte. Wieder strahlte er diese verwirrende Mischung an Emotionen aus, die Julie schon im Kloster aufgefallen war. Gray war die Person, für die er so ambivalente Gefühle verspürte. Er war derjenige, der John mit dem Mord beauftragt hatte.
„Gray will keine Versöhnung", erklärte John. „Er will Rache, für das Leid und die Grausamkeiten, die ihm zugefügt wurden. Er gibt Jack die Schuld daran. - Und inzwischen weiß er ja, dass man Jack nicht töten kann, durch mich", sprach er ihre Gedanken aus. „Aber Jack kann leiden, bis in alle Ewigkeit. Und du bist diejenige, die Jack am nächsten steht. Dein Tod würde ihn sicher hart treffen." Er sah Julie ernst an. „Gray weiß aber nicht, dass du auch unsterblich bist."
Na hoffentlich, dachte sie sarkastisch. Denn ansonsten würde ihr noch viel Schlimmeres als ein Mordversuch blühen. Wenn Gray seinen Bruder auch nur ein bisschen einschätzen konnte, wusste er ganz genau, was Jack auf keinen Fall ertragen konnte - andere um seinetwillen leiden
zu sehen.
John riss sie auf ihren Gedanken. „Mit einem Mord hätte ich leben können. Aber mit dem, was Gray jetzt vorhat, will ich nichts zu tun haben." Er zuckte mit den Schultern und hob die Hände, als wolle er sich entschuldigen. Julie prüfte zweifelnd seine Emotionen.
Da war wirklich Abscheu zu spüren. Aber dass sie seinen Ausstrahlungen nicht trauen durfte, hatte sie ja schon erfahren müssen. Vielleicht war es ein Trick. War er tatsächlich in der Lage, seine wahren Absichten so vollkommen zu verbergen, dass sie nichts davon spürte? Das konnte sie sich nicht vorstellen, aber sie wusste es nicht mit Sicherheit.
Wurde einem so etwas eigentlich bei der Time-Agency beigebracht? Jack hatte nie viel über seine Zeit und die Ausbildung dort erzählt. Und sie hatte auch nicht nachgefragt. Aber sie schweifte ab, rief sie sich selbst wieder zur Ordnung. Sie musste sich jetzt konzentrieren.
Wollte er sie nur einlullen und dann Gray ausliefern? Vielleicht war dies der Preis für seine Freiheit. Aber dann hätte er das auch gleich tun können, solange sie noch bewusstlos gewesen war. Was sollte das Ganze also? Julie schwirrte der Kopf. Zu viele Variablen, zu viele Unbekannte in dieser Gleichung.
Ihre Grübeleien wurden von Johns Stimme unterbrochen: „Ich dachte, wenn ich Gray zu Jack bringe, wäre mir Jack unendlich dankbar und alles würde wieder wie früher." Echte Sehnsucht klang in seiner Stimme mit, aber seine nächsten Worte waren hart und bitter. „Ich habe ihn aus der Hand dieser Wesen befreit, ihn gesund pflegen lassen. Ich dachte, Gray wäre überglücklich, seinen Bruder wiederzusehen. Stattdessen 'überredete' er mich, ihm bei seinen Racheplänen zu helfen!"
Julie zuckte unter dem Ansturm der Gefühle, die John jetzt aussandte, zusammen. Die Schmerzen waren so real. John musste ihr Entsetzen bemerkt haben, denn er senkte den Blick und schloss gleichzeitig seine mentalen Schilde. Julie atmete tief ein. „Danke", sagte sie und lächelte, „es geht schon wieder."
John sah sie wieder an und erwiderte ihr Lächeln kurz. "Aber ich brauche noch einen Moment." Er schloss die Augen. Julie konnte sehen, wie sich seine Kiefermuskeln verkrampften, als er um Selbstbeherrschung kämpfte. Dieses "Überreden" hatte sich ganz offensichtlich nicht auf verbale Argumente beschränkt.

Sie ließ ihm die Zeit, die er brauchte, und nutzte sie ihrerseits, um kurz die Zeitlinien zu überprüfen. Es war eigentlich zu unruhig in dieser Umgebung, aber sie bekam wenigstens eine Ahnung davon, was John vorhatte. Offenbar wollte er tatsächlich Grays Vorhaben verhindern. Mit ihrer Hilfe konnte das sogar gelingen. Und sollten sie es nicht schaffen, ihn aufzuhalten, hatte er immer noch die Option, sie auszuliefern. Darüber machte Julie sich gar keine Illusionen. Natürlich sicherte sich John nach allen Seiten ab.
Aber sie hatte da ja noch ein Wörtchen mitzureden. Doch sie würde auch alles daran setzen, Gray zu stoppen. Genau damit hatte John gerechnet. Deshalb das angebliche Verirren, das Fehlen der Schilde, die so offensichliche Harmlosigkeit. Alles inszeniert, um sie in Sicherheit zu wiegen, auf seine Seite zu ziehen, ihr gar keine andere Wahl zu lassen, als mit ihm zusammenzuarbeiten.
Als John die Augen wieder öffnete, war auch sie bereit. "Und welche Rolle soll ich dabei spielen?" fragte sie ihn. Sie wusste zwar schon, was er plante, aber sie wollte sehen, wie er ihr das schmackhaft machen wollte. John sah sie intensiv an, als versuche er nun seinerseits, in ihrem Geist zu lesen. "Ich brauche deine Hilfe", sagte er.
"Du hast aber eine seltsame Art, um Hilfe zu bitten", antwortete sie sarkastisch, "schon mal daran gedacht zu fragen?"
Er sah sie mit gerunzelter Stirn an. "Ach, und wenn ich dich um Hilfe gebeten hätte, wärst du natürlich sofort mit mir gekommen", entgegnete er ebenso sarkastisch. "Entschuldige, aber nach dem, was passiert ist, hatte ich da so meine Zweifel."
Julie musste lachen. "Okay, da mus ich dir leider zustimmen", sagte sie. John hob die Brauen und nickte mit einem schiefen Lächeln, als wolle er sagen 'Na, siehst du!'
Sie fragte ihn: "Hast du schon einen Plan?"
"Wir müssen Gray unbedingt aufhalten", antwortete er leidenschaftlich. "Aber ich schaffe das nicht allein. Wenn er Verdacht schöpft, bin ich tot. Und das möchte ich doch gerne vermeiden." Julie zuckte mit den Schultern. "Das ist ja ziemlich vage", sagte sie zweifelnd. "Du musst doch eine Vorstellung davon haben, wie wir das bewerkstelligen sollen."
"Nicht direkt", antwortete er, "ich muss ihm heute noch Bericht erstatten, wie der Mordauftrag gelaufen ist. Ich werde dir ein Versteck zeigen, wo du ihn beobachten kannst. Du bist Empathin. Sondiere ihn, finde heraus, wie er tickt, was er wirklich fühlt. Darauf müssen wir dann unseren Plan aufbauen." Er sah sie eindringlich an. Julie erwiderte seinen Blick nachdenklich. Er sprach nicht vom Töten, absichtlich, das spürte sie. Als wolle er ihr die Entscheidung überlassen. Geschickt, das musste sie ihm zugestehen. Fast hätte sie gelächelt, ging aber nicht darauf ein.
"Und wie willst du ihm erklären, dass du mich nicht getötet hast?" fragte sie statt dessen. John grinste. "Warum sollte ich?" antwortete er mit einer Gegenfrage. Julie sah ihn erstaunt an, dann meinte sie: "Ein riskantes Spiel. Wie willst du ihm beweisen, dass du den Auftrag ausgeführt hast?"
John zuckte lässig mit den Schultern. "Ist auch nicht nötig. Gray glaubt mir immer noch, dass ich mich auch an Jack rächen will. Er vertraut mir." "Ach, deswegen auch die kleine Bombe in deinem Körper?" fragte Julie.
John schüttelte leichte den Kopf, genervt schaute er sie an, als wolle er damit ausdrücken, das sei doch eine Nebensächlichkeit. "Er sichert sich eben ab." Wahrscheinlich meinte er es auch genau so, dachte Julie, er hätte wohl nicht anders gehandelt.
"Ich werde ihm erzählen, dass ich etwas überstürzt aufbrechen musste", fuhr er fort. "Und ich kann sehr überzeugend sein, wenn ich will." Er lächelte sie zuckersüß an. Ganz bestimmt, dachte Julie. Das wusste sie selbst ja genau. Ansonsten befände sie sich jetzt nicht in dieser Lage.
Sie nickte John zu. "Habe ich eine andere Wahl?" fragte sie. Sie beide wussten, dass diese Frage rein rhetorisch war. Aber Julie musste sich auch eingestehen, dass sie nicht nur gezwungenermaßen mitspielte. Sie war neugierig auf Jacks kleinen Bruder. Viel wusste sie ja nicht über ihn. Nur, dass er verloren gegangen war. Und dass Jack sich die Schuld daran gab.
Diesen Schmerz hatte er nur dadurch lindern können, dass er ihn in den hinstersten Winkel seines Bewusstseins geschoben hatte. Und mächtige Barrieren darum errichtete, damit sie niemals wieder an die Oberfläche gelangten.
Sie wusste, dass Adam lange verdrängte Erinnerungen bei Jack wachgerufen hatte. Aber er hatte sie ihr nicht anvertraut. Kurz darauf hatte das Retcon alles ausgelöscht. Es war nun unwiderbringlich verloren.
Vielleicht war die Lage doch nicht so hoffnungslos, wie John sie darstellte, sprach Julie sich selbst Mut zu. Für ihn war Mord eine Option wie jede andere, wahrscheinlich sogar die erste Wahl. Nichts konnte seiner Meinung nach Probleme effektiver aus der Welt schaffen. Doch nicht für sie. Sie wollte einfach nicht glauben, dass es keine andere Möglichkeit gab.
Vielleicht konnte sie Gray davon überzeugen, dass sein Bruder ihn noch lange verzweifelt gesucht hatte. Dass er den Job bei der Time-Agency auch teilweise deswegen angenommen hatte, weil er insgeheim gehofft hatte, irgendwann eine Spur, einen Hinweis zu finden - und sei es nur darauf, dass Gray wirklich tot war.
Was für ein Gefühl wäre es, Gray und Jack wieder zusammen zu bringen.
Julie holte tief Luft, klopfte mit beiden Händen auf den Tisch und sah John an. Der blickte leicht erstaunt. "Dann mal los", sagte sie energisch und erhob sich auch gleich. John sprang auf, erleichtert darüber, dass sie so schnell zustimmte. Anscheinend hatte er damit gerechnet, sie wohl mehr bearbeiten zu müssen.

***

John führte sie zu einer Art Lagerhalle. John hatte von unterwegs Gray diese Halle als Treffpunkt durchgegeben. Überall standen Kisten und Behälter in allen Größen und Formen, nur an einer Stelle gab es so etwas wie einen größeren freien Platz. Genug Gelegenheiten, um sich zu verstecken und ungesehen nah an jemanden heran zu kommen.
Julie versteckte sich also zwischen den Kisten, während John in der Mitte offen sichtbar wartete. Sie lächelte in sich hinein und wechselte schnell ihr Versteck, nur zur Sicherheit. Außerdem konnte sie notfalls immer noch auf ihre Fähigkeit zurückgreifen, Menschen dazu zu bringen, an ihr "vorbeizusehen". Falls er also plante, sie doch noch auszuliefern, würde er sie einfach nicht mehr finden.
Plötzlich hob sie den Kopf. Jemand oder etwas näherte sich der Halle. Julie spürte den Ausstrahlungen nach. Irritiert runzelte sie die Stirn. Was sie auffing, war kaum zu spüren; viel zu schwach und zu unbestimmt für ein intelligentes Wesen. Ein Tier? Vielleicht das außerirdische Äquivalent einer Ratte, dachte sie. Doch es fühlte sich an wie ein Mensch und bewegte sich direkt auf John zu. Ungewöhnlich für ein Tier, auch ein extraterrestisches.
Dann trat ein junger Mann aus der schmalen Gasse, die die Behälter auf der rechen Seite bildeten. Julie riss die Augen erstaunt auf. War das Gray? Er war groß, schlank, mit kurzem gelocktem braunem Haar, schlicht gekleidet, ganz in Erdtönen. Die schwachen Signale gingen von ihm aus, kein Zweifel. Johns Emotionen waren im Vergleich dagegen geradezu aufdringlich. Sie schüttelte verwirrt den Kopf. Wie war das möglich? Sie konnte keine Anzeichen dafür finden, dass Gray sich abschirmte.
Als John den jungen Mann bemerkte, gab es keinen Zweifel mehr. John strahlte wieder diese so widersprüchliche Mischung von Gefühlen aus, die Julie schon vorher aufgefallen war. Das war also wirklich Gray.
Die beiden Männer sprachen miteinander. Sie war nicht nah genug, um alles zu verstehen, aber das war jetzt auch nicht so wichtig. Vorsichtig versuchte sie, mehr von Gray aufzufangen. Aber auf das, was sie dann plötzlich überfiel, war sie nicht gefasst.
Da war nur Hass, glühender Hass, der alle anderen Gefühle weggebrannt hatte. Das dort vorne war kein Mensch mehr. Gray war wie eine Maschine, die ihre Steuerung verloren hatte und nur noch durch eine einzige Energie angetrieben wurde. Deshalb auch die schwachen Ausstrahlungen vorher. Da war nichts, was sie auffangen konnte – außer diesem alles überwältigenden Hassgefühl.
Unwillkürlich fing sie an zu zittern und konnte es nicht stoppen. Julie verbarg ihr Gesicht in den Händen, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Sie sank langsam in die Knie, krampfhaft darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen. Als sie endlich auf dem Boden saß, lehnte sie den Kopf auf die angezogenen Knie und zwang sich, regelmäßig zu atmen. Gleichzeitig versuchte sie, ihre mentalen Schilde fest geschlossen zu halten, ohne die Außenwelt komplett auszuschließen. Nein, ihn würde sie nicht durch Worte davon überzeugen können, von seinem Plan abzulassen. Nur der Tod würde ihn aufhalten. Aber er war Jacks Bruder!

Johns Stimme holte sie in die Wirklichkeit zurück. Mühsam hob sie den Kopf. Wie lange hatte sie hier zusammengekauert gesessen, wie betäubt? Sie war blind und taub für die Umgebung gewesen, ein gefährlicher Zustand. John hockte neben ihr, seine Stimme klang besorgt. "Julie? Julie, was ist los? Was ist passiert?"
Sie versuchte zu lächeln. An Johns Gesicht konnte sie erkennen, dass ihr das anscheinend nicht besonders gut gelang. "Schon in Ordnung", sagte sie, doch sie merkte selbst, wie falsch das klang. Sie stützte sich an seiner Schulter ab und versuchte sich aufzurichten. John half ihr dabei und hielt sie auch noch fest, als sie endlich stand. Er sah sie forschend an. "Was machst du nur für Sachen?" fragte er absichtlich barsch. Dann lächelte er. "Du wirst noch gebraucht, weißt du?"
Julie verzog den Mund ironisch. "Das ist mir schon klar", antwortete sie. "DU brauchst mich!"
John grinste. "Na, dir geht es ja schon wieder besser, Zuckerschnecke", sagte er vergnügt. „Aber jetzt setz dich erst mal hin." Er führte sie zu einer niedrigen Kiste. Julie setzte sich erleichtert, stützte den Kopf in die Hände und atmete tief durch. Sie fühlte sich immer noch etwas benommen. John beugte sich zu ihr hinunter und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Und, was hast du herausbekommen", fragte er leise. Julie richtete sich wieder auf und sah ihn an. Doch sie bekam kein Wort heraus, ihr Mund war plötzlich völlig ausgetrocknet. Sie räusperte sich ein paar Mal, dann schaffte sie es zu sagen: „Kannst du mir etwas zu trinken besorgen?" John sah sie forschend an, aber dann nickte er und machte sich auf den Weg.
Julie nutzte die Zeit, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Schon bei dem Gedanken an Gray fing sie erneut an zu zittern, doch sie musste darüber sprechen können, sobald John zurück war. Und sie musste sich entschieden haben, wie weit sie bereit war zu gehen. Obwohl es in dieser Hinsicht gar keine Alternative gab. Julie stützte den Kopf wieder in die Hände. Hoffnungslos wünschte sie sich einen Moment lang sehr, sehr weit weg, am besten ans andere Ende des Universums. Doch sie würde das hier durchstehen müssen.
Wenn sie Gray jetzt nicht aufhielten, geriete sie in einen nicht endenden Alptraum. Jederzeit würde sie mit einem erneuten Angriff aus dem Hinterhalt rechnen müssen. Nicht auf sich selbst, aber auf Jack oder irgendjemanden aus seinem Umkreis. Es wäre unmöglich, jede in Frage kommende Person im Auge zu behalten, sie alle rund um die Uhr zu beschützen.
Nein, sie mussten es hier und jetzt beenden!
Sie sah John an, der gerade wieder erschien, einen Becher in der Hand. Er reichte ihn ihr und setzte sich ebenfalls auf eine Kiste neben sie. "Also?" fragte er. Julie trank das Wasser in großen Schlucken. Wo hatte er es wohl her? Aber sie schweifte schon wieder ab.
Sie setzte den Becher ab und schaute zu John. Der sah sie nur aufmerksam an. Julie wandte die Augen ab und hielt sie starr geradeaus gerichtet.
„Da ist nichts außer Hass. Gray ist nur noch eine leere Hülle, es ist nichts Menschliches mehr in ihm. Nur der Hass erhält ihn noch am Leben." Sie fing schon wieder an zu zittern, registrierte sie ärgerlich. Warum ließ sie ihr Körper momentan nur so im Stich? Es war, als habe sie die Kontrolle über ihr Selbst verloren. Ein beängstigender Gedanke. Sie ließ den Becher fallen, schüttelte sich kurz und drückte den Rücken durch. Sie sah John an. "Wir müssen ihn töten."
Es war eine Erleichterung, es endlich ausgesprochen zu haben. John sagte nichts, sein Gesicht blieb ausdruckslos, registrierte Julie. Sein Glück, dachte sie, plötzlich aggressiv. Hätte er auch nur einen Hauch von Triumph oder Spott gezeigt, er hätte ihre ganze Wut zu spüren bekommen. Die Wut, die gerade in ihr hochstieg. Sie begrüßte sie, überdeckte sie doch die Angst, die sie fühlte beim Gedanken an das, was sie da vorhatten.
Julie sprang auf und lief wie ein überdrehtes Spielzeug hin und her, um Luft ringend, als habe sie gerade einen Tausend-Meter-Lauf hinter sich. Schließlich hatte sie sich wieder soweit im Griff, dass sie sich äußerlich ruhig wieder setzen konnte. John hatte sie die ganze Zeit nur beobachtet und auch jetzt sagte er nichts, sah sie nur an.
"Es muss schnell passieren. Ich brauche eine Waffe. Wie komme ich nahe genug an ihn heran?" Julie dachte eigentlich nur laut. sie sah ihn immer noch nicht an. „Du musst noch ein Treffen mit ihm verabreden und mich an ihn heranbringen."
John nickte. "Schon erledigt", sagte er. Als Julie ihn verblüfft ansah, grinste er kurz. "Da du ja nun tot bist, will er mit mir morgen den nächsten Schritt besprechen."
Sie hatte wirklich nichts mehr mitbekommen vorhin, dachte sie erschrocken. Dann fiel ihr etwas anderes ein. Sie sah John fragend an. "Weiß Gray, wie ich aussehe?" John schüttelte den Kopf. „Nein", antwortete er. Julie hakte noch einmal nach. „Du hast ihm damals nicht beschrieben, wie Johns Team aussieht? Keine Aufzeichnungen oder Fotos gemacht, heimlich? Nicht mal meine Augenfarbe erwähnt? "
John sah sie beleidigt an. „Nein", sagte er noch einmal, nun mit offensichtlicher Empörung. „Bei unserer ersten Begegnung hat das alles doch noch gar keine Rolle gespielt. Gray lag damals noch in dem Krankenhaus, in das ich ihn gebracht hatte. Ich war auf eigene Rechnung unterwegs." John verzog den Mund. „Weißt du noch, der angebliche Diamant." Dann wurde er wieder ernst. "Grays Erwähnung, bevor ich in dem Riss verschwand, war ein spontaner Einfall. Ich wollte Jack wehtun, weil er mich einfach so wegschickte. - Er wollte mich nicht in seinem Revier haben", äffte er Jack gehässig nach.
"Dabei waren wir früher so ein tolles Gespann." Johns Stimme schwang schon wieder um, seine Augen leuchteten, als er sich an frühere Zeiten erinnerte. "Ein eingeschworenes Team. Wir verstanden uns ohne Worte. Ein Blick genügte und wir wussten, was der andere dachte." Julie lächelte versonnen. Bei Jack und ihr war es genauso. Gwen ärgerte sich immer, wenn sie diese wortlose Kommunikation mitbekam, die alle anderen ausschloss. Obwohl es eigentlich kein richtiger Austausch war, sondern eher die Vergewisserung, das der andere das Gleiche dachte wie man selbst. Und das funktionierte nach so langer Zeit einfach.
Johns Stimme riss sie aus ihren Gedanken. "Wir waren die Besten!" sagte er enthusiastisch. "Und wir hatten so viel Spaß. Nichts konnte uns aufhalten. Wir fühlten uns unbesiegbar." Julies Gedanken drifteten schon wieder ab.
Seine Worte riefen Erinnerungen wach, an die Zeit, als sie Jacks Bekanntschaft gemacht hatte. Ja, sie wusste, wovon John sprach. Das war der Jack, dem sie damals begegnet war. Sie hatte erst zu dieser Zeit begonnen, richtig zu leben, schien es ihr. Bis dahin hatte sie die Erde und diesen Körper nur als Gefängnis betrachtet. Doch Jack hatte ihr gezeigt, wie aufregend und schön dieses Leben und die Menschen sein konnten. Sie hatte sich damals schon in ihn verliebt, das wusste sie heute. Obwohl es verdammt lange gedauert hatte, bis ihr das schließlich bewusst geworden war.
Die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Männern machten es ihr auch so schwer, John zu misstrauen, das wurde ihr jetzt klar. Sie musste sich immer wieder ausdrücklich daran erinnern, dass er nicht Jack war. Er kannte keine Skrupel, sie konnte ihm auf keinen Fall trauen.
Aber das würde sie auch nicht. Wenn er ihr nur eine Waffe besorgte und sie in Grays Nähe brachte. Wie sie es vollenden konnte, wusste sie schon. Aber das brauchte John nicht zu wissen. Es war sicherer so; für sie, aber auch für ihn. Sollte es schiefgehen, konnte er immer noch behaupten, er habe nichts damit zu tun.
Sie sah John wieder an. "Werdet ihr euch wieder hier treffen?" John nickte.
"Gut", sagte Julie zufrieden. Hier gab es genug Möglichkeiten, das durchzuführen, was sie plante. "Du musst ihn ablenken und unbemerkt nahe an einen der Kistenstapel dirigieren, damit ich ungesehen an ihn herankomme. Und eine Waffe brauche ich - wo hast du die Geräte, die du mir abgenommen hast, als ich bewusstlos war?"
John lächelte. "Wusst ich's doch! Die bekommst du dann morgen wieder, nicht früher. Ich habe keine Lust, morgen früh aufzuwachen und zu bemerken, dass ich tot bin und du dich aus dem Staub gemacht hast!"
Julie zuckte lächelnd mit den Schultern und ging nicht weiter darauf ein. Das hatte sie sich schon gedacht. Wenigstens hatte er ihre kleinen Spielzeuge nicht weggeworfen. Jetzt konnten sie also nur noch auf Morgen warten. Sie stand auf. "Dann ist ja alles geregelt. Ich könnte jetzt etwas zu essen und ein bisschen Ruhe gebrauchen." John nickte und erhob sich ebenfalls. "Dann mal los", sagte er.

***

John öffnete die Tür und schaute hinein. Nach einem kurzen Blick in das Zimmer drehte er sich zu Julie um. "Nur ein Bett", sagte er und deutete hinter sich. Julie schob sich an ihm vorbei und trat ein. Das Zimmer war wirklich winzig, nicht ein einziges weiteres Möbel hätte darin noch Platz gehabt.
Julie zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich hatte John das Zimmer gerade deswegen gewählt, dachte sie sich. Aber sie hatte auch nicht darauf geachtet, als er gebucht hatte. Zu sehr war sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen. Sie verschränkte die Hände, um das Zittern zu verbergen, dass sie wieder überfiel. Sie durfte ihm nicht zeigen, wie es um sie bestellt war. Schlimm genug, dass sie beim Essen kaum einen Bissen heruntergebracht hatte. Was John nicht entgangen war.
Also schob sie die trüben Gedanken energisch zur Seite und sah über die Schulter zu John. Er stand immer noch in der Tür, als warte er auf etwas. Darauf, dass sie protestierte? Fast hätte sie gelächelt. Den Gefallen würde sie ihm nicht tun, ganz im Gegenteil. Er wollte spielen? Das konnte er haben! Außerdem würde ihr eine kleine Ablenkung gut tun. An Schlaf war sowieso nicht zu denken heute.
"Da kann man nichts machen", meinte sie lakonisch. Julie zog ihre Weste aus und setzte sich auf das Bett. Erst hüpfte sie etwas auf und ab, als ob sie die Matratze testen wolle, dann stützte sie die Hände hinter sich auf und sah zu John hoch. Der grinste sie an und machte schon den Mund auf für eine – wahrscheinlich anzügliche - Bemerkung, aber Julie kam ihm zuvor.
"Dann kannst du ja mal zeigen, ob deine Fähigkeiten tatsächlich so groß sind wie du immer behauptest", sagte Julie und zwinkerte ihm zu. John blieb der Mund offen stehen, er sah sie einen Moment erstaunt an, dann fing er an zu grinsen. Natürlich wusste er, wovon sie sprach. Und natürlich würde er ihr Angebot nicht ablehnen.
Julie hob den rechten Arm und hielt ihm die Hand hin. John kam heran, ergriff die Hand, weil er meinte, er solle ihr beim Aufstehen helfen, und wollte sie hochziehen. Verblüfft bemerkte er ihren Widerstand, da zog sie ihn schon zu sich. John musste sie loslassen, um den Sturz abzufangen und landete neben ihr auf dem Bett. Julie legte lachend die Arme um ihn. Er erwiderte die Umarmung sofort. „Bei ihm ist das eindeutig ein Reflex", dachte Julie amüsiert. Sie küsste ihn, dabei versuchte sie ihm die Jacke auszuziehen. John erwiderte den Kuss, während er mit seinen Händen ihr Shirt hochschob.

***

Später stützte sich John auf den Ellbogen und sah Julie, die neben ihm lag, aufmerksam an. "Und, wie war ich?" fragte er.
"Nicht schlecht - für den Anfang", entgegnete Julie lächelnd.
"Nicht schlecht?!" John klang enttäuscht und gekränkt.
Julie verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lachte. "Für den Anfang ..." wiederholte sie vieldeutig. Sie war sich bewusst, dass ihre Haltung John schon wieder erregte. Er konnte die Augen kaum von ihren Brüsten lösen.
"Du weißt, ich bin Empathin", sagte sie betont sachlich, aber innerlich amüsierte sie sich über seine so berechenbare Reaktion. John nickte zerstreut, immer noch abgelenkt von dem Anblick, den sie ihm bot. "Ich spüre nicht nur meine Erregung", fuhr Julie fort, "sondern auch die meines Partners." Jetzt hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. Er schaffte es sogar, seinen Blick zu ihrem Gesicht zu heben. Julie lächelte. Natürlich, wenn es um Sex ging, war er ganz bei der Sache.
"Im Moment ist das Vergnügen ganz auf meiner Seite. Aber wärst du auch Empath, würde sich dieser Effekt potenzieren. Stell' dir zwei Spiegel vor, die einander gegenüberstehen. Und dazwischen eine Lichtquelle. Das Licht wird zwischen den Spiegeln hin und her geworfen, theoretisch bis in die Unendlichkeit. Das empfinden Empathen beim Sex, nur begrenzt durch ihre eigenen geistigen Fähigkeiten. Verstehst du, was ich meine?" fragte sie. John schluckte. "Ich versuche gerade, es mir vorzustellen", antwortete er, die Stimme heiser vor Erregung.
Julie lachte leise, richtete sich auf und stieß John leicht mit der Faust gegen die Schulter. Er schwankte etwas nach hinten und sah sie irritiert an. Julie rückte näher an ihn heran und drückte ihn an der Schulter zurück, bis er auf dem Rücken lag. Dann griff sie nach seinen Handgelenken und schob seine Arme auf dem Bett nach oben, während sie sich auf ihn setzte. Seine Arme hielt sie weiter über seinem Kopf fest. John setzte ihr keinen Widerstand entgegen. Im Gegenteil, ihm schien diese Position zu gefallen. Ein leises Geräusch drang aus seiner Kehle, das wie ein Schnurren klang. Gleichzeitig lächelte er erwartungsvoll, als sein Blick von ihrem Gesicht zu ihren Brüsten wanderte.
Julie beugte sich zu ihm herunter und küsste ihn. Dann richtete sie sich wieder auf.
"Jetzt werde ich dir mal zeigen, was ich in all den Jahren gelernt habe", sagte sie.

***

Am nächsten Morgen erwachte Julie schon beim ersten Licht des Tages. Sie hatte tatsächlich geschlafen, dachte sie erstaunt. Dann drehte sie sich auf die linke Seite und stützte den Kopf in die Hand. So konnte sie John bequem betrachten, der ihr, noch friedlich schlafend, den Rücken zukehrte. Julie beschlich das unwirkliche Gefühl, dieses Zimmerchen befände sich in einem schützenden Kokon außerhalb der Realität. Als stünde hier drinnen die Zeit still.
Auch John schien das zu spüren, so ruhig, wie er schlief. Tief und fest, als wisse er, dass ihm hier nichts geschehen konnte. Sie spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, einfach in diesem Zimmer zu bleiben. Wie paradiesisch wäre es, nichts mehr mit der Welt da draußen zu schaffen zu haben. Kein Leid mehr, kein Schmerz, kein Tod.
Nachdenklich ruhten ihre Augen auf dem Schlafenden, wanderten über seinen nackten Rücken. Julie entdeckte alte Narben, die sich als helle Male auf seiner Haut abzeichneten, und frische, die vor kurzem noch Wunden gewesen sein mussten. Ob sie von Grays „Überredungsversuchen" stammten? Seitlich unter dem Rippenbogen bemerkte Julie die noch nicht ganz verheilte Wunde, wo der Sender saß. Der ihn töten würde, wenn ihnen ein Fehler unterlief.
Die Zweifel beschlichen sie wieder. So harmlos er sich jetzt gab, sie durfte seine andere Seite nicht vergessen. John würde sie immer noch ohne zu Zögern verraten, wenn er sich damit retten konnte. Na ja, vielleicht mit einem winzigen Zögern, dachte Julie ironisch. Aber das änderte nichts an dem Ergebnis.
Aber was nutzte ihr diese Erkenntnis. Im Moment blieb ihr nichts anderes übrig, als das Spiel mitzuspielen und auf ihre Erfahrung und ihre Empathie zu vertrauen. John wusste nicht über all ihre Fähigkeiten Bescheid. Sie musste ihn in dem Glauben lassen, sie vertraue ihm.
Julie strich John sanft über den Rücken, ihre Finger fuhren die Furche seines Rückgrats entlang. Sie spürte, wie ein Schauer über seinen Körper ging, und rückte ganz nah an ihn heran, legte den rechten Arm über seine Hüfte hinweg auf seinen Bauch. John bewegte sich träge, noch nicht ganz wach. Langsam wanderte ihre Hand tiefer und er reagierte augenblicklich. Dabei murmelte er etwas.
Julie lehnte den Kopf über seine Schulter, um es besser verstehen zu können. Ein Grinsen stahl sich in ihr Gesicht. Abrupt griff sie fester zu und John schoss in die Höhe. Vor Schreck nach Luft schnappend drehte er sich zu ihr herum. Hektische Röte überzog sein Gesicht. „Was??" japste er.
Julie, die hastig von ihm abgerückt war, versuchte, ein empörtes Gesicht aufzusetzen, aber sie konnte das Lachen nicht völlig unterdrücken. „Da verwöhne ich dich und als ‚Dank’ flüsterst du Jacks Namen", beschwerte sie sich. John wurde erst blass, aber dann grinste er zurück, als ihm klar wurde, dass ihre Empörung nur gespielt war. Julie lachte jetzt offen und beugte sich zu ihm. „Das konnte ich dir doch nicht durchgehen lassen", sagte sie und küsste ihn. John erwiderte ihren Kuss und murmelte: „Können wir jetzt da weitermachen, wo du aufgehört hast?"
Sie schob ihn leicht weg: „Oh nein, jetzt bin ich dran. Du hast was gutzumachen", sagte sie.

(Teil 3 - Narrenmatt)